Die einsame Passion der Judith Hearne (eBook)
320 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60885-4 (ISBN)
Brian Moore, geboren 1921 in Belfast, wanderte 1948 nach Kanada aus. 1959 übersiedelte Moore nach Kalifornien, wo Alfred Hitchcock ihn mit dem Drehbuch zu ?Der zerrissene Vorhang? betraute. Auch mehrere seiner eigenen Bücher wurden verfilmt. Von 1976 bis 1989 lehrte Moore an der University of California in Los Angeles. Er starb 1999 in seinem Haus in Malibu.
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Beim Erwachen erblickten ihre Augen die Zimmerdecke, das kalte Licht welchen Tages? Das dem Begreifen vorausgehende Sehen vermerkte barmherzig vertraute Gegenstände in der Fremdheit des Ganzen, führte das noch blinde Denken zum Erinnern.
Sie setzte sich auf. Das Haar fiel ihr auf die Schultern, und sie spürte einen eisigen Zug durch den Flanellstoff des Nachthemds. Ihre im feuchten Geschmiege von Decken erwärmten Schenkel und Waden waren noch entspannt und schlaff. Das vergoldete Zifferblatt des Reiseweckers zeigte zehn nach sieben. Sie legte sich wieder zurück, zog die gelben Decken bis ans Kinn und betrachtete das Zimmer.
Ein breiter Stuhl mit gerader Rückenlehne stand in der Nische am Erkerfenster, ein alter Pensionär, der auf die Straße hinaussah. In der Nähe des Bettes ein Frisiertisch, vertraut gemacht durch ihre Flasche Kölnisch-Wasser, durch die Kämme und Bürsten und die kleine runde Schminkdose. Jenseits des abgewetzten Teppichs stand ein Kleiderschrank aus braunem lackiertem Holz mit einem hohen Spiegel in der Tür. Sie blickte in den Spiegel und sah das untere Ende des Bettes mit dem kleinen Berg, den ihre Füße unter den weichen Decken machten. Der Schrank war mit Schnecken und Schnörkeln verziert, und auf jeder Seite des Spiegels gab es einen Kreis aus hellfarbenem Holz. Die Kreise erschienen ihr wie Augen, traurige {25}hölzerne Augen links und rechts von der reflektierenden Spiegelnase. Sie blickte von diesen Augen fort zu dem weiß-marmornen Kaminsims mit der einen gesprungenen Stütze und dem orientalischen Muster des Messingvorsatzes. Genau aus dem Mittelpunkt dieses Arrangements heraus wünschte ihre Tante D’Arcy Guten Morgen in silber- und sepiagetönter Arroganz, während neben dem Gasofen ein durchgesessener, grünbezogener Lehnstuhl auf seine menschliche Bürde wartete. Der Teppich unter dem Kaminsims war zu braunen Fasern abgewetzt. Sie ließ den Blick schnell weiterwandern über das kleine Waschbecken, den Nachttisch mit seiner grünen Lampe bis hin zu der beruhigenden Sicherheit ihrer zwei großen reisefertig aussehenden Koffer mit ihren schwarzen Deckeln und Messingbeschlägen.
Sie drehte sich auf die Seite und hakte den schweren wollenen Morgenrock vom Bettpfosten, zog ihn sich über die Schultern, streckte die Füße aus dem Bett und schob sie in wollige blaue Pantoffeln. Kalt, ein kaltes Zimmer. Rasch ging sie zum Gasofen, schaltete ihn ein und hörte dann das erschrockene Blubb, als das Streichholz ihn zum Leben erweckte. Sie breitete ihre Unterkleider zum Anwärmen davor aus und huschte über den Teppich wieder ins Bett. Fünfzehn Minuten, sagte sie sich, fünfzehn Minuten dauert es mindestens, bis es ein wenig warm geworden ist.
