Vergiss kein einziges Wort (eBook)

Roman
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2018 | 2. Auflage
368 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43469-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vergiss kein einziges Wort -  Dörthe Binkert
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Drei Epochen, drei Frauen, drei Schicksale In den Geschichten von Martha, Maria und Magda im schlesischen Gleiwitz spiegelt sich die Geschichte einer Grenzregion wider: die Geschicke von Deutschen, Polen und Tschechen, Christen und Juden, die liebten und hassten, Familien gru?ndeten und einander verließen, vertrieben wurden und sich wiederbegegneten. Gekonnt spannt Dörthe Binkert den großen Bogen von den 20er- bis zu den ausgehenden 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Mit viel Gespu?r und noch mehr Herzblut zeichnet sie das Porträt einer Zeit und einer Region, in der Freude und Leid nur einen Wimpernschlag voneinander entfernt waren.

Dörthe Binkert, geboren in Hagen/Westfalen, wuchs in Frankfurt am Main auf und studierte dort Germanistik, Kunstgeschichte und Politik. Nach ihrer Promotion hat sie viele Jahre für große deutsche Publikumsverlage gearbeitet. Seit 2007 ist sie freie Autorin und lebt in Zürich. 

Dörthe Binkert, geboren in Hagen/Westfalen, wuchs in Frankfurt am Main auf und studierte dort Germanistik, Kunstgeschichte und Politik. Nach ihrer Promotion hat sie viele Jahre für große deutsche Publikumsverlage gearbeitet. Seit 2007 ist sie freie Autorin und lebt in Zürich. 

1921


Die ganze Nacht ging ein Wind durch die Straßen, wirbelte Flugblätter aus der Gosse auf, riss am hellen Grün der Junibäume.

Um Mitternacht setzten die Wehen ein. Carl schlief so fest, dass er nicht bemerkte, wie seine Frau aufstand und in die Küche ging. Auch im Bett der Mädchen regte sich nichts, nur eine seufzte leise im Schlaf, wahrscheinlich war das Ida, die so lebhaft träumte.

Die Wehen waren noch nicht sehr heftig, kein Grund, jemanden aufzuwecken. Nicht beim siebten Kind. Überhaupt wollte Martha nicht ins Krankenhaus. Sie würde nach der Hebamme schicken, wenn es so weit war – »falls das Kind nicht von allein rausrutscht«, wie die Hebamme bei der Untersuchung gesagt hatte, »es ist ja nicht Ihr erstes«.

Auf dem Küchentisch musste noch ein Krug mit kaltem Tee stehen, einen Becher fand Martha blind, ohne Licht zu machen. Handgriffe wie im Schlaf. Nicht, dass Klara noch aufwachte in ihrem Kinderbettchen.

Martha lehnte sich gegen das Fensterkreuz, in ihrem Rücken das schmerzhafte Ziehen und die dunkle, sternlose, windige Nacht. Der ruhige Atem Klaras. Der Frieden, der von schlafenden Kindern ausgeht. Das Knacken der Dielen, ein unregelmäßiges Geräusch, in dem man keine Gesetzmäßigkeit erkennt. Der Wind. Sonst war alles still. Das Haus in der Paulstraße schlief dem Tag entgegen, als stünde nichts bevor.

Am Morgen gingen Carl und die älteren Kinder wie gewöhnlich zur Arbeit und in die Schule. Die Brote für alle hatte Martha schon am Vorabend geschmiert, so, wie sie es immer machte. Auf dem Pergamentpapier blühten inzwischen fettige Stellen vom Griebenschmalz. Sechzehn Scheiben Brot, je zwei Klappstullen für die Männer, eine für die Mädchen. Und noch ein Glas eingemachte Gurken für Carl.

»Die Strebel-Gurken sind bei den Kollegen berühmt«, sagte Carl anerkennend und verstaute das Gurkenglas in der braunen Aktentasche. Es störte ihn, dass die Tasche sich dabei einseitig ausbeulte und unprofessionell gepackt wirkte, aber die Gurken waren es wert. Er kniff Martha unbeholfen in die Wange. »Wird schon alles gut gehen, Martha, wirst sehen.«

»Jetzt geh schon«, erwiderte Martha, »und sag der Frau Liedka unten Bescheid. Sie soll die Hebamme rufen, es ist bald so weit.«

 

»Ja«, nickte Frau Liedka und zog den geblümten Morgenmantel, gelbe Rosen auf blauem Grund, enger über der vollen Brust zusammen, als Carl vor ihr stand. »Sicher doch mach ich das.« Sie nahm ihm den Zettel aus der Hand, auf dem Martha mit ihrer winzigen, säuberlichen Schrift die nötigen Angaben notiert hatte. »Ich geh auch gleich hoch und sehe nach Ihrer Frau und der Kleinen. Die Klara kann solange hier unten mit meiner Rita und der Bärbel spielen. Es wird ja hoffentlich nicht so lange dauern … obwohl, man weiß nie.«

Aber erst öffnete sie das Fenster und sah Carl nach, wie er auf sein schwarzes Fahrrad stieg, die Paulstraße hinunterfuhr, nach wenigen Metern links in die Barbarastraße einbog und in Richtung Hindenburgbrücke verschwand, ein wenig schwankend im Wind, eine Hand am Hut.

