Anders als wir -  Rindert Kromhout

Anders als wir (eBook)

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2018 | 1. Auflage
304 Seiten
mixtvision (Verlag)
978-3-95854-865-7 (ISBN)
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Angelica wächst in einer Welt voller Freiheit, Kunst und Kultur auf. Sie wird ermutigt, ihren eigenen Weg zu gehen, sich selbst zu behaupten. Doch in dem Moment, wo sie beginnt, Freundschaften mit Gleichaltrigen zu schließen, entdeckt sie eine ihr unbekannte 'normale Welt'. Erst jetzt fällt ihr auf, welch ungewöhnliches Leben ihre Familie führt. Sie beginnt sich nach Normalität zu sehnen, denn zu viel Freiheit kann auch bedrückend sein.

Kapitel Eins

Virginia war verschwunden! Virginia Woolf, meine Tante, die Schriftstellerin, meine Lehrmeisterin, unsere Freundin. Sie war weg.

Ihr Gärtner rief uns an.

»Mr Woolf sucht sie schon überall«, sagte er zu Duncan.

Meine Mutter legte den Pinsel zur Seite. »Ich muss nach Rodmell. Hol das Auto.«

Duncan zog seine Jacke an.

»Wie, verschwunden?«, fragte ich.

»Keine Ahnung, Quentin«, sagte meine Mutter und lief hinaus. Wir rannten hinterher.

»Wo ist Virginia denn hin?«, fragte Angelica.

»Das weiß ich nicht.« Es klang schnippisch. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie hatte den Pinsel nicht ausgewaschen.

»Wir kommen mit«, sagte Angelica.

»Nein!« Meine Mutter runzelte die Stirn. »Hm, na gut.«

Duncan fuhr das Auto vor. Wir stiegen ein. Angelica und ich setzten uns auf die Rückbank.

Zwei Wege führten nach Rodmell, wo Virginia und Leonard wohnten. Der eine über die nördliche Landstraße bis Lewes und weiter über einen schmalen Weg nach Süden, der andere über einen matschigen Feldweg Richtung Küste, danach über die Drehbrücke am Fluss weiter Richtung Norden. Wir nahmen die Landstraße.

Duncan fuhr schnell. Meine Mutter saß neben ihm und starrte schweigend aus dem Fenster.

»Was meinte der Gärtner mit ›verschwunden‹?«, fragte ich.

»Weiß ich nicht.«

Angelica und ich sagten nichts mehr. Die angespannten Schultern meiner Mutter bedeuteten uns zu schweigen.

Als wir eine Viertelstunde später in Rodmell ankamen, trafen wir Onkel Leonard im Garten hinter dem Haus, Monk’s House. Er saß auf einer Bank und hielt Virginias Spazierstock wie eine Waffe in der geballten Faust. »Den habe ich aus dem Fluss gefischt«, sagte er. Sein Rücken war noch krummer als sonst.

»Meine Güte!«, rief meine Mutter. »Und Virginia? Hast du sie gefunden?«

Leonard antwortete nicht. Nein, sagten seine Augen.

Angelica und ich schauten uns an. Was war nur los?

»Sie hat es schon früher tun wollen«, sagte Leonard. »Vor knapp zehn Tagen ist sie klitschnass von einem Spaziergang nach Hause gekommen. Es hat zwar geregnet, aber so nass, wie sie war – da stimmte etwas nicht. Sie sah aus, als wäre sie in einen Bach gefallen. Sie war völlig verstört.«

Er redete hektisch und schnell, bei jedem Wort spürte man seine Angst. Ich wurde nervös.

»Und warum erzählst du mir das erst jetzt?«, fragte meine Mutter.

