Selbstbild mit