Immer pünktlich aus dem Haus und bei der Arbeit, der Strebel, dachte Frau Liedka bei sich, ein richtiger preußischer Beamter. Der hält nicht bei jeder Destille an, weil er einen Schluck Gleiwitzer Kanalwasser braucht. Er kam ja auch von da oben aus Breslau, wo alles schöner, größer und besser und noch dazu näher bei Berlin war. Dafür sah man ihn bei der heiligen Messe nie, seine Frau und die Kinder ebenso wenig. Es war ihr, Agnes Liedka, gleich klar gewesen, dass sie Evangelen waren, als sie einzogen, so protestantisch, wie die Preußen sich das nur wünschen konnten. Aber hier, in diesem Haus in der Paulstraße, hielt man trotzdem auf gute Nachbarschaft. Egal, was in der Straße geredet wurde. Übrigens war die Martha Strebel Oberschlesierin, auch wenn sie nicht katholisch war, eine geborene Wieczorek aus Oppeln. Irgendwann beim Kaffee in der Küche hatte Martha Strebel, geborene Wieczorek, ihr erzählt, dass sie mit fünfzehn nach Breslau gegangen und »in Stellung« bei einer Advokatenfamilie war, als sie den Strebel kennenlernte. Eine gute Partie, der Carl, zwölf Jahre älter als die Martha und schon Beamter bei der Reichsbahn, als sie heirateten.

 

Noch ein Schrei, und das Kind ist da. Gerade als die Hebamme zur Tür hereinsegelt, als hätte der Wind, der immer noch nicht nachgelassen hat, sie mit einer heftigen Bö mitsamt ihrem Medizinalkoffer ins Zimmer geweht.

Die Hebamme sieht das Kind herausflutschen, ehe sie Martha noch richtig begrüßen kann. Frau Liedka aber kennt sich aus, sie hat alles vorbereitet, Wasser, Tücher.

Marthas strapazierter, erschlaffter, schweißnasser Körper. Frau Liedka wischt ihr mit einem feuchten Waschlappen die Stirn und streichelt ihr die Hand, während die Hebamme sich um das Kind kümmert. Der erste Schrei ist kräftig.

»Es ist ein gesundes kleines Mädchen«, sagt die Hebamme und legt Martha den Säugling in den Arm. »Wie soll es denn heißen?«

Das Kind soll Emma Luise heißen.

Es ist Samstag, der 4. Juni 1921.

 

Frau Liedka brachte Suppe.

»Eine Hühnerbrühe mit Nudeln, da kommt jeder zu Kräften, das bringt die schwächste Mutter wieder auf die Beine, auch Sie, Frau Strebel.« Sie büschelte das Kissen in Marthas Rücken, damit sie die Suppe besser löffeln konnte.

Martha lächelte erschöpft und ein bisschen vage, und Frau Liedka hielt das fremde Würmchen zärtlich in die Höhe.

»Die Heilige Mutter Gottes meint es gut mit Ihnen: sechs gesunde Kinder! Was soll ich da sagen mit meinen kümmerlichen zweien! Eine Wallfahrt nach Tschenstochau würde ich machen, Frau Strebel, auf den Knien! Aber nu ruhen Sie sich erst mal aus. Machen Sie sich keine Sorgen, die Kleinen spielen unten wie die Engelchen. Bärbel, meine Ältere, passt schon auf, dass sie keinen Unsinn machen. Bleiben Sie ja noch ein paar Stunden im Bett, und schicken Sie mir auch die Hedel runter, wenn sie von der Schule kommt. Es ist genug Suppe da.«

Ja, nickte Martha und war dankbar.

Sieben Kinder hatte sie geboren in zwanzig Jahren, zwei weitere vorzeitig verloren. Jetzt war sie eine Frau von vierzig, und während sie ständig in anderen Umständen gewesen war, ihr Leib anschwoll und abschwoll, waren Reiche zusammengebrochen, Monarchen gestürzt, hatte der Krieg die Welt verändert.

