Gefährten für immer (eBook)
480 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-5060-5 (ISBN)
Anne Charlotte Voorhoeve, geboren 1963 in Bad Ems, studierte Politikwissenschaft, Amerikanistik und Alte Geschichte in Mainz. Nach Stationen an der University of Maryland, USA, und verschiedenen Verlagen lebt und arbeitet sie heute als freie Autorin in Berlin. Ihre Bücher wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem »Buxtehuder Bullen«, dem Batchelder Award und einer Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis.
Anne Charlotte Voorhoeve, geboren 1963 in Bad Ems, studierte Politikwissenschaft, Amerikanistik und Alte Geschichte in Mainz. Nach Stationen an der University of Maryland, USA, und verschiedenen Verlagen lebt und arbeitet sie heute als freie Autorin in Berlin. Ihre Bücher wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem »Buxtehuder Bullen«, dem Batchelder Award und einer Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis.
Hannover Juli 1943
1
Ich hasse Briefe schreiben. Das waren die Worte, die sich vor alle anderen schoben, während ich meine Abschiedsrunde machte. Nicht: Ich hasse den Krieg, oder: Ich hasse Papa, der mich fortschickt. Ich hasse Briefe schreiben. All unsere Diskussionen, all meine Tränen und Wutausbrüche der letzten drei Tage lösten sich auf in diesem letzten albernen Protest. Immerhin schien ich begriffen zu haben, dass ich aus der Sache nicht mehr herauskam.
»Seit wann hast du Verwandte in Ostpreußen?«
Gitti klang vorwurfsvoll. Ich klang, als müsste ich mich verteidigen: »Hab ich gar nicht. Antonia ist eine Schulfreundin meiner Mutter, ich hab sie in meinem Leben vielleicht zweimal gesehen.«
Erinnern konnte ich mich nur an das letzte Mal, und auch das ziemlich verschwommen. Ein schmales, freundliches, unendlich trauriges Gesicht. Eine leise Stimme: »Es tut mir so leid, Lotte.« Das, was an dem Tag alle gesagt hatten.
Aber plötzlich fiel mir ein, dass Antonia von Waldeck es schon damals vorgeschlagen hatte: »Komm uns besuchen. Wir haben viel Platz, du kannst reiten und schwimmen und einfach mal ausspannen. Meine Nichte ist in deinem Alter.«
Ich hatte es komplett vergessen, aber Papa musste es sich gemerkt haben. Am 27. Juli, nur einen Tag nach dem Angriff auf Hannover, hatte er Antonia aus dem Hut gezaubert wie Houdini das weiße Kaninchen. Dabei wusste er genau, dass er auf mich nicht verzichten konnte. Wie sollte ich mich in Waldeck sicher fühlen (was immer das in diesen Tagen noch bedeutete), ohne zu wissen, ob er zurechtkam? Ob die Lehmann Wort hielt und sich um ihn kümmerte, und wozu das wiederum führen mochte.
»Glaubst du, das war meine Idee?«, fuhr ich meine Freundin beinahe an. »Ich bin nicht einmal gefragt worden!«
»Das«, meinte Gitti immer noch zweifelnd, »sieht deinem Vater aber gar nicht ähnlich …«
Da hatte sie recht. Die letzten zweieinhalb Jahre war ich zu Hause der Chef gewesen, das wusste jeder, und plötzlich brach es aus mir heraus: »Er meint, er kann mich nicht mehr beschützen. Kannst du mir verraten, was das heißen soll? Ich bin es doch, die auf uns beide aufpasst! Wenn ich am Montag nicht gewesen wäre …«
Ich brach ab. Dass mein Vater und ich bei dem Angriff vor drei Tagen nicht im Luftschutzkeller gewesen waren und wieso und warum, davon schaffte ich es einfach nicht zu sprechen. Nicht einmal mit meiner besten Freundin, obwohl ich es mir fest vorgenommen hatte.
»Vielleicht«, sagte Gitti leise, »haben wir ja Glück, und das alles ist bald vorbei.«
Das alles. Diese Worte benutzte fast jeder; es gab mittlerweile einfach zu viele Dinge, die hoffentlich bald vorbei waren, als dass man sie noch einzeln aufzählen konnte.
