Schlechter als morgen, besser als gestern (eBook)
374 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-11269-2 (ISBN)
Lisa Alther, Schriftstellerin, wurde 1944 in Tennessee geboren.
Lisa Alther, Schriftstellerin, wurde 1944 in Tennessee geboren.
I
1
Caroline stellte den Motor ihres roten Subaru ab, klammerte sich mit beiden Händen ans Lenkrad und blickte über den Parkplatz zum Lake Glass hinab. Regentropfen rollten wie Tränen die Windschutzscheibe hinunter und tropften von den kahlen grauen Zweigen auf den Platz. «Gott weint», hatte sie an regnerischen Tagen in Brookline ihren jüngeren Brüdern immer erklärt. «Wegen all der traurigen und leidenden Menschen auf der Welt.» Blätter, die einmal lebendig gewesen waren, lagen jetzt in durchnäßten Haufen um die Baumstämme herum. Lake Glass sah im verblassenden Nachmittagslicht kalt aus. Man konnte sich kaum vorstellen, daß vor etwa zwei Monaten Motorboote noch Wasserskifahrer über den See gezogen hatten. Segelboote waren über ihn geglitten. Schwimmer hatten dieses trübe Gewässer durchpflügt, und Angler hatten untätig am Ufer herumgesessen. Bald würde der See zufrieren, so wie sich die chemischen Lösungen in den Reagenzgläsern damals zu Kristallen verwandelten – bei den Laborexperimenten während ihrer Schwesternausbildung in Boston.
In ihrem Traum letzte Woche war der See schon zugefroren gewesen, und überall auf dem Eis lagen Menschenköpfe verstreut, kilometerweit, die Münder weit aufgerissen zu einem tonlosen Schrei. Gesichtslose Männer in Soldatenuniform marschierten zwischen den Köpfen hindurch und blieben gelegentlich stehen, um manche von ihnen mit blutigen Äxten zu spalten. Das Eis war bedeckt mit Gehirnen und geronnenem Blut und Knochensplittern, es sah aus wie der Boden eines Schlachthofs. Caroline erwachte mit aufgerissenem Mund, ihr Haar naß von Schweiß. Einen Augenblick lang war sie unfähig, sich zu bewegen oder zu denken. Allmählich begriff sie, daß sie in ihrem eigenen Bett lag, in dem kleinen Holzhaus in New Hampshire, in dem sie mit Diana wohnte. Sie stand auf und ging ins Nebenzimmer. Ihre Söhne und Arnold, der junge schwarze Labradorhund, schliefen fest und atmeten deutlich hörbar. Diana und ihre Tochter Sharon schliefen oben. Caroline rieb mit dem großen Zeh bei Jackies und Jasons Etagenbett über den Fußboden. Holz, kein Eis, und die Köpfe der Jungen waren offensichtlich noch am Hals angewachsen.
Am nächsten Tag wurde ein kleiner Junge auf die Unfallstation gebracht; sein Hinterkopf war gespalten, seine hellbraunen Haare mit Blut verklebt. Sein Vater hatte ihn an den Füßen gepackt und gegen die steinerne Kante eines offenen Kamins geschlagen, weil er auf dem Teppich Dreckspuren hinterlassen hatte. Caroline starrte auf die Wunde, der Unterkiefer fiel ihr herunter, und sie war wie gelähmt. Brenda, deren Namensschild, das sie an der Tasche ihrer Uniform befestigt hatte, wie ein Ambulanzwagen aussah, war viel zu sehr damit beschäftigt, die verfilzten Haare abzuschnippeln, als daß sie Carolines Erstarrung bemerkt hätte. Aber Caroline war nun endgültig klar, daß sie etwas unternehmen mußte. Nachts in Panik aufzuwachen, das ging ja noch, aber wenn sie nicht mehr fähig war, ihre Arbeit zu machen, dann war das noch etwas anderes. Sie hatte zwei Söhne und keinen Mann, sie mußte Geld nach Hause bringen. Selbst wenn sie sich viel lieber zwischen den Fischen am Grunde des Sees gewiegt hätte, Seetang zwischen den Haaren, die Eisdecke über sich, die wie eine immer dicker werdende Haut jede Verbindung zu dieser ekelhaften Welt abschneiden würde, auf der die Menschen sich gegenseitig mit Vergnügen folterten und verstümmelten.