»Ich habe versucht, sie zu beruhigen. Aber sie lehnte es ab, sich hinzulegen. Sie sagte, dass ihr nichts fehle und dann wollte sie wieder raus, einen Spaziergang machen. Ich begleitete sie. Als wir durch das Dorf gingen, sah uns ein Mann, der dachte, wir wären Flüchtlinge aus London, Opfer der deutschen Bomben. Er lud uns im Pub zu einer Tasse Tee ein. So elend sah Virginia aus. Darüber konnte sie immerhin lachen. Sie lacht ja kaum noch in der letzten Zeit. Ich hätte sie nicht allein lassen dürfen.«

Meine Mutter setzte sich neben ihn. Sie legte ihre Hand auf den Spazierstock. Wir blieben stehen. Überrumpelt von dem, was ich sah und hörte und fühlte, suchte ich nach Worten, doch Angelica war schneller. »Mama …«

»Sie hat mir einen Abschiedsbrief hinterlassen«, sagte Leonard.

Meine Mutter starrte ihn an. »Einen Abschiedsbrief? Was steht drin?«

»Ihre Schaftstiefel und der Pelzmantel sind auch weg.« Leonard sprach einfach weiter. »Darüber hat sie wohl gut nachgedacht. Wenn sie ins Wasser geht, laufen die Stiefel voll und der Pelz saugt das Wasser auf. Sie wird schwer wie Blei und …«

Angelica hielt sich an mir fest. »Mama …«, sagte sie noch einmal.

»Was steht in dem Brief?«, fragte meine Mutter.

»Sie will, dass ich all ihre Papiere vernichte.«

»Darf ich ihn lesen?«

Leonard stand auf. Meine Mutter erhob sich ebenfalls. Leonard war ein dünner Mann und über einen Kopf größer als meine Mutter. Er musste sich bücken, als sie durch die niedrige Hintertür in Haus gingen.

Duncan hielt Angelica und mich auf. »Lasst sie.«

»Virginia muss ziemlich verwirrt sein«, sagte meine Mutter, als sie wieder in den Garten kamen. »Wir müssen sie suchen. Alle. Bringt sie hierher zurück, wenn ihr sie findet.«

»Ja«, sagte ich. »Aber …«

»Warum ist sie weggelaufen?«, fragte Angelica.

»Weiß ich nicht.« Wieder dieser abweisende Ton.

»Ich bleibe hier«, sagte Leonard. »Wenn sie ein leeres Haus vorfindet, bricht sie erst recht zusammen. Ich muss die Polizei anrufen.«

Wir ließen ihn allein.

Duncan und meine Mutter gingen zum Fluss, dorthin, wo Leonard den Spazierstock gefunden hatte. Angelica und ich wollten ihnen folgen, doch meine Mutter meinte, wir sollten dort drüben suchen. Sie deutete auf einen Hügel.

»In Ordnung«, sagte ich. »Wir rufen euch sofort, wenn wir sie finden.«

Wir stiegen den Hügel hinauf. Es war März. England war grau. Ein Bauer pflügte gerade seinen Acker, Möwen folgten ihm kreischend. Ein Schwarm kleiner Vögel flog vorüber.

Erst jetzt, wo meine Schwester und ich unter uns waren, fuhr mir der Schrecken richtig in die Glieder.

»Ich habe Angst«, sagte Angelica.

»Ich auch. Ich hoffe, wir finden sie.«

»Weißt du, was sie mich letzte Woche gefragt hat?«, sagte Angelica. »Sie fragte: ›Hast du mich lieb, Pixerina?‹«

»Hm.« Ich ging nicht darauf ein. Ich war viel zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt. War Virginia tot? Hatte sie wirklich Selbstmord begangen? Aber warum?

Natürlich war mir aufgefallen, dass sie in der letzten Zeit ziemlich deprimiert gewesen war, aber das war nicht ungewöhnlich. Sie war immer bedrückt, wenn sie ein Buch beendet hatte. Dann fühlte sie sich leer und erschöpft und war davon überzeugt, dass sie ein sehr schlechtes Buch geschrieben hatte. Aber diese Niedergeschlagenheit verging immer, wenn Leonard das Manuskript gelesen hatte und sagte, der Roman würde ein Erfolg werden. War es dieses Mal anders gewesen? Was hatte Leonard zu dem neuen Buch gesagt?

Vom Hügel aus konnten wir in alle Richtungen blicken. Wir sahen karge Äcker, kahle Bäume, Fußpfade, die quer über die Felder verliefen, Schafe, einen niedergebrannten Heuhaufen und den Fluss, gerade wie ein Kanal, der Richtung Küste floss. Dort stand Duncan, den Arm um die Schulter meiner Mutter gelegt. Sie starrten auf das Wasser. Virginia war nirgends zu entdecken.

