Gangsterblues (eBook)

Harte Geschichten

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
240 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1747-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gangsterblues -  Joe Bausch
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Sie sind Mörder, Dealer, notorische Betrüger, Vergewaltiger oder haben schwere Raubüberfälle begangen. Und sie alle wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt. Im Knast haben sie viel Zeit, um sich mit ihren Taten auseinanderzusetzen - und irgendwann wollen sie reden: der psychopathische Serienmörder über eine eiskalte Entführung, die beiden Halbbrüder über einen fast perfekten Mord, oder der Rettungssanitäter über den Zufall, der ihn zum Verbrecher machte - mit verheerenden Folgen. Sie alle vertrauen sich Joe Bausch an und lassen ihn tief in den Abgrund ihrer Seele blicken. Die besten dieser Geschichten hat er hier aufgeschrieben. Wahre Geschichten, die unter die Haut gehen.

Joe Bausch, Jahrgang 1953, arbeitete über dreißig Jahre lang als Leitender Regierungsmedizinaldirektor in der Justizvollzugsanstalt Werl und ist bekannt als Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth im Kölner Tatort.

Joe Bausch, Jahrgang 1953, arbeitete über dreißig Jahre lang als Regierungsmedizinaldirektor in der Justizvollzugsanstalt Werl und ist bekannt als Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth im Kölner Tatort.

Nach dem Schützenfest


Wie lange hat es gedauert, bis ich von Markus Lesser mehr wahrgenommen habe als seinen lautlosen Schatten, der über die Flure der Krankenstation huscht? Und wer von uns war es eigentlich, der den Abstand zwischen uns als Erster verkleinerte, indem er den anderen ansprach? Heute, etliche Jahre danach, möchte ich glauben, dass ich es vielleicht gewesen bin, der sich aus einer Stimmung heraus mit einem der Gefangenen unterhält, der bei ihm im Einsatz ist; einem sogenannten Hausarbeiter, der in seiner Abteilung die Instrumente und das sonstige Inventar reinigt. Solche Aufgaben sind im Knast keine Lakaienarbeit, sondern Vertrauenspositionen; sie werden erst durch fortgesetztes, einwandfreies Verhalten über viele Jahre erworben.

Mit Sicherheit hat aber auch Gunnar, einer meiner langjährigen Krankenpfleger, dabei eine Rolle gespielt. Der unermüdliche, an allem interessierte Gunnar, der mit jedem sprach und nebenher Dokumente aus dunkleren Zeiten sammelte, als das hier noch ein »Zuchthaus« war, in dem mancher Bedienstete völkische Parolen über die Gänge rief. Er hatte schon mal angedeutet, dass unsere so geräuschlos arbeitende Reinigungs- und Aufräumkraft ein ganz spezieller Fall sei. Und dabei betont, dass es sich lohnen könnte, sich mit seiner Geschichte zu befassen. Das hat er allerdings über viele hier gesagt, weshalb dann noch mal eine gewisse Zeit verging. Bis Markus Lesser gerade mal wieder mein Büro blank bohnerte oder dort sonst wie Ordnung schuf, während ich in meinen Unterlagen blätterte und er sich durch meinen neugierigen Blick ermutigt fühlte. Oder ich mich durch seinen?

Plötzlich habe ich jedenfalls mehrere Ordner in der Hand, akkurat und säuberlich beschriftet, und höre dieser gedämpften, höflichen Stimme zu. Es ist mindestens der zehnte Frühsommer, den ihr Besitzer hinter dicken Mauern verbringt, irgendwann in den Neunzigern kam er zu uns, und für ihn ist das jetzt ein ganz wichtiger Moment. Das spüre ich sehr schnell, weil alles an dem eher unscheinbaren Mann Mitte dreißig mit den schmalen Schultern nun immer mehr Fahrt aufnimmt, von seinen Sätzen bis zu den gestikulierenden Bewegungen mit den Armen. Als befürchte er, dass ich mich gleich wieder abwenden könnte. Noch so einer aus dem System, den er einfach nicht erreicht – obwohl er ihm soeben erklärt hat, dass er nur durch eine fatale Fehlerkette dort hineingeraten ist. Eigene, ganz dumme Fehler, dazu die von anderen.

