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Sophies Tagebuch (eBook)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
416 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-30024-8 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
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Ein Geheimnis aus dunklen Zeiten Berlin zur Zeit des Mauerfalls: Erika zur Linde erfährt, dass ihr Vater Ulrich sich überraschend an seinem Schreibtisch erschossen hat. Als sie in seinem Nachlass stöbert, fällt ihr das Tagebuch ihrer Mutter Sophie in die Hände. Gebannt fängt sie an zu lesen und stößt dabei auf einen gewissen Felix Auerbach: einen blonden, attraktiven Juden und Schulfreund ihres Vaters. Während Ulrich als Offizier in den Krieg musste, hielt Sophie Auerbach bei sich versteckt, dabei geriet die Welt der regimetreuen Neunzehnjährigen ins Wanken - in mehr als einer Beziehung. Was Erika bei ihren Nachforschungen erfährt, bringt alles in Gefahr: ihr Erbe, den Ruf ihres Vaters und nicht zuletzt ihre eigene Identität.

Nicolas Remin wurde 1948 in Berlin geboren. Er studierte Literatur, Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin und Kalifornien und arbeitete im Anschluss als Synchronautor und Sychronregisseur. Seine 'Commissario Tron'-Serie historischer Kriminalromane umfasst sieben Bände. Der Autor starb im Dezember 2023.

Nicolas Remin wurde 1948 in Berlin geboren. Er studierte Literatur, Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin und Kalifornien und arbeitete im Anschluss als Synchronautor und Sychronregisseur. Seine "Commissario Tron"-Serie historischer Kriminalromane umfasst sieben Bände. Der Autor starb im Dezember 2023.

3


Sonntag, 8. Oktober 1989

Am Tag der Beerdigung ist es nach ein paar kühlen Regentagen spätsommerlich warm. Gestern haben Honecker und Gorbatschow an der Karl-Marx-Allee eine Militärparade zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR abgenommen. Als sich ein paar tausend Personen protestierend auf den Weg zum Palast der Republik gemacht haben, wurden sie an der Spreebrücke von einer Polizeikette abgefangen. All dies geschah, während ich mir auf der anderen Seite der Mauer einen dunkelblauen Mantel kaufte. Ich besitze nur Parkas, und so will ich nicht zur Beerdigung gehen. Mein Vater hat meinen legeren Stil immer missbilligt.

Um halb elf bin ich mit der Kehl am Eingang des Friedhofs verabredet. Es dauert einen Moment, bis ich sie erkenne, denn anders als in ihrer geblümten Kittelschürze habe ich die Kehl noch nie gesehen. Sie trägt einen dunkelgrauen Mantel mit kleinem Pelzkragen und ist sorgfältig geschminkt. Wieder frage ich mich, ob sie – das ist ja mein Albtraum – womöglich im Testament meines Vaters berücksichtigt worden ist.

Der Notar ist Anfang nächster Woche wieder in Berlin, erst dann werde ich es erfahren. Mit seiner Sekretärin habe ich für nächsten Dienstag einen Termin vereinbart. Ich selber fühle mich in meinem ungewohnten Aufzug unbehaglich. Der Stoff meines gestern gekauften Mantels ist so steif, dass er nicht weich von den Schultern herabfällt, sondern brettartig absteht. Auch die Entscheidung, ein Kleid zu tragen, erweist sich als unglücklich, denn meine schwarzen Strümpfe betonen meine großen Füße.

Ein ansteigender, von niedrigen Hecken eingefasster Weg führt vom Eingang des Friedhofs zur Kapelle hinauf. Da mein Vater weder Bekannte noch Freunde hatte, bin ich davon überzeugt, dass die Kehl und ich die einzigen Trauergäste sein werden. Doch vor dem Eingang steht ein Dutzend älterer Herren mit ihren Gattinnen, und als ich mich umblicke, sehe ich, dass weitere Trauergäste im Anmarsch sind. Den Pfarrer erkenne ich schon von weitem, er trägt die Dienstkleidung protestantischer Pastoren, einen schwarzen Anzug und einen schwarzen Pullover mit rundem Ausschnitt, aus dem weiße Kragenecken ragen. Wir stehen noch zehn Minuten in der Sonne neben der Kapellentür, und während gelbe Blätter auf uns herabwehen, berichte ich den Umstehenden vom Herzinfarkt meines Vaters. Das ist die Version, auf die ich mich mit der Kehl geeinigt habe, die offizielle Version. Ein technischer Unfall würde zu Nachfragen führen, ein emotionaler Unfall zu noch mehr Nachfragen.