Aber sie hatte ja keine Eile. Freitag, ein langweiliger Tag, ein Tag ohne irgend etwas, das getan werden mußte. Obwohl es gewiß interessant sein würde, beim Frühstück festzustellen, was Mrs. Henry Rice auftrug und wer die anderen Hausgäste waren. Sie blieb noch zwanzig Minuten liegen, wusch sich dann mit kaltem Wasser und stellte {26}sich zitternd in den dürftigen Wärmekreis des Ofens. Unter der bergenden Hülle des Nachthemds zog sie ihre Unterwäsche an, eine Angewohnheit aus ihrer Zeit im Herz-Jesu-Kloster von Armagh, obwohl das Motiv längst nicht mehr die Züchtigkeit, sondern das Warmhalten war, und das nahm unter mühsamem Zupfen und Zerren einige Zeit in Anspruch. Als sie sich schließlich das Nachthemd über den Kopf streifte, war sie bis auf das Kleid selbst fertig angezogen. Jetzt kam das morgendliche Haarbürsten an die Reihe. Sie legte darauf großen Wert: Es hielt das Haar dunkel, pflegte sie zu sagen, und auch wenn man es nicht gewaschen hatte, bewahrte es seinen Glanz und seine Farbe. Ihr Haar – ein sichtbarer Beweis – war dunkelbraun und von feiner Dichte und weichem Schimmer.
Also saß sie allmorgendlich gewissenhaft vor dem Spiegel, den Kopf zur Seite geneigt, und zog die Bürste durch den dichten Haarstrang, wobei sie die Striche zählte und an nichts anderes dachte, während ihr Kopf bei jedem Bürstenstrich einen leichten Ruck machte.
Heute morgen jedoch mußte das Haarbürsten abgekürzt werden, denn man durfte am ersten Morgen in einer neuen Pension keinesfalls zu spät kommen. Schon gar nicht, wenn man noch mit anderen Gästen zusammentraf. Von dreien hatte sie gesprochen, Mrs. Henry Rice, aber waren es Männer oder Frauen? Männer, wahrscheinlich, und wenn nun einer von ihnen ein netter Mensch war?
Ihr eckiges Gesicht lächelte sein Spiegelbild sanft an. Trügerisch verwandelte ihr Blick sie gemäß ihrer Vorstellung, veränderte den Umriß ihres fahlhäutigen Gesichts, bildete geschickt die lange spitze Nase um, an der eine kleine kalte Träne hing. Ihre dunklen Augen, Augen, die ständig in eingebildeter Furcht hin und her zuckten, {27}wurden groß, sanft, leuchtend. Ihr Körper, reizlos wie ein billiger Kleiderständer, füllte sich jetzt mit weichen Rundungen aus, entwickelte eine zarte Linie zum Busen hin.
Sie betrachtete den Spiegel, eine reizlose Frau, die sich zur köstlichen Illusion von Schönheit verwandelte. Es war noch immer Zeit: Denn ihrer Häßlichkeit war eine späte Blüte bestimmt; verborgen zunächst unter der formlosen Ungeschicklichkeit der Jugend, zur Reizlosigkeit entknospend in jungen Frauenjahren und jetzt zu langsamer Reife sich entfaltend Anfang der Vierzig, harrte sie noch der subtilen Auffälligkeit, die nur das Verwelken voll ausprägen konnte: einer Auffälligkeit, die, wenn sie erreicht war, alle Mühen beim Spiegelspiel illusorisch machen würde.
So spielte sie denn. Als Frau sah sie ihr frauliches spiegelgläsernes Bild. Zog das dichte Haar zur Seite, rahmte das Bild ihrer Vorstellung mit Zöpfen ein. Zigeunerin, dachte sie liebevoll, wie eine Zigeunerin auf einer Pralinenschachtel.
Doch der kleine Wecker, der durch die Sekunden tickte, sagte acht Uhr fünfzehn, und oh, was hatte sie für törichte Gedanken! Zigeunerin! Sie erhob sich, schlang ihr Haar in die Höhe, und die Haarnadeln wanderten eine nach der anderen nach oben und verschwanden in ihrer krönenden Herrlichkeit. So, kleiner Druck mit der Hand – viel besser. Da noch etwas zurechtgerückt – so. Gut. Jetzt – was ziehe ich an? Eine Spur Rot, meine besondere Note. Aber welches Rot? Rot ist immer so launisch. Trotzdem, Rot ist meine Farbe. Scharlachrot. Ja. Das schwarze Kleid mit den scharlachroten Tupfen an Kragen und Manschetten. Außerdem ist es beim Umzug nicht zerknittert worden.
