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Der unsterbliche Mr. Lindley -  Artur Becker

Der unsterbliche Mr. Lindley (eBook)

Ein Hotelroman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
316 Seiten
Weissbooks Verlagsgesellschaft
978-3-86337-144-9 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
19,99 inkl. MwSt
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Es ist ein heißes Augustwochenende. Das polnische-deutsche Familientreffen der Brikschinskis findet in diesem Jahr ineinem neuen Hotel in Frankfurt statt, dem Lindley. Besonders für Robert ist es eine willkommene Auszeit; im Kreuz einen ganzen Sack voller Probleme, erhofft er sich während der Tage fern von Berlin Ablenkung und Entspannung. Und die ist ihm gewiss. Er verliebt sich nicht nur in eine russisch-jüdische Künstlerin und kommt in den Genuss halluzinogener Pilze (die das Hotel für besondere Freunde anbietet), sondern macht auch im Keller einer vietnamesischen Bar Bekanntschaft mit dem britischen Ingenieur William Lindley (der allerdings schon im 19. Jahrhundert die Frankfurter Kanalisation erbaut hat). An dessen Seite begegnet er im Untergrund der Stadt alten Freunden und Verstorbenen, während sein Vater im Hotel das Zeitliche segnet, die Leiche verschwindet, die Mutter in Ohnmacht fällt - und der Vater endlich in der festen Überzeugung, er sei Jesus Christus, wieder auftaucht.

Artur Becker, geboren 1968 in Bartoszyce (Masuren), lebt seit 1985 in Deutschland. Becker schreibt Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays. Zuletzt veröffentlichte er den Essayband Kosmopolen. Bei weissbooks.w erschienen zudem die Romane Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken (2008), Der Lippenstift meiner Mutter (2010), Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang (2013) und die Novelle Sieben Tage mit Lidia (2014). Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Adalbert-von-Chamisso- Preis und dem Dialog-Preis.

1


Es reichte, nur ein paar Schlagzeilen zu lesen: Von links nach rechts schien kein weiter Weg zu sein, man ärgerte sich über die Radikalen und stopfte aus Frust Leckereien in sich hinein. Beim Frühstück im Sachsenhäuser Hotel hatte sich Robert Brikschinski den Bauch vollgeschlagen, obwohl draußen schon wieder eine unbarmherzige Hitze herrschte, und wahrscheinlich waren die Google-News an seinem Bärenhunger schuld und nicht das Hotel, das mit einem üppigen Büffet aufgewartet hatte. So mochte er Frankfurt am liebsten, heiß am frühen Vormittag, unberechenbar, satt und trotzdem gierig, weil in ständiger Erwartung, dass etwas Überraschendes passieren würde. Gestern zum Beispiel hatte Robert auf dem Main einen nackten Ruderer auf einem Surfbrett gesehen, dem kein Passant auf der Flusspromenade Aufmerksamkeit schenken wollte. Der arme Wicht war in Eile gewesen, als fürchtete er um sein Leben. Der Main kam Robert in dieser Stadt schon immer etwas fehl am Platz vor, und die Begegnung mit dem nackten Ruderer bestätigte Roberts Impression: ein Fluss wie ein verlorener Damenschuh am Straßenrand.

Robert Brikschinski saß im Taxi und schaute sich noch einmal die Postkarte an, die ihm sein Bruder Jack vor ein paar Tagen aus dem Hotel Lindley geschickt hatte. Unglaublich, dachte er, Jack hat mir nicht einmal aus London geschrieben, obwohl er dort ein ganzes Jahr gewesen war, und seit wann wachsen in Frankfurter Hotels masurische Birkenpilze?, fragte er sich beim Betrachten der Postkarte erneut. Der Künstler war jedenfalls nicht sonderlich einfallsreich gewesen, die Fotomontage, eine Kreuzung aus Wolkenkratzern und Birkenpilzen, sah nicht besonders gelungen aus, eher bedauernswert – als Werbung reichte sie jedoch allemal. Man konnte im Lindley offenbar verschiedene Sorten Pilze kaufen wie auf einem Wochenmarkt, scheinbar hervorragende Produkte aus ganz Europa, was die italienische Pilzmafia freuen musste. Robert las noch einmal den Text, den sein Bruder in Eile verfasst hatte:

Ich hasse unsere sogenannten Familientreffen! Alljährlich die gleichen Rituale, die gleichen Diskussionen, der gleiche Shit! Komm bitte nicht zu spät! Lass mich mit unseren Eltern nicht allzu lange allein! Vielleicht kannst Du Dich von Deiner Konferenz etwas früher abseilen?! Tu doch endlich etwas für Deinen armen Bruder, der es nach dem Umzug aus London hier in Frankfurt wirklich nicht einfach hat! Das ist so, als wäre man aus dem Paradies auf einen Wüstenplaneten verbannt worden. Frankfurt ist klein, hässlich und aufgeblasen. Komm schnell zu mir und rette mich und unser gemeinsames Wochenende! Aus Bruderliebe und weil Du Psychiater bist. Ich küsse Dich, Dein Jack.

Robert staunte über die Ehrlichkeit der Liebeserklärung seines jüngeren Bruders, der in London ein zweiter David Gilmour hatte werden wollen, was natürlich kaum gelingen konnte, weil in London Gitarristen wie am Fließband gebacken werden, jeden Tag zwanzig, dreißig neue Klone von Gilmour und Page und wie sie alle hießen. Im Übrigen ließ Roberts Bruder an London kein gutes Haar, zumindest seit er dort vor genau einem halben Jahr die Segel hatte streichen müssen. Und seine dreiste Bemerkung »weil Du Psychiater bist« ließ Robert kalt, Jack wollte ihm nur schmeicheln.

Das Taxi verließ endlich Sachsenhausen, das Viertel, dessen Namen Robert selbst noch während seiner Hamburger Studienzeit mit dem KZ bei Berlin in Verbindung gebracht hatte, wie peinlich, dachte er im Nachhinein stets. Frederick, sein bester Freund und obendrein ein echter Frankfurter wie auch einer der einflussreichsten Psychiater weit und breit, machte ihn Anfang der Neunziger auf die fatale Verwechslung aufmerksam. Aber das lag schon weit zurück, Robert war inzwischen neunundvierzig Jahre alt und leitete in Berlin das Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, und Frederick, sein Mentor, ging schon auf die Fünfundsiebzig zu und sagte, er sei zwar ein alter Sack, der jedoch nach wie vor Mut und Lust habe, einen Wichtigtuer in seine Schranken zu weisen oder eine junge Frau zu vernaschen, die seine Bücher lese, seine Vorträge anhöre und ihn bewundere.

Robert war froh, dass er nach zwei Tagen und Nächten Sachsenhausen und der Konferenz, auf der er einen Vortrag über die Geschichte der deutschen Homosexuellen im Dritten Reich gehalten hatte, den Rücken kehren konnte. In der Nacht vor dem Familientreffen drückte er kaum ein Auge zu. Nicht deshalb, weil der August wieder einmal verrückt spielte und afrikanische Temperaturen nach Frankfurt brachte, sodass der Schlaf selbst unter einem dünnen Bettlaken einem Schweißbad glich. Roberts Hotelzimmer, das er während der Konferenz bewohnt hatte, war etwas ungünstig gelegen – die Fenster gingen auf einen Innenhof hinaus, der an die türkische Diskothek und Bar 1001 Nacht angrenzte. Und das Lüftungsfenster dieser Disco stand die ganze Nacht sperrangelweit offen, sodass Robert im Bett das Gefühl hatte, in seinem Zimmer trete ein ganzer Armeechor türkischer Sänger und Sängerinnen auf. Gegen zwei Uhr morgens war er vor Wut aus seinem Bett gesprungen und fluchend und spuckend vor die Tür gelaufen, doch als er von draußen einen Blick durch die verglaste Eingangstür der türkischen Disco wagte, stellte er verwundert fest, dass auf der geräumigen Tanzfläche zum einen deutsche Blondinen in engen Jeanshosen und zum anderen muslimische Frauen mit Kopftüchern und in knöchellangen Röcken tanzten, allesamt im zarten Alter von zwanzig oder höchstens dreiundzwanzig Jahren. Sie brauchten offenbar keine Männer zu ihrem Vergnügen, denn es gab nicht einmal einen polnischen oder arabischen Halunken mit Bart zu sehen, nirgendwo. Wenn das Fritz Bauer gesehen hätte, freute sich Robert in diesem Moment. Über diesen berühmten deutschen Juristen und seinen speziellen Beitrag zur Liberalisierung der BRD hatte er auf der Konferenz einen weiteren Vortrag gehalten. Und als Robert letzte Nacht vor den Türen der Bar konfus und praktisch halbnackt stand und die jungen Mädchen glücklich tanzen sah, war ihm sofort die Lust vergangen, sich bei den Türken über den Lärm zu beschweren. Er wollte außerdem nicht in einem Zeitungsartikel als Störenfried der bundesrepublikanischen Gesellschaft bezeichnetet werden, er sah schon die Schlagzeile vor sich: Berliner Psychiater beschwert sich über den nächtlichen Multi-Kulti-Lärm in einer Frankfurter Gaststätte.