Als wir um elf unsere Plätze in der ersten Reihe der Kapelle einnehmen, sind alle Bänke besetzt. Der Sarg meines Vaters ist aus dunklem, fast schwarzem Eichenholz und üppig mit weißen und roten Nelken bedeckt. Das gibt der Dekoration einen nationalen Einschlag. Der Pfarrer spricht von der Herkunft meines Vaters aus einem «alten Soldatengeschlecht», von seiner Potsdamer Kadettenzeit und seinen Kriegsjahren, die er «mit reinem Schild» absolviert habe. Er erwähnt auch die Nachkriegszeit und sein «jahrelanges Ringen» um sein Werk. Ein «grausamer Schicksalsschlag» habe ihn aus der «Blüte des Lebens» gerissen und seine Tochter und seine Freunde in tiefer Trauer zurückgelassen.

Als ich nach dem Ende der Beerdigung mit der Kehl zum Ausgang des Friedhofs laufe, rollt ein Mann in einem Rollstuhl langsam auf uns zu. Auf beiden Seiten des Stuhls verlaufen ein halbes Dutzend Räder aus Gummi, vermutlich jedes mit einer unabhängigen Aufhängung, sodass er erschütterungsfrei über unebenes Gelände fahren kann. Auf der linken Seite ist ein Sauerstoffzylinder festgezurrt, ein Schlauch führt zu einer Sauerstoffmaske, die auf dem Schoß des Mannes liegt. Der Rollstuhl gibt beim Rollen ein seidiges Flüstern von sich, so als würde sich ein fliegender Teppich nähern.

Dem Rollstuhl folgt eine Frau mit slawischen Gesichtszügen, die einen teuren Pelz trägt. Ich schätze, dass sie mindestens zwanzig Jahre älter ist als ich. Ihren Gesichtsausdruck kann ich nicht deuten. Ich habe den Eindruck, dass sie das Manöver ihres Mannes missbilligt. Zwei Schritte hinter ihr, in respektvollem Abstand, steht ein jüngerer Mann mit einer Art Uniformmütze auf dem Kopf, vielleicht handelt es sich um den Chauffeur.

Obwohl der Mann im Rollstuhl einen dicken Mantel trägt, sehe ich, dass er spindeldürr ist. Er hat bläuliche Lippen und eine gelbliche, von schuppigen Flecken übersäte Haut. Ein paar spärliche Haare kleben an seinem kahlen Schädel. Bevor sein Rollstuhl vor mir anhält, presst er sich die Sauerstoffmaske an den Mund. Zur Beerdigung meines Vaters zu kommen muss ihn eine beträchtliche Anstrengung gekostet haben. Aber als er spricht, ist seine Stimme nicht das heisere Krächzen eines alten Mannes, sondern ein kräftiger und sanfter Bariton.

«Das tut mir leid mit Ihrem Vater», sagt er.

Anders als bei den meisten Menschen bleibt sein Blick nicht an meiner klobigen Brille hängen, sondern er betrachtet mein Gesicht. Seine grauen Augen sind hellwach.

Einen Moment lang bin ich verwirrt. «Sie kannten meinen Vater?»

Er lächelt amüsiert. «Das ist lange her.»

«Aus dem Krieg?»

Ich weiß nicht, warum ich «Krieg» sage. Vielleicht weil mir viele der älteren Herren, die zusammen mit ihren Ehefrauen auf die Beerdigung gekommen sind, wie ehemalige Kameraden meines Vaters vorkommen.

Über diese Frage muss der Mann nachdenken. «Mehr oder weniger», sagt er vage. «Wir haben uns später aus den Augen verloren.» Aus den Augen verloren hört sich fast so an, als hätten er und mein Vater sich irgendwann einmal gut gekannt. Dann fügt er etwas hinzu, das ich nicht verstehe. «Sie haben eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Ihrem Vater.»

Mein Vater war dunkelhaarig, untersetzt und ein wenig korpulent. Ich hingegen bin blond und war immer schlank. Auch unsere Gesichter sahen sich nie ähnlich. Ich kam eher nach meiner Mutter, allerdings ohne ihre Schönheit geerbt zu haben.