»Ich kann Ihnen das gerne mal hierlassen«, sagt er, scheinbar beiläufig, »und Sie geben es mir irgendwann zurück. Zusammen mit Ihrer ehrlichen Meinung. Wie wäre das?«

»Das ist in Ordnung so«, sage ich, »wenn Sie nicht gleich morgen oder übermorgen was von mir hören wollen. Ich weiß nämlich nicht, wann ich dazu kommen werde. Sie sehen ja selbst, was hier so alles los ist, Tag für Tag.«

»Völlig klar, verstehe ich. Würde mich trotzdem freuen, wenn Sie mir … Na ja, die Tage. Ich bin ja hier …«

Und ich bin auch hier, inmitten von hundertzwanzig Dingen, die von morgens bis abends auf mich und mein Team einströmen. Also gehen noch mal zwei, drei Wochen ins Land, vielleicht auch etwas mehr, in denen Markus Lesser immer wieder mal auffällig nah um mich herumbohnert. Seine verstohlenen Blicke fragen mich so eindringlich, ob ich inzwischen Zeit gefunden hätte, dass es mir langsam ein wenig peinlich wird. Und tatsächlich finde ich irgendwann die Zeit – schon um in den Momenten, in denen sich unsere Wege kreuzen, nicht immer woanders hinsehen zu müssen. Das wird ein ganz besonderer Moment, weil ich da auf eine Geschichte stoße, die mich sofort und so stark wie kaum eine andere berührt. Sie geht durch die dicke Haut, die auch ich mir in dieser eigenartigen Welt zulegen musste, einfach hindurch.

Im Grunde kenne ich das längst. Ein Gefangener, der erzählt, zu Unrecht eingebuchtet worden zu sein, eine zu harte Strafe zu verbüßen oder Opfer einer perfiden Verschwörung beziehungsweise des bösartigen Justizapparats geworden zu sein. Das ist weder in Werl noch in sonst einem deutschen Knast ein außergewöhnliches Ereignis. Jeden verdammten Tag des Jahres sind Beamte und Sozialarbeiter, Ärzte und Psychiater einem gigantischen Schwall von Beteuerungen und Anschuldigungen durch empörte bis wütende Knackis ausgesetzt. Er schleift viele von ihnen über die Jahre dermaßen ab, dass sie in solchen Momenten kaum noch empathisch, sondern eher gleichgültig oder zynisch reagieren. »Hier sitzen fast neunhundert, die unschuldig sind«, kommt es dann zurück. Oder auch: »Wir haben hier einen Friseur, vielleicht kannste dem das erzählen.« Wie das eben so geht, wenn man sich in diesem Dschungel abschotten will.

Auch ein Arzt ist dagegen nicht gefeit. Schon durch seine Sonderstellung, die Schweigepflicht, ist er ein beliebter Anlaufpunkt für viele Beschwerden. Viele von ihnen gehen über rein medizinische Dinge weit hinaus.

Eines Abends, an dem ich allein in meiner Wohnung bin, gehe ich dann tatsächlich die Ordner durch, die Lesser mir in die Hand gedrückt hat. Ich sitze am Küchentisch, mit dem Rücken zu den Fenstern, die den Blick auf ein Stück Mauer und vergitterte Fenster freigeben, und bin verblüfft. Eben hatte ich noch Leerlauf, doch in den nächsten Stunden erhebe ich mich nur noch, um Zigaretten zu suchen oder kurz zur Toilette zu gehen. Was ich da lese, Schriftstück um Schriftstück, ist tatsächlich unglaublich. Und trotzdem glaubhaft, soweit ich das im ersten Durchgang einschätzen kann. Die aberwitzigsten Geschichten erfindet eben immer noch das Leben.

Und diese hier ist gerade mal ein paar Jahre her.

Das Schützenfest ist der konkurrenzlose Höhepunkt im Jahreskalender der kleinen Ortschaft im Bergischen Kreis, irgendwo zwischen Opladen und Gummersbach. Dort, wo die Fensterläden im alten Fachwerk so grün leuchten wie die sanft geschwungenen Hügel an alten Landstraßen. So ist das auch an diesem Frühsommerabend 1990, dem ersten Samstag nach Pfingsten. Im Schützenzelt wird den ganzen Abend musiziert und getanzt, gebaggert und gelacht und gesoffen. Man hebt Pils und Korn, Sekt oder Jägermeister, und wer am Ende mit wem verschwindet, darüber schweigt die laue Nacht. Sie lässt die Männer und Frauen, die im schwachen Laternenlicht aus dem Zelt laufen oder torkeln, gnädig zu Silhouetten werden.