Aber was verstand sie schon davon. Ihr Lebensweg war gesäumt von Schwangerschaften und Geburten. Martha zählte es an den Fingern nach. Konrad war der Erste, er war im Jahr 1900 zur Welt gekommen, da war sie gerade mal neunzehn. Konrad, ihr Erstgeborener, ihr Liebling …

Und dann war es weitergegangen mit Heinrich, Ida, Hedwig, und nach zwei Fehlgeburten, als schon niemand mehr dachte, dass sie ein weiteres Kind austragen könnte, kam der kleine Anton. Ach Gott, wie blau und winzig er bei der Geburt gewesen war! Ganze vier Monate hatte er leben dürfen, und nichts hatte sie, hatte der Arzt für ihn tun können.

»Manchmal sind auch wir Ärzte machtlos«, hatte Dr. Wolfssohn gesagt, den Kopf geschüttelt und das tote Kind behutsam zugedeckt. »Sein Herz war nicht stark genug. Es konnte den kleinen Anton nicht durchs Leben tragen.«

Kurz nach Antons jämmerlichem Tod war sie wieder schwanger geworden. Sie hatte sich nicht darüber freuen können, erbrach sich über Monate, als hätte sie das Kind am liebsten hervorgewürgt und ausgespuckt. Dabei war Klara gesund, ein kleines, gesundes, unschuldiges Mädchen, das in Marthas Trauer um drei verlorene Kinder hineingeboren wurde. Mit dem neuen Kind, dessen Name ihr noch nicht leicht über die Zunge ging, war es jetzt endgültig genug. Doch das sagte sie nicht. Nicht der Frau Liedka.

Und das Luischen lag nun auf ihrer Brust. Wie ein kleiner Frosch. Mit O-Beinen. Ja, genau so.

 

Das helle Hufgeklapper leichter Reitpferde dringt bis ins Schlafzimmer hinein, wo Martha einnickt und immer wieder aufschreckt. Hedwig hat sich nach der Schule rührend um alles gekümmert. Sie hat das Luischen begeistert auf dem Arm gewiegt und das neue Strebel-Kind herumgetragen, so ernst und bedeutungsvoll, als wäre sie die Säuglingsschwester vom Dienst. Jetzt öffnet sie aber das Fenster und lehnt sich gefährlich weit hinaus, um Pferde und Reiter zu entdecken, die blonden Zöpfe baumeln in der Luft. Doch vom ersten Stock aus sieht man nicht viel, und das Trappeln entfernt sich auch schon wieder.

Plötzlich ist Martha voller Unruhe, als hätte das ungewohnte Geräusch sie aus der Mutter-Kind-Blase in die Welt zurückgeholt. Sie wickelt sich in den blauen Häkelschal, den Ida ihr zu Weihnachten geschenkt hat, und stellt sich zu Hedwig ans Fenster.

»Siehst du den Vater kommen, Hedel? Wo bleibt der nun wieder, ausgerechnet heute! Und die andern sollten auch schon längst da sein. Heinrich. Und Ida. Ida müsste auch nicht immer mit ihren Freundinnen auf der Wilhelmstraße rumtrödeln nach der Arbeit.«

»Er kommt!«, ruft Hedwig, den Kopf immer noch draußen im Freien, und Martha, die einen Schwächeanfall hat und auf einen Küchenstuhl gesunken ist, sagt ärgerlich zu ihrem Mann, als er die Wohnung betritt: »Da bist du ja.«

Carl antwortet nichts darauf, nimmt den Hut ab, hängt ihn auf einen Haken, stellt die ohne das Gurkenglas nun wieder schmalbrüstig eingesunkene Aktentasche darunter auf den Boden, besinnt sich erst jetzt darauf, dass er vermutlich ein Kind bekommen hat, und sieht Hedwig, die das Luischen, rosafarben eingewickelt, ihm hinstreckt, als hätte sie es zur Welt gebracht.

»Da haben wir also eine neue Tochter«, sagt Strebel und räuspert sich, weiß der Himmel, ob aus Verlegenheit, Enttäuschung oder...

Erscheint lt. Verlag 21.9.2018
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Breslau • Epochenroman • Familienepos • Familiengeschichte • Familienroman • Frauenroman • Frauenschicksal • Gleiwitz • Grenzregion • Heimat • Historischer Roman • Nationalismus • Nationalsozialismus • Oberschlesien • Schicksalsroman • Schlesien • Schlesienroman • Schmöker • Starke Frauen • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-423-43469-4 / 3423434694
ISBN-13 978-3-423-43469-0 / 9783423434690
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