Gitti und ich standen vor dem Trümmerhaufen, der bis vor drei Tagen unsere Markthalle gewesen war, und konnten, während wir uns über unsere eigenen »Dinge« unterhielten, eine ganze Reihe fremder »Dinge« miterleben, ohne uns auch nur vom Fleck rühren zu müssen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite durchforsteten ehemalige Bewohner die Ruine ihres Hauses nach noch brauchbaren Möbeln und Kleidungsstücken. Was sie retten konnten, luden sie in einen kleinen Holzkarren, der von zwei Knirpsen bewacht wurde. Weiter hinten räumten Kriegsgefangene, die wir eben noch in langer Reihe an uns hatten vorbeimarschieren sehen, zusammen mit Anwohnern Trümmer von der Straße. Ein Postbote, per Fahrrad unterwegs, trug ersehnte und gefürchtete Botschaften aus.
Ich hasste Briefe schreiben, und ich würde es hassen, auf Briefe zu warten. Bisher hatte ich alle, die mir etwas bedeuteten, in meiner Nähe gehabt – ganz im Gegensatz zu Gitti und so vielen meiner Schulkameraden, deren Väter an der Front waren. Nun würde auch ich zu denen gehören, die auf Briefe warten mussten, um zu erfahren, ob es meine Leute noch gab.
Der Krieg dauerte schon fast vier Jahre; komisch, dass man trotzdem nie damit gerechnet hatte, dass er auch bei uns in Hannover ankommen würde.
»Wann fährst du?«
»Morgen früh.«
Eine bedrückende Pause entstand. Was sollte Gitti auch groß sagen?
Schließlich sagte sie: »Ich verabschiede mich nicht. Wir schreiben uns ja«, und nach kurzem Nachdenken: »Dann lade ich zu meinem Geburtstag eben noch Marlies ein.«
Nicht besonders nett von ihr, fand ich: mich darauf aufmerksam zu machen, dass das Leben zu Hause weitergehen würde, wenn ich weg war! Aber wie sollte ich es ihr übelnehmen? Nach vorne denken lautete eine weitere Parole, die man an jeder Straßenecke hören konnte.
Und es war ja keineswegs so, als ob ich das nicht gern versucht hätte – es funktionierte bloß einfach nicht. Ab morgen nicht mehr neben Gitti sitzen zu können oder in meiner Stadt unterwegs zu sein lag völlig außerhalb meiner Vorstellung. Das Einzige, was ich mich in Zukunft tun sehen konnte, war Briefe schreiben. Auf Briefe warten. Beides hassen.
»Dabei habe ich schon dein Geschenk.«
Gittis Schultern sanken herab. »Ach, Lotte, so ein Schiet. Was sagt denn deine Tante?«
»Die weiß es noch nicht …«
»Bestimmt freut sie sich für dich. Bomben fallen da oben jedenfalls nicht. Heißt Ostpreußen nicht Reichsluftschutzkeller?«
»Nein, damit ist Pommern gemeint, Ostpreußen ist im letzten Krieg ganz schön zerschossen worden. Ostpreußen ist bloß die Reichskornkammer.«
»Aha! Genug zu essen gibt es also. Stell dir nur vor – ein Ei zum Frühstück! Wieder mal ein Schnitzel!« Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf. »Vielleicht kann ich dich ja besuchen.«
»Bestimmt! Dann halten wir eine Fressorgie.«
Gitti strahlte. Ab sofort kannte sie jemanden in der Reichskornkammer! Ob sie sehr enttäuscht wäre, wenn ich morgen den Zug verpasste …? Das hatte ich mir nämlich in der Nacht zuvor überlegt: Papa auf Wiedersehen zu sagen und einfach eine Station weiter wieder auszusteigen.
Aber bei Licht betrachtet, war das kein guter Plan. Papa würde mir auf der Stelle eine neue Fahrkarte kaufen und sich diese von Geld absparen, das ohnehin knapp war. Auch damit hatte er übrigens argumentiert: Für ihn allein würde unser Geld länger reichen. Das war eine ziemlich miese Karte gewesen, die ich ihm übelnahm.
Apropos übelnehmen: Irrte ich mich oder fing Gitti gerade an, sich darüber zu freuen, dass ich wegfuhr? »Vielleicht kannst du ja ab und zu ein Paket schicken«, schlug sie vor.