»Vielleicht ist sie nach Hause gegangen«, sagte Angelica.

»Ja, vielleicht.«

Wir stiegen den Hügel hinunter und liefen zum Fluss. Es hatte keinen Sinn, noch länger zu bleiben. Hier war sie nicht. Wir gingen zurück.

Monk’s House war ein kleines, weißes Haus mit riesigem Garten. Wir liefen wie immer um das Haus herum, denn die Eingangstür wurde nie benutzt. Mein Lieblingsplatz war die kleine Steintreppe, die man hinuntergehen musste, um durch die Hintertür ins Haus zu gelangen. Bei starkem Regen rann das Wasser die Treppe hinab und ins Haus hinein. Pfützen bildeten sich dann auf dem Fliesenboden. Früher, als Kind, ging ich immer in die Hocke, um sie mir anzuschauen.

Das Haus war voller Bücher. Virginia schrieb sie, Leonard veröffentlichte sie. Er publizierte nicht nur Virginias Romane, sondern auch die von anderen Schriftstellern, die in Monk’s House ständig ein und aus gingen. Eigentlich war hier fast immer ein Schriftsteller oder Dichter zu Besuch. Heute nicht. Leonard war allein und saß wie immer im Garten.

»Weißt du was Neues?«, fragte meine Mutter.

»Ich habe einen zweiten Brief gefunden«, sagte Leonard. »Er ist für dich, Vanessa.«

Meine Mutter ging ins Haus. Durch das Fenster beobachtete ich, wie sie den Umschlag aufriss. Wir gingen zu ihr.

»Was steht drin?«, fragte Angelica.

Meine Mutter steckte den Brief in die Jackentasche. »Dass sie uns liebt.«

»Sonst nichts?«

»Später«, sagte meine Mutter. »Nicht jetzt.«

»Aber Mama …«

»Ich sagte, nicht jetzt.«

Das neue Dienstmädchen brachte Tee.

An diesem Abend blieben wir alle in Monk’s House. Es war zu dunkel, um noch einmal auf die Suche zu gehen. Auch mein Vater war gekommen. Von Virginia fehlte immer noch jede Spur. Aber wenn sie zurückkäme, wollten wir für sie da sein. Und wenn sie nicht zurückkäme …

Ich sah zu Onkel Leonard hinüber, dessen Hände reglos im Schoß lagen. Er saß meinem Vater gegenüber. Cäsar, das Krallenäffchen, hockte auf seiner Schulter. Virginias Spazierstock lehnte in einer Zimmerecke. Die Uhr über dem Kamin tickte. Pinker stand schwanzwedelnd an der Eingangstür.

»Sie ist meine kleine Schwester«, sagte meine Mutter.

»Sie ist meine Lieblingstante«, sagte Angelica.

Ich wollte auch etwas sagen, fürchtete aber, dass mir die Stimme versagen würde.

Leonard ging zu seinem Schreibtisch und zeigte uns einige eng beschriebene Blätter. Ich erkannte Virginias Handschrift.

»Daran hat sie gearbeitet«, sagte er. »Eine Geschichte über ihre Kindheit, für den Memoir Club. Sie ist umwerfend. Ihr neues Buch ist auch umwerfend.«

Der Memoir Club, das waren wir und unsere Freunde. Alle paar Monate trafen wir uns, um selbst geschriebene Geschichten oder Briefe über verschiedenste Ereignisse, die uns passiert waren, vorzulesen. All diese Erinnerungen sollten die Lebensgeschichte von uns und den Menschen, die wir liebten, werden. In den Geschichten für den Memoir Club erzählten wir einander, wer wir waren.

In unserer Familie wurde viel geschrieben, im Grunde fast jeden Tag und von beinahe jedem. Ich denke, die meisten von uns waren...

Erscheint lt. Verlag 20.8.2018
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch
ISBN-10 3-95854-865-2 / 3958548652
ISBN-13 978-3-95854-865-7 / 9783958548657
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