Beim Auschecken erfuhr er dann von einer offenbar aus der Gegend stammenden Concierge namens Hortensia, dass im 1001 Nacht eine Band live gespielt habe, deren bekanntestes Stück Mach bitte das Licht aus heiße. Robert war enttäuscht, hatte er doch nachts im Halbschlaf das Gefühl gehabt, in der türkischen Bar singe ein Chor von heiligen Kriegern und rufe junge Mädchen zum Krieg gegen den verdorbenen Westen auf. So ein Albtraum fehlte bislang in seiner Sammlung.

Im Taxi erinnerte sich Robert an seine Japanreise und den Besuch im Sentō, an ein japanisches Bad und den Schlaf unter einem schattigen Baum. Das alljährliche Familientreffen mit den Eltern, dem Bruder und seiner Frau und deren drei Kindern würde ihn aber wieder wach machen, zumal Karolina, mit der er seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet war und die sich in der Familie oft als sein Schutzschild entpuppte, zu ihrer hypochondrischen Mutter nach Warschau geflogen war. Roberts Schwiegermutter Elżbieta lag schon seit vielen Jahren im Sterben, obwohl sie kerngesund war. Trotz allem freute er sich, seinen Bruder und seine Eltern wiederzusehen.

Auf der Alten Brücke sah Robert in der Ferne das verglaste und architektonisch ziemlich gelungene Gebäude der Europäischen Zentralbank: Es waren eigentlich zwei Hochhäuser, die den Eindruck erweckten, an einer Straßenecke stünden zwei Riesen, die sich nach einem Saufgelage oder einer verlorenen Schlacht gegenseitig stützten, um nicht umzufallen; Robert dachte sofort an Frankreich und Deutschland. Dort in der Nähe sollte sich auch das neue Hotel Lindley befinden, in dem sein Bruder angeblich einer anständigen Arbeit nachging. In Wahrheit dealte er mit halluzinogenen Pilzen, riss junge Frauen auf, die im Lindley übernachteten, und spielte am liebsten in der hauseigenen Bar Gitarre, um sich vor der Arbeit zu drücken. Jack erzählte jedem stolz, er sei nun Kulturmanager und verantwortlich für den sogenannten Kräuterraum, wo man unter anderem masurische Birkenpilze kaufen könne, und auch um die Bar und den Kinosaal müsse er sich kümmern; allerdings habe er nichts dagegen, wenn man ihn gelegentlich als einen Hofnarren bezeichne, da er endlich ausreichend Geld verdiene, um seine Frau und seine drei Töchter anständig zu ernähren. Das Wichtigste für ihn sei jedoch das Aufnahmestudio gleich gegenüber dem Fitnessraum: Dort verbringe er ganze Nächte und nehme mit seiner Gitarre Erste-Sahne-Songs auf, auf die selbst ein Zappa stolz sein könne. Robert war erleichtert, dass Jack wieder mit seiner Frau und den Kindern zusammen war, und er hoffte, sie würden hier am Main genauso glücklich werden wie in Berlin.

Robert hasste allerdings die Art, wie sein Bruder...

Erscheint lt. Verlag 10.9.2018
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-86337-144-5 / 3863371445
ISBN-13 978-3-86337-144-9 / 9783863371449
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