Achtung, Zensur! (eBook)

Über Meinungsfreiheit und ihre Grenzen
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
250 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1794-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Achtung, Zensur! -  Nikola Roßbach
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Zensur ist der Schlachtruf der Stunde: Ein Gedicht wird von einer Fassade entfernt? Zensur! Ein Bild aus einem Museum entfernt? Zensur! Ein Redner von einer Universität ausgeladen? Zensur! Doch ist es das wirklich? Viele haben heute das Gefühl, ihre Meinung nicht mehr offen sagen zu können. Sie fragen sich, ob Facebook und Google ihre Kontrollaufgaben nicht rigider wahrnehmen als mancher Staat, ob Kunst politisch korrekt sein muss, wieviel Freiheit man den Feinden der Freiheit geben kann. Eine heiße Debatte ist entbrannt, bei der vieles durcheinander geht. Klassische Zensur vermischt sich mit neuen Formen, polemisches Geschrei von rechts mit Sprechverboten von links. Die Literaturwissenschaftlerin Nikola Roßbach analysiert die kontroverse Diskussion um das Sagbare und legt die unterschwelligen Mechanismen unserer Gesellschaft offen. Zugleich fordert sie eine Zensurdebatte, die über Polemiken und effektheischende Extrempositionen hinausgeht. Eine Auseinandersetzung, die zeigt, was Meinungsfreiheit bedeutet und wie viel sie uns tatsächlich wert ist.  

Nikola Roßbach ist Professorin für Neuere deutsche Literatur in Kassel und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Kontrolle und Normierung literarischen Wissens. Seit 2016 konzentriert sie sich in Forschung und Lehre verstärkt auf das Thema Zensur: Als wissenschaftliche Partnerin des monumentalen Kunstprojekts Parthenon of Books von Marta Minujín (documenta 14) nahm sie an zahlreichen öffentlichen Debatten teil.

Nikola Roßbach ist Professorin für Neuere deutsche Literatur in Kassel und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Kontrolle und Normierung literarischen Wissens. Seit 2016 konzentriert sie sich in Forschung und Lehre verstärkt auf das Thema Zensur: Als wissenschaftliche Partnerin des monumentalen Kunstprojekts Parthenon of Books von Marta Minujín (documenta 14) nahm sie an zahlreichen öffentlichen Debatten teil.

KAPITEL II


Zensurpolemiken: Inflation und Missbrauch eines Begriffs


In totalitären Systemen und Diktaturen ist ›Zensur‹ ein Tabuwort: Diejenigen, die Zensur praktizieren, möchten die Sache nicht beim Namen nennen. Diejenigen, die von Zensur verfolgt werden, meist auch nicht. Die einen, um Machtstrukturen nicht offenzulegen, die anderen aus Angst vor Sanktionen.

Wir dagegen haben überhaupt keine Hemmungen, den Zensurbegriff in den Mund zu nehmen. »Achtung, Zensur!«, rufen wir zu allen möglichen Gelegenheiten, ohne zu zögern. Geradezu reflexartig. Zum Beispiel, wenn die UEFA geschönte Bilder von Fußballspielen überträgt und nur spektakuläre Spielszenen, tolle Tore, engagierte Trainer und glückliche Fans zeigt. Bei der Europameisterschaft im Sommer 2016 kam es daher zu Zensurprotesten, die vor allem von den großen deutschen öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten ausgingen. Man wollte gefälligst die ganze Wahrheit des Fußballs sehen und zeigen dürfen, auch Spielunterbrechungen und störungen, auch Krawalle und brutale Hooligans.

Zensur! So tönte es auch durch die analogen und digitalen Medien, als das Nachrichtenmagazin Spiegel im Juli 2017 ein wegen seiner antisemitischen Grundhaltung umstrittenes Buch, Rolf Peter Sieferles Finis Germania, kurzerhand von der Bestsellerliste löschte. Das Spiegel-Ranking »Sachbücher des Monats« orientiert sich prinzipiell an Verkaufszahlen, die erfolgreichsten Bücher kommen ganz oben auf die Liste. Daher irritierte der selbstherrliche Eingriff die Öffentlichkeit, wenngleich er durch die Statuten des Magazins durchaus gedeckt war. Besonders störte man sich an der fehlenden Transparenz: Kein redaktioneller Vermerk begründete die Löschung. Der Spiegel sah sich dazu veranlasst, eine Erklärung nachzuschieben: Er habe die Verbreitung eines geschichtsrevisionistischen, rechtsradikalen und verschwörungstheoretischen Werks wie Sieferles Finis Germania nicht länger unterstützen wollen. Er sah sich also in einer Art moralischen Verantwortung – und erntete dafür scharfe Kritik. Besonders ereiferten sich die Akteure und Akteurinnen vom politisch rechten Rand über diese ›Gesinnungsdiktatur‹. Sie bemühten sich darum, das Thema zu kapern und qua Zensurpolemik vom rechtsradikalen Inhalt abzulenken.