Ein paar Wochen davor, als sie gerade in dem Wald neben ihrem Haus Brennholz hackte, beobachtete sie einen Mann in Wasserstiefeln, einem rotkarierten Hemd und einer grünen Schildmütze, der über die braune Wiese zum Seeufer ging. Er trug einen Hügel kleiner Steine zusammen. Dann ließ er einen Stein nach dem anderen in seine Gummistiefel fallen – und stapfte in den See. Erst als sein Kopf verschwand und nur noch die grüne Mütze auf dem grauen Wasser schwamm, begriff Caroline, was er vorhatte. Sie brauchte eine Weile, um ihre Bewunderung abzuschütteln, ins Haus zu rennen und den Rettungsdienst anzurufen. Mehrere Stunden lang saß sie dann auf dem Hügel und beobachtete die Taucher, die den Grund des Sees absuchten, amphibische Wespen mit ihren glänzenden schwarzen Taucheranzügen und den gelben Sauerstofftanks. Der Mann war schlau gewesen: dies war die tiefste Stelle des Sees. Die Felskante fiel steil ab, das eiskalte Wasser war weit über hundert Meter tief. Ein graues Polizeiboot zog langsam seine Kreise und zog Rettungshaken hinter sich her, die schneebedeckten White Mountains bildeten die Kulisse. Am Rand des Sees saßen Verwandte, die neben zerbeulten Chevrolets Kentucky Fried Chicken verspeisten. Ein mongoloides Kind torkelte am Ufer auf und ab und schrie jammervoll. Laßt ihn doch in Ruhe, dachte Caroline immer wieder. Um Himmels willen, laßt ihn in Ruhe. Sie bedauerte, daß sie überhaupt jemanden gerufen hatte.
Würde es wie ein Unfall aussehen, überlegte sie sich, wenn sie ihren Motor auf Hochtouren brächte und quer über den Parkplatz rasen würde, über die Klippen hinaus und in den See? Dann mußte sie an Jackie und Jason denken. Der hoch aufgeschossene, dünne, schüchterne Jackie, dessen Gelenke so beweglich waren wie die eines Hampelmanns und dessen Stimme sich jetzt manchmal überschlug. Und Jason, gebaut wie ein Panzerwagen und mit der entsprechenden Persönlichkeit. Jackson war völlig mit seiner zweiten Frau und mit neuen Kindern beschäftigt. Jackie und Jason hatten niemanden außer ihr. Sie müßte die beiden ebenfalls umbringen. Aber sie hatte viel zuviel Zeit und Mühe darein investiert, sie die ganzen Jahre über am Leben zu halten. Es käme ihr genauso unnatürlich vor, wie jeden September vor dem ersten Frost die grünen Tomaten zu pflücken.
Bevor Jackie und Jason existierten, nach Arlene und vor Jackson (sie benannte die verschiedenen Phasen ihres Lebens nach den Personen, die jeweils ihre Tage unterbrochen und ihre Träume beherrscht hatten; zur Zeit war sie gerade in ihrer Diana-Phase), hatte sie sich immer versichert, sie könne ja, falls die Abendnachrichten allzu schlimm würden, einen frühzeitigen Abgang machen. In ihrem Appartement in der Commonwealth Avenue standen auf der Kommode in Reih und Glied die Pillenflaschen, die sie aus dem Vorratsschrank des Massachusetts General Hospital gestohlen hatte, und sie betrachtete sie immer nachdenklich, wenn die Ereignisse auf der Unfallstation zu erdrückend wurden. Aber die Ankunft von Jackie und Jason hatte diesen Fluchtweg verriegelt. Sie hatte die Pillen noch, aber sie waren jetzt im Schrank verstaut, außer Reichweite der Kinder. Sie konsultierte die Flaschen nicht mehr täglich, um zu entscheiden, ob sie weiterhin an einer dermaßen enttäuschenden Welt teilhaben wollte.