Vielleicht ist die Hand, welche die Frau jetzt ihrem Mann auf die Schulter legt, eine Warnung, das Thema nicht zu vertiefen – was immer das für ein Thema sein mag. Doch dann ist das Gespräch bereits beendet, denn der Mann greift nach seiner Atemmaske, die Frau dreht sich um und wechselt mit dem Chauffeur einen schnellen Blick. Das flüsternde Surren des Motors ist wieder zu hören, und der perfekt gefederte Rollstuhl bewegt sich zum Ausgang des Friedhofs. Auf dem Parkplatz werden die Frau und der Chauffeur den Mann und seinen Rollstuhl vermutlich in eine luxuriöse Limousine verfrachten.

Im Auto sitzt die Kehl schweigend neben mir. Sie hat sich vor dem Rückspiegel die Lippen nachgezogen, eine Spitze mir gegenüber, denn ich benutze nie Lippenstift. Der Tod meines Vaters hat uns nicht «in Trauer vereint». Ich werde sie ebenso wenig wiedersehen wie meinen Vater. Wir wollen gleich gemeinsam einen Gang durch alle Räume des Hauses unternehmen. Danach wird die Kehl mir die Schlüssel geben, und wir werden uns voneinander verabschieden. Als wir vor dem Haus parken, teilt sie mir mit, dass sich der Brief aus Amerika angefunden hat.

 

Er liegt auf dem Küchentisch, ein hellblauer Umschlag, auf dem zwei rosa Briefmarken mit dem Porträt Washingtons kleben. Absender ist ein gewisser Paul Singer aus Los Angeles. Der Name sagt mir nichts. Paul Singer hat den Brief in leicht fehlerhaftem Deutsch geschrieben, eine amerikanische Schreibmaschine benutzt und die fehlenden Pünktchen über den Umlauten nachträglich hinzugefügt.

Sehr geehrter Herr zur Linde!

Ich bin der Sohn von Anna Singer, geborene Auerbach. Meine Mutter ging im März 1940 nach Shanghai. Ihr Bruder, Felix Auerbach, blieb in Berlin und wurde später deportiert. Die Geschwister schrieben sich Briefe bis in den Herbst 1942. Daher weiß ich dass Sie meinem Onkel damals geholfen haben.

In der letzten Woche bin ich einer Frau begegnet, die meinen Onkel noch im Oktober 1943 gesehen hat. Sie heißt Dr. Sarah Spielrein, und wohnt in Berlin-Dahlem.

Sie haben 1947 meiner Mutter auf die Frage nach ihrem Bruders geantwortet, dass er Februar 1943 deportiert wurde. Ich glaube mein Onkel wurde NICHT deportiert! Vielleicht hat er nachdem er ist untergetaucht den Kontakt mit Ihnen gebrochen um Sie nicht in Gefahr zu bringen.

Ich würde gerne jemand sprechen, der meinen Onkel persönlich gekannt hat. Kann ich Sie besuchen? Ich bin in November in Berlin.

Yours, Paul Singer

Ich lese den Brief zum zweiten Mal, langsam, Wort für Wort, wie einen komplizierten Text in altem Französisch. Da fragt jemand nach seinem Onkel. Von dem hatte man gedacht, er wäre im Februar 1943 aus Berlin deportiert worden, doch eine gewisse Sarah Spielrein hatte ihn noch im Oktober 1943 getroffen. Singer schreibt: den Kontakt mit Ihnen gebrochen um Sie nicht in Gefahr zu bringen. Das kann nur bedeuten, dass es einen Kontakt zwischen meinem Vater und diesem Felix Auerbach gegeben hat. Aber in welchem Verhältnis standen die beiden?

Und bei Sarah Spielrein handelt es sich offenbar um eine Jüdin, die den Krieg im Untergrund überlebt hat und jetzt in Dahlem wohnt. Ich könnte sie anrufen und sie fragen, wer dieser Felix Auerbach war und auf welche Weise mein Vater ihm geholfen hat.

Über das Leben meines Vaters in diesen Jahren weiß ich nur wenig. Es hat mich auch nie interessiert. Selbst sein Buch über den Krieg habe ich nie gelesen. Als Berufsoffizier wird er nach dem Ausbruch des Krieges im September 1939 nur noch selten in Berlin gewesen sein. Wie konnte er da einem Juden geholfen haben? Und warum wurde dieser Felix Auerbach nie...

Erscheint lt. Verlag 23.10.2018
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Affäre • Berlin • Briefe • Erika zur Linde • Familiengeschichte • Felix Auerbach • Geheimnis • Judenverfolgung • Krieg • Mutter • Paul Singer • SS-Offizier • Tagebuch • Tochter
ISBN-10 3-644-30024-0 / 3644300240
ISBN-13 978-3-644-30024-8 / 9783644300248
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