Der altbekannte und immer neu alarmierende Ruf ›Zensur!‹ erklang auch im Herbst 2017 laut und vernehmlich. Ein deutscher Discounter wollte sich weltanschaulich besonders neutral darstellen und montierte deshalb Kreuze von Kirchen ab – bildlich gesprochen zumindest. Auf Produkten einer Eigenmarke von Lidl waren idyllische, typisch griechische Insellandschaften abgebildet. Doch die Fotos waren retuschiert und die Kreuze auf den orthodoxen Kirchen der Insel Santorini getilgt. Ein Shitstorm war die Folge, der religiöse Diskriminierung und Zensur anprangerte; sogar Boykottaufrufe machten die Runde. Auch die lokalen Behörden der griechischen Insel reagierten verärgert auf den scheinbar mangelnden Respekt gegenüber der Kulturgeschichte Santorinis. Als ob das alles für Lidl nicht unangenehm genug gewesen wäre, folgte prompt einen Monat später eine Neuauflage des Spektakels. Zensurskandal Klappe, die zweite, Schauplatz diesmal: Italien. Denn plötzlich fehlte das Kreuz auf einer ligurischen Kirche! Und selbst wenn es nur ein Supermarkt in dem kleinen Ort Camporosso nördlich von Ventimiglia war, in dem ein Werbefoto die Kirche des nahe gelegenen Dorfs Dolceaqua kreuzlos präsentierte – die Wellen der Empörung schlugen erneut hoch. »Lidl lernt’s nicht«, titelte Die Welt am 12. Oktober süffisant in Anspielung auf den bekannten Werbespruch »Lidl lohnt sich«. Der Discounter entschuldigte sich erneut für seine Unachtsamkeit und versprach Änderungen im Verpackungsdesign.

Ist das alles nun Zensur? Pausenlos kritisieren, beklagen und beschwören wir sie, und das mitten in unserer offenen, demokratischen Gesellschaft. Es erscheint paradox: Wo wirklich Zensur herrscht, ist das Wort ›Zensur‹ tabu – ist nun umgekehrt dort, wo es keine Zensur gibt, das Wort in aller Munde? Es sieht tatsächlich so aus: Gerade in Deutschland ist sie zu einem regelrechten Kampfbegriff geworden, der zu allen möglichen Gelegenheiten Verwendung findet. Leider auch zu allen unmöglichen Gelegenheiten. Von ihnen handelt dieses Kapitel.

Zensur! – Hierzulande muss man zum Glück nichts befürchten, wenn man die Sache beim Namen nennt. Und man muss auch nichts befürchten, wenn man eine ganz andere Sache bei diesem Namen nennt. Genau um solche Fälle geht es jetzt: Wenn von Zensur nichts in Sicht, aber viel die Rede ist. Es geht darum herauszufinden, wie diese medial sehr wirkungsvollen, die Öffentlichkeit bewegenden Zensurdiskurse – politische Polemiken einerseits, kulturelle Aufreger andererseits – funktionieren und was sie eigentlich bezwecken. Warum überhaupt haltlos, aber eben nicht grundlos Zensur beklagt wird.

Zunächst einmal erregt man auf diese Weise natürlich eine gute Portion Aufmerksamkeit. Denn wenn ein Zensurvorwurf im Raum oder in der Zeitung oder im Netz steht, werden alle hellhörig, denn Zensur darf nicht sein. Sie widerspricht dem Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung. Das haben wir uns in der Geschichte unserer Demokratisierung hart erkämpft, daran darf niemand rühren. Der Zensurforscher Wolfram Siemann konstatiert 2007, der Zensurvorwurf behalte unverändert »Fanalcharakter, obwohl er spätestens seit den 1970er Jahren so inflationär gebraucht wird, daß er die Trennschärfe zu anderen Eingriffen in die Meinungsfreiheit zu verlieren droht«. Zensurklagen haben also ein gewisses Skandalisierungspotenzial. Und eigentlich ist das ja auch gut so. Der gesellschaftliche Reflex, in solchen Fällen erst einmal hellhörig zu werden, ist wichtig. Durch ihn bleibt man wachsam. Es ist überlebensnotwendig für Demokratien, dass errungene Freiheiten nicht als selbstverständlich gelten, sondern potenzielle Angriffe auf sie aufmerksam registriert und kritisch geprüft werden. Auch wenn Zensur in Deutschland als staatlich-formelles Instrument nicht existiert, kann man sich nicht entspannt zurücklehnen. Der weitverbreitete gesellschaftliche Anti-Zensur-Reflex hat also durchaus etwas Gutes: als Sensor für Demokratiebedrohung. Leider ist er aber nicht gefeit gegen Missbrauch. Gerade in den letzten Jahren wird dieser Reflex immer häufiger missbraucht. ›Zensur! Zensur!‹ erschallt es – und alle schauen erschrocken hin.

