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Mauerritzen -  Erwin Bernhard

Mauerritzen (eBook)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
236 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7460-5181-9 (ISBN)
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7,49 inkl. MwSt
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- Geboren ist der Autor in Genf, 3½ Jahre vor dem 2. Weltkrieg. Die Mutter sprach Tschechisch und das gepflegte Deutsch einer sudetischen Lehrerin, der Vater den urchigen Dialekt eines angestammten Oberwinterthurers. Beide arbeiteten 16 Stunden am Tag für ein bescheidenes Auskommen, für ein Suppenhuhn musste der Vater Lohnvorschuss erbitten, aber Hunger war nie ein Gast im Haus und im Garten blühten Rosen und Phlox. - Dann kam der Krieg, das Bangen um den Vater, der ständig einrücken musste, und in vielen Nächten das dumpfe Dröhnen der alliierten Bomber über der Stadt. Und dreimal am Tag kam die NZZ ins Haus, die er damals mit den ersten Büchern lesen lernte. - Das Gymnasium absolvierte er in Lugano, das Hochschulstudium in Lausanne, Pisa und Zürich. Und in Zürich lebt er seit 50 Jahren, 35 davon als Gymnasiallehrer für Französisch und Italienisch, und hat daneben in der zweiten Lebenshälfte noch ein Studium in Psychologie und eines in Computerlinguistik nachgeschoben und Spanisch gelernt. - Mit gut 40 ist er der Frau begegnet, die ihn gelehrt hat, was Lieben heisst, und hat sie mit 80 nach langen Jahren eines tiefen, unaussprechlichen Lebensglücks verloren. Wie er, trauern ihr viele nach und tragen sie im Herzen. - Seine Hobbys? Hören und sprechen, lesen und schreiben, und in den Strassen Zürichs als neugieriger Beobachter mit Staunen und Sympathie herumstreifen. Tram und Bus fahren: Wo sonst trifft man auf einer Bühne so viele Menschen, die ganz ungezwungen sich selbst sind? Mit Neugierde, Zuneigung und etwas Gedächtnis kann man dort Stoff für mehrere Welttheater einsammeln. - Seine grossen Fragen: "Wie und bei wem lernt man lieben und denken?" Und kann ich das wirklich? Gute und liebende Menschen hat er viele gekannt und wurde von ihnen beschenkt. Durfte er auch einer von ihnen sein? Auf diese Frage hat er keine Antwort. Was wissen wir denn wirklich von uns? "Nur die Bescheidenheit kann uns versöhnen", sagte sein Vater: er gibt ihm recht und hofft, zumindest das ein wenig gelernt zu haben.

August


In der Nacht war es zu heiss gewesen, um zu schlafen, den ganzen Vormittag schleppte ich mich in der Wohnung herum, als hätte ich einen überhitzten Helm auf dem Kopf. Mir war, ich sei eine leere Strasse, auf welcher der Wind Staub und zerrissene Papiere vor sich hin treibt. In Italowestern sieht man so was, mit bedeutungsschwangeren Akkorden von Morricone, bevor die Ballerei losgeht. Bei mir ging gar nichts los.

Irgendwann kam mir die Erinnerung an das Thermalbad Baden. Klingt komisch für einen Hitzetag, aber damals gab es noch die gemütliche Anlage des alten Thermalbades mit den engen Schränken mit Einwerfmünze und Schlüsselarmband für die Kleider, Frei- und Innenbecken, Duschen, die nach scharfen Reinigungsmitteln riechen, Massagedüsen an den Beckenwänden, Bademeister, die einem nach dem Bad ein warmes Tuch reichen. Ein paar Züge auf dem Rücken schwimmen, wenn die Bäume am Rand schon ihre Schatten werfen; an den Düsen hängen, bis einem die Haut prickelt, danach eine Siesta auf der Liegewiese; mit den Zehen wackeln, sich vorstellen, sie würden untereinander sprechen und verrückte Dialoge ersinnen – mein plötzliches Gefühl von Freiheit, halb schmerzlich, halb beglückend.