Am nächsten Morgen ist allerdings erst mal Schluss mit lustig. Da stehen mit einem Mal mehrere Polizeiwagen und ein halbes Dutzend Kripobeamte um eine frisch abgesperrte Scheune herum. In ihrem Innern liegt die übel zugerichtete Leiche von Susanne Drygalski, einer zwanzigjährigen Studentin der Rechtswissenschaften, die fürs große Wochenende aus Köln zurückgekommen ist, zu Eltern und Schulfreundinnen. Die stets unbeschwerte, hübsche Susanne, die so gern Handball gespielt und getanzt hat. Wer im Ort hat sich nicht nach ihr umgedreht!

Es dauert nur einige Stunden, bis die Ermittler auch am Elternhaus von Markus Lesser klingeln. Der junge Angestellte der nächsten Sparkassenfiliale hat am Abend öfter mit Susanne getanzt, wie im Zelt beobachtet wurde. Und dass er sie nach Mitternacht begleitet hat, in Richtung ihres Elternhauses, haben ebenfalls alle mitbekommen. Das bleibt nicht aus in so einem kleinen Ort. Der Mittzwanziger dürfte der Letzte gewesen sein, so heißt es, der Susanne lebend gesehen hat. Eine Feststellung, die ihn erst mal verdächtig macht.

Ganz nach Hause habe er die Susanne allerdings nicht gebracht, macht Markus gegenüber den Kripobeamten geltend. Und getanzt habe er gestern mit so vielen. Das wollen manche im Ort allerdings anders gesehen haben. Sie geben zu Protokoll, dass der junge Mann schon länger hinter dem Mädchen her war, offenbar jedoch ohne Erfolg. So entsteht die Geschichte des glühenden Verehrers, der vergeblich alles auf eine Karte setzt und wegen dieser Zurückweisung durchdreht, praktisch von allein. Sie gibt auch die einzige Richtung vor, in die nun ermittelt wird. Mit einigem Druck, weil sich Nachrichten über die übel zugerichtete Leiche, halbwahre wie falsche, rasend schnell im Ort verbreiten.

Ein ganzer Ort im Schockzustand. Und knapp zweitausend Menschen, die sich und die im einzigen Gasthof logierenden Ermittler fragen, ob das wirklich einer von ihnen gewesen sein kann. Einer wie der Markus, der bei den Mädchen wenig Glück hatte und weiterhin im Jugendzimmer bei seinen Alten wohnte. Das stille, tiefe Wasser. Also, wenn überhaupt schon einer, dann noch am ehesten der.

Möglicherweise sind die ermittelnden Beamten auch selbst aufgebracht. Ein junges Mädchen, dem jemand den Schädel eingeschlagen hat, bevor es vergewaltigt wurde; dazu die beiden mit einem scharfen Gegenstand tief eingeritzten Brüste. Das kann auch noch so hartgesottene Polizisten wütend machen. So wütend, dass sie sich mit aller Macht auf den Ersten stürzen, der in Frage kommt. Und versuchen, ihn so lange in die Mangel zu nehmen, bis er geständig ist.

Gib es doch zu. Du warst doch geil auf sie. Du wolltest es ihr mal so richtig besorgen.

Tatsache ist, dass der Verdächtige an diesem Sonntag bis in die Nacht hinein verhört wird, fast pausenlos und ohne Rechtsbeistand. Bis er, übermüdet und...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2018
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften Psychologie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2018 • Abgrund der Seele • Abgründe • Axel Petermann • Bankräuber • Betrüger • buch neu • Dealer • Einsamkeit • Entsetzen • Enttäuschung • experte fürs böse • Fallanalyse • gefährliche Begegnungen • Gefängnis • Gefängnisarzt • Gerichtsverhandlung • Gewalt • größter Not • Josef Wilfing • Knast • kranke Seelen • Kriminalität • Michael Tsokos • Mord • Mörder • Mörderkind • Neu • Neu 2018 • Neuerscheinung • Neuheit • Perfektes Verbrechen • Raub • Raubüberfälle • Reue • Schuld • Serienmörder • Sterben • Straftat • Straftaten • Tatmotiv • Tatort • überführt • unglückliche Lieben • Unschuld • Untersuchungsrichterin • Verbrechen • Verbrecher • Vergewaltiger • Verrat • Wut
ISBN-10 3-8437-1747-8 / 3843717478
ISBN-13 978-3-8437-1747-2 / 9783843717472
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