Sie hatte alle üblichen Betäubungsmittel versucht: Ehe und Mutterschaft, Apfelkuchen und Monogamie, Bigamie und Polygamie; Konsumrausch, Kommunismus, Feminismus und Gott, Sex, Arbeit, Alkohol, Drogen und die wahre Liebe. Jedes Mittel tat eine Weile seine Wirkung, aber letztendlich hatten sie alle versagt und die Verzweiflung nicht wirklich besiegen können. Das einzige Mittel, das sie noch nicht ausprobiert hatte, war Psychotherapie. Leute, die in sozialen Berufen arbeiteten, sollten sich eigentlich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen. Aber sie hatte sich neuerdings eingestehen müssen, daß sie nichts hatte, woran sie ziehen konnte. Deshalb saß sie hier auf dem Parkplatz des Therapiezentrums Lake Glass, plante ihren Selbstmord und war zu spät dran für ihren ersten Termin.
Sie stieg aus und ging an einem kupferfarbenen Mercury vorbei, dessen Rücklicht zerbrochen war. Rote Glasstückchen knirschten unter ihren Stiefeln, als sie zum Eingang des großen graubetürmten Gebäudes ging, das als Gästehaus gedient hatte, als die Stadt zu Beginn des Jahrhunderts noch eine Sommerkolonie für Boston gewesen war.
«Ich habe einen Termin bei Hannah Burke», sagte eine junge Frau mit schwachem irisch-Bostoner Akzent zu Holly, der Sprechstundenhilfe.
Hannah, die hinter Holly stand, blickte von ihrem Telefongespräch auf. Der Mund der Frau war angespannt, ihr Blick unruhig und verwirrt. Mein Gott, so viel Schmerz, dachte Hannah. Aber immerhin ist sie attraktiv, wenn ich sie mir jetzt wer weiß wie viele Monate lang ansehen muß. Die Frau kam ihr bekannt vor, aber Hannah konnte sie nicht einordnen. Sie legte die Hand auf den Telefonhörer und sagte: «Tag, ich bin Hannah. Ich komme gleich.» Sie erinnerte sich an die Stimme der Frau von ihrem Telefongespräch letzte Woche – leise, höflich, entschuldigend … und ein bißchen angriffslustig. Nachdem sie um einen Termin gebeten hatte, sagte Hannah eine Weile nichts und wartete ihre eigene Antwort ab. Sie wußte nie genau, warum sie Leuten zu- oder absagte. Vermutlich ein instinktives Gefühl dafür, ob sie mit jemandem arbeiten konnte oder nicht. Wenn du Fehlschläge aussortierst, bevor du sie überhaupt annimmst, kannst du deine Erfolgsrate steigern und dich kompetenter fühlen. Aber diesmal sagte sie ja. Wenn diese Frau sich die Mühe gemacht hatte, sie ausfindig zu machen, dann hatte das wahrscheinlich seine Gründe, denn Hannah glaubte nicht an Zufälle.
Außer an solche wie heute morgen, als das Rücklicht ihres neuen Mercury kaputtgegangen war. Am Telefon fragte sie, wieviel es kosten würde, das Licht zu ersetzen. Sie war auf dem Parkplatz rückwärts in Jonathans Scout gefahren, während sie versuchte, die Gereiztheit zu unterdrücken, die sie immer an den Tagen empfand, an denen ein neuer Klient kommen sollte. Es war ein rein mechanischer Vorgang: Ihre Alltagsroutine wurde durch ein unvorhersagbares Element durchbrochen. Aber jedesmal war dieses Gefühl der Gereiztheit sehr real und persönlich, und heute morgen hatte sie sich sehr...
Erscheint lt. Verlag | 17.8.2018 |
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Übersetzer | Adelheid Zöfel |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Depressionen • Frauen • Leben • Liebe • Schmerz • Trennung |
ISBN-10 | 3-688-11269-5 / 3688112695 |
ISBN-13 | 978-3-688-11269-2 / 9783688112692 |
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