1POLITISCHE ZENSURPOLEMIK VON RECHTS


Im Politzirkus ist ein solches Zensurgeschrei vor allem von populistischer Seite zu beobachten. Zensur wird beklagt, wenn bestimmte Äußerungen aus der eigenen rechten Ecke von den Medien oder politischen Gegnern als rassistisch, antisemitisch, homophob, sexistisch oder volksverhetzend kritisiert oder gar angeklagt werden. Also ein klassischer Fall von Selbstviktimisierung.

Rechtspopulistinnen und -populisten haben eindeutig eine Schwäche für den Kampfbegriff ›Zensur‹, sie lieben ihn heiß und innig. Er ist in den letzten Jahren ihr Schutzschild geworden, ihr Verdeck, ihr Versteck. Sie haben ihn regelrecht gekapert. Gefühlt jedes dritte Wort, das sie aussprechen, ist ›Zensur‹. Im Umkehrschluss nennen sie alles, was sie selbst äußern, ›unzensiert‹ und ›frei‹. Man wird ja wohl noch sagen dürfen! Zum Beispiel, dass man auf unregistrierte Flüchtlinge schießen dürfen soll. Dass man Flüchtlingsboote »alle samt Inhalt« versenken solle. Dass die Mitglieder der bundesdeutschen Regierung »Schweine« seien, die nur »als Marionetten der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs« agieren würden. Dass politische Gegner türkischer Abstammung »in Anatolien entsorgt« werden sollen. Die politische Korrektheit gehöre »auf den Müllhaufen der Geschichte«! Alles zur Genüge bekannte AfD-Parolen aus der letzten Zeit, die fast immer Anklagen wegen Volksverhetzung oder Beleidigung zur Folge hatten. Wenn die Öffentlichkeit kritisch auf solche Reden reagiert oder gar rechtsstaatliche Maßnahmen drohen, schallt es empört von rechts zurück: Zensur! Zensur! Man will uns einen Maulkorb verpassen – und darum stehen wir für das Unzensierte, für die Freiheit. Rechte Internetblogs, gegen die die Justiz wegen ihrer fremdenfeindlichen, antisemitischen und völkischen Inhalte immer wieder vorgeht, heißen denn auch Unzensuriert oder Politically Incorrect.

Und was findet man da genau? Auf der FPÖ-nahen Seite Unzensuriert.at konnte man 2013 zum Beispiel einen Mordaufruf gegen politische Gegner lesen. Aufgefordert wurde ausdrücklich zur »Breivikisierung« von österreichischen Parlamentariern, »Parlamentswanzen« genannt – ein Posting, das ebenfalls eine Strafanzeige zur Folge hatte. Etwas weniger spektakulär ging es bei einem am 5. November 2017 geposteten Interview zu: Eine völlig unbekannte Schauspielerin litt wegen ihrer nationalistischen und flüchtlingsfeindlichen Äußerungen unter Management- und Engagementmangel. Es wäre nicht sonderlich überraschend, wenn potenzielle Arbeitgeber tatsächlich abgeschreckt gewesen wären von ihren unverblümt vorgebrachten xenophoben und völkischen Reden. Die Schauspielerin meinte nun jedenfalls, Meinungsfreiheit sei in Deutschland nicht mehr vorhanden, sie habe praktisch »Berufsverbot«. Von Repressionen und »Medienjustiz« war da die Rede, von Gesetzesbruch und »Zensurgesetzen« … Ziemlich kraus, ziemlich eng, ziemlich wahnhaft klang das.

Mit Rechten reden – so ein Bestsellertitel aus dem Jahr 2017 –, das hört sich so vernünftig an! So konstruktiv, so aufgeklärt! Es ist aber verdammt hartes Brot. Wie soll man bloß ernsthaft reagieren auf solche angst-...

Erscheint lt. Verlag 21.9.2018
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte AfD • Autokratie • avenidas • DDR • Demokratie • Freiheit der Kunst • Gesellschaft • Kultur • Literatur • Metoo-Debatte • Political Correctness • Rechtspopulismus • Redefreiheit
ISBN-10 3-8437-1794-X / 384371794X
ISBN-13 978-3-8437-1794-6 / 9783843717946
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