Ich trank rasch ein Glas Milch, stopfte meine Badesachen in den Sportsack und machte mich auf den Weg zum Bahnhof. Der Zug nach Baden war schon eingefahren. Ob es die Hitze war? Auf dem Gehsteig sah man kaum Menschen, im Inneren gab es noch freie Plätze. Der Wagen war uralt, ohne Klimaanlage, aber die Fenster liessen sich dennoch nicht öffnen. Vielleicht hatten sie ein paar Extrazüge bilden müssen und es blieben nur noch ausrangierte Veteranen. Natürlich sassen alle schon auf der Schattenseite, ich musste die andere wählen. Da es mir immer widerstrebt, die Landschaft mit der Jalousie zu verschleiern, setzte ich mich auf die Gangseite, wo die steile Sonne nicht mehr hinfiel. „Hoffentlich wache ich in Baden auf!“, sagte ich mir und schloss die Augen.

„Wir kennen uns, ja?“, hörte ich plötzlich eine Frauenstimme. Als ich die Augen aufschlug, sass sie neben mir am Fenster. Sie trug ein unglaublich hübsches Kleid, ecrufarben mit wenigen, aufgestreuten Designerblumen und einem diskreten Dekolleté. An den Füssen schlichte Sandalen, nur die Nägel der grossen Zehen hatten einen roten Tupfer. Auf der linken Schulter ein winziges Tattoo: die federleichten Konturen eines Schmetterlings mit halbgeöffneten Flügeln. Fast kam es mir vor, als würde die Sonne durch ihre Hände hindurchscheinen. Ihre Lippen waren ein wenig spöttisch gekräuselt, die Worte perlten wie Regentropfen hervor. „Wie könnte ich Sie vergessen?“, rief ich, bevor ich Zeit hatte, irgendetwas zu denken.

Die erste Begegnung im Thermalbad Baden! Das war vor ein paar Jahren, ich hatte schon damals dieses nostalgische Juwel schätzen gelernt, auch damals brannte die Augustsonne. Bevor ich den Baumschatten der Liegewiese aufsuchte, wollte ich mich noch von ein paar Massagedüsen kneten lassen. Vor mir wippte eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, wie mir schien, vor der nächsten Düse auf den Fussspitzen auf und ab, als plötzlich die Druckstrahlen ins Stottern kamen und sich dann ganz abstellten. Ich machte irgendeinen Scherz, vielleicht war er sogar geistreich, jedenfalls lachte sie so hell auf, dass mir ein Glücksgefühl durch den ganzen Körper rieselte. So kamen wir ins Gespräch. Als die Druckstrahlen wieder einsetzten, blieben wir die ganze Düsenreihe entlang plaudernd nebeneinander, und weil sie neu war, wie sie mir bald einmal sagte, spielte ich scherzend den Führer und zeigte ihr die Liegewiese. Ein Liegestuhl war noch frei, den ich ihr im Schatten zurechtrückte, ich setzte mich daneben im Lotussitz. Auch eine meiner Macken, die mir meistens die Bemerkung „Was, du kannst das? Das könnte ich nicht!“ eintrug. Doch diesmal war es keine Macke, ich sass ihr wirklich zu Füssen, wir sprachen über unser Leben, unsere Wünsche, unsere Fragen und Zweifel, am Schluss fasste ich meinen ganzen Mut zusammen und lud sie zum Abendessen ein.

Damals hatte das Bad noch ein Restaurant mit Feinschmeckertellern, nicht bloss eine Kantine mit aufgewärmtem Convenience-Food, wir sassen an einem Tisch auf einem Kiesrund, mitten in der Wiese. Es war noch hell, aber der Tag neigte sich bereits, in den Baumkronen sangen ein paar Amselmännchen so kunstvoll wie sonst nur im Wald. Auf der Mauer, die den Garten gegen den Abhang hin begrenzte, wippten Grashalme mit ihren Rispen in einem Windhauch auf und ab. Die Limmat, die unten vorbeifloss, roch nach Frische mit einem Hauch von Algen und Fisch. Ein Blatt fiel zu Boden. „Schon?“, sagte sie, und mir blieb kurz der Atem weg.

Wir waren noch immer im Gespräch, als die Schatten länger wurden und der Kellner vorbeikam: „Wir schliessen!“

Draussen vor dem Bad nahm ich ihre Hand und fragte:

« Wir sehen uns doch wieder?

  • Ja », sagte sie, « aber erst im Spätherbst. Ich muss für ein Praktikum ein paar Monate nach London. Meine Anschrift in England weiss ich noch nicht, aber ich lasse die Post nachschicken. Schreiben Sie mir?
  • Und ob! »

Wir waren beim Sie geblieben, aus irgendeiner Scheu, nichts zu überstürzen. Wir tauschten Adressen aus, Mobiltelefon hatten damals die wenigsten. Danach hörte ich nie wieder von ihr. Meine Briefe blieben zuerst unbeantwortet und kamen dann mit dem Vermerk „Adressat verreist, Aufenthaltsort unbekannt“ zurück. Es war, als wäre mir eine Frau nach vielen Jahren glücklicher Ehe unvermittelt gestorben. Nach aussen gab ich mich lebhaft und geschäftig, innen trug ich schwarze Trauer. Eine lästige Stimme schalt mich Romantiker, aber das war mir egal.