Sie öffnete den Schrank, die Einheit des vorgestellten Gesichts zerbrechend. Der Morgenrock sank wie ein {28}abgebautes Zelt zu ihren Füßen nieder, als sie ihren eckigen Körper in die engen Taillennähte des Kleids zwängte. Dann die Granate und den kleinen Rubin an die rechte Hand. Sie wühlte in ihrem Schmuckkästchen und kam zu dem Schluß, daß die rosa und weiße Kamee etwas zuviel war. Aber sie zog ihre Uhr an, die kleine goldene Armbanduhr, die Tante D’Arcy ihr zum einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Eigentlich ging sie nicht mehr ganz richtig. Das Werk hatte sich abgenutzt. Aber es war eine gute Uhr, und sie stand ihr sehr gut. Und der erste Eindruck war oft der, auf den es ankommt, wie der alte Herr Rauh zu sagen pflegte.
Noch einmal zurück zum Frisiertisch, um das beim Überstreifen des Kleids zerzauste Haar in Ordnung zu bringen. Eine winzige Spur Rouge, gut eingerieben, ein Tupfer Puder und fest auf die Lippen gebissen, damit die Farbe schön herauskam. So, schon viel besser. Sie lächelte ihr liebevoll lächelndes Bild liebevoll an, und ihre unruhigen dunklen Augen erforschten den forschenden Spiegel. Befriedigt nickte sie dem befriedigt nickenden Gesicht zu. Ja. Hinunter zum Frühstück.
Das Speisezimmer von Mrs. Henry Rices Haus in der Camden Street war mit Möbelstücken ausgestattet, die der Vater ihres verstorbenen Mannes gekauft hatte. Eine massive Anrichte aus Mahagoniholz wölbte sich an der einen Wand vor, mit Obstschalen und leeren Whiskykaraffen auf ihrer Marmorplatte. Der Tisch, ein großes Oval aus dem gleichen Holz, nahm die Mitte des Zimmers ein, so daß man an den Seiten kaum noch vorbeikam. Um den Tisch herum standen acht hohe Stühle wie vor Anker liegende Schiffe. Das Tageslicht erkämpfte sich seinen Weg in das Zimmer hinunter an grauen Gebäuden vorbei und {29}über düstere Hinterhöfe und sickerte dann durch verblichene Mullgardinen, hinter denen sich zwei schmale Fenster halb versteckten. Über der Anrichte entdeckte dieses Licht ein goldgerahmtes Ölbild, auf dem ein Jäger auf die verschwommenen Umrisse eines Hirschs anlegte. Neben der Tür wedelte eine Großvateruhr wie ein alter blinder Hund die Stunden in die Vergangenheit.
Um den Tisch herum saßen die Hausgäste im Dämmerlicht – es herrschte Stille bis auf dezentes Tassenklirren und Toastgeknabber. Tassen wurden samt Untertassen wie an einem Fließband zum Kopfende des Tisches gereicht, wo sie in die kleine Festung Eingang fanden, in der, verschanzt hinter Teekanne, Warmwasserkaraffen, Teewärmern, Milchkännchen, Zuckerschale, Tellern, Bestecken und Glöckchen, Mrs. Henry Rice Frühstücksstimulanzien austeilte. Morgendlich hergerichtet im geblümten Hausrock, das Haar ein stacheliges Heubündel, lächelte sie Miss Hearne freundlich zu und wies ihr einen Platz am anderen Ende des Tisches an.
»Das ist Miss Hearne, unser neuer Gast. Vielleicht darf ich Sie gleich miteinander bekannt machen – das ist Miss Friel. Miss Friel – Miss Hearne.«
Miss Friel biß in ihren Toast und legte die Kruste zögernd auf ihren Teller. Sie sah zu Miss Hearne auf und nickte. Hellblaues Kleid, graue Florstrümpfe, kurzes weißliches...
Erscheint lt. Verlag | 10.10.2018 |
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Übersetzer | Hermann Stiehl |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Lonely Passion of Judith Hearne |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alkohol • Aussenseiter • Einsamkeit • Enttäuschung • Hitchcock • Junge Frau • Liebe |
ISBN-10 | 3-257-60885-3 / 3257608853 |
ISBN-13 | 978-3-257-60885-4 / 9783257608854 |
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