Ich war die Anhänglichere von uns beiden, das spürte ich in solchen Momenten deutlich. Wenn wir gestritten hatten, war immer ich es, die umfiel und die Hand ausstreckte – und dass wir selten stritten, hing möglicherweise damit zusammen, dass ich in der Regel schon vorher umfiel. Wie jetzt.
»Ich könnte den Paketen an Papa etwas für dich beilegen.«
»Ach, Lotte, das wäre phantastisch!«
Der Abschiedsfrieden war gewahrt. Die Einzige, die bei Gittis und meiner letzten Umarmung ein komisches, heimlich enttäuschtes und verratenes Gefühl hatte, war ich.
Nun blieb nur noch Tante Fips, und ich hatte es gewusst: Der Weg durch die zerstörte Stadt würde schlimm werden. Am Dienstag und Mittwoch hatte ich mich nur ein kleines Stück weiter vorgewagt, nicht nur weil ich fürchtete, einen Augenzeugen aus der Apotheke wiederzutreffen, sondern auch weil man vor jeder Ecke unwillkürlich den Atem anhielt: Gab es diese Straße noch, jenes Geschäft; wie sahen die Häuser aus, in denen Mitschüler wohnten? Es waren Ferien, und ich hatte keine Ahnung, ob vielleicht sogar jemand von uns gestorben war. Allein der Gedanke wäre mir bis vor drei Tagen nie gekommen.
Dabei hatte es früher schon Angriffe auf Hannovers Industriegebiete gegeben, Fliegeralarm waren wir längst gewohnt. Nahmen feindliche Bomber Kurs auf Berlin oder Hamburg, mussten nämlich auch wir in den Keller. Hoch über uns hörte man es dann dröhnen, hielt den Atem an und dachte an die, die es in den nächsten Stunden erwischte.
Aber diesmal, nur einen Tag nach dem Feuersturm in Hamburg, waren tatsächlich wir dran gewesen. Dabei hatten sich die Hannoveraner immer so sicher gefühlt. Die Engländer und wir waren praktisch verwandt; unsere Könige waren auch mal die ihren.
Dass Amis die Angreifer gewesen waren und nicht die Briten, war ein gewisser Trost: Es konnte bedeuten, dass die Bombardierung der Altstadt ein Versehen gewesen war oder nicht mit den Tommys abgestimmt. Wahrscheinlich war die Conti das eigentliche Ziel gewesen, unsere große Reifenfabrik, über der ja auch die meisten Bomben heruntergekommen waren.
Vor dem Schaukasten der Hannoverschen Zeitung drängten sich die Leute und lasen stumm und aufmerksam, als müssten sie sich noch einmal davon überzeugen, was sie erlebt hatten. Was in der Zeitung steht, glaubt sich leichter.
Der Blick umher war schwerer zu begreifen. Die Oper war abgebrannt, den Turm der Marktkirche hatte ich selbst zusammenstürzen sehen, die Georgstraße war einfach weg. Jahrhundertealte, vertraute Gebäude, binnen zwanzig Minuten reduziert auf einen Haufen Steine, Scherben und verkohlte Dachbalken. Leute mit leeren Einkaufstaschen standen fassungslos vor der Ruine von Café Kröpcke und wussten nicht, wohin.
Über unser Stadtbild hatte ich mir früher nie Gedanken gemacht; erst jetzt, wo große Teile der Altstadt als trübseliger Haufen Geröll im Weg lagen, ging mir auf, wie schön es hier bis vor ein paar Tagen gewesen war und wie viel Mühe und Sorgfalt unsere Vorfahren darauf verwendet hatten, Hannover zu etwas Besonderem zu machen. Unsere Altstadt...
Erscheint lt. Verlag | 26.9.2018 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | 2. Weltkrieg • Biografien • Biographien • Drittes Reich • Erste Liebe • Flucht • Geschichte • Gestüt • Historischer Roman • Krieg • Lilly unter den Linden • Marion Gräfin Dönhoff • Masuren • Nationalsozialismus • Ostpreußen • Pferde • Pferdebuch • Rote Armee • Schnee • Trakehner • Vertreibung • Winter |
ISBN-10 | 3-7336-5060-3 / 3733650603 |
ISBN-13 | 978-3-7336-5060-5 / 9783733650605 |
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