Und nun sass sie neben mir und sprach mich an, als hätten wir uns erst gestern Abend getrennt. Wieder kam es ohne Überlegen aus mir heraus: „Du hast mir so gefehlt!“, rief ich, und sie nickte. Trotz ihres Lächelns, trotz ihrer frischen Stimme hatte sie traurige Augen. Sie sagte nur: „Fährst du nach Baden?“ Ich konnte nicht mehr sprechen und berührte nur ganz leicht ihre Hand. Sie fühlte sich wie Blütenblätter an.

Als wir mit dem Badebus unten im Rank vor dem Thermalbad ankamen, hatten wir beide keine Lust auf warmes Wasser. Sie nahm mich bei der Hand und lief mit mir die Treppen hinunter zur Promenade am Limmatufer. Es war, als könnte sie fliegen und ich mir ihr. Unten angekommen, gingen wir die Promenade entlang, teils unter Bäumen, teils in der Sonne. Sie streichelte meine Hand, ich sagte nochmals:

« Du hast mir so gefehlt!

  • Ich weiss », sagte sie.

Jetzt lächelte sie wieder, und auf ihren Wangen bildeten sich Grübchen.

« Wie war es in London?

  • In London? Ziemlich anders »

Plötzlich blieb sie stehen und sagte leise:

« Küss mich! Ich muss jetzt gehen. »

Als ich ihre Zunge zwischen meinen Lippen fühlte, war mir, als ob ein Strahl Metall in mich hineinstürzen würde. Ich sah ihren Körper durchsichtig werden, nur noch ein Schimmer vor dem Hintergrund der Bäume. Die Beine gaben unter mir nach. Das Letzte, woran ich mich erinnere, war ein Duft von jungem Flieder. Dann wurde ich ohnmächtig.

Als ich im Spital erwachte, war eine füllige ältere Pflegerin über mich gebeugt.

« Schön, dass Sie wieder da sind!

  • Wo bin ich?
  • Im Kantonsspital Baden, man hat Sie vor drei Tagen am Limmatufer gefunden. Seither waren Sie im Koma.
  • Und die junge Frau?
  • Da war keine junge Frau. Sie waren allein. Ein Jogger hat Sie vor dem Einnachten gefunden, als er mit seinem Hund die Promenade entlanglief. Sie lagen zwischen zwei Büschen auf der Böschung. Ich werde jetzt den Arzt holen. »

Der Arzt, ein Norddeutscher der Sprache nach, sah so aus, wie man sich den klassischen Professor mit buschigen Augenbrauen, Hornbrille und einem endlosen weissen Kittel vorstellt. Dabei war er, wie sich später herausstellte, kaum 35 und immer zu einem Spass aufgelegt.

« Na, wie fühlen Sie sich? Sie haben uns ja ganz schöne Rätsel aufgegeben. Ein Koma ohne Befund, ohne Verletzungen, ohne vaskuläre Vorfälle (wir haben Sie durch den Tomographen geschleust), nichts, einfach ein Koma. »

Dann fragte er plötzlich mit technischer Miene:

« Wissen Sie, wie Sie heissen und welchen Tag wir heute haben?

  • Am 12. August war ich auf der Promenade an der Limmat, die Pflegerin hat soeben gesagt, ich sei drei Tage im Koma gelegen, also schreiben wir den 15. August, meine Name ist Alfons Karelian und was wollen Sie sonst noch wissen, um auf Ihr Diagnoseblatt „zeitlich und situationell orientiert“ zu schreiben? »

Er stutzte kurz, lachte dann laut auf und räumte ein:

« Sie kann man wohl kaum hereinlegen?

  • Wenn Sie mich nach meinem Namen fragen, nein, den kann ich auswendig. »

Wir hatten den Ton gefunden, er wurde gesprächig. Ich sei mit angezogenen Beinen, kreidebleich, aber ohne jede Verletzung dagelegen, der Hund habe mich...

Erscheint lt. Verlag 22.10.2018
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-7460-5181-9 / 3746051819
ISBN-13 978-3-7460-5181-9 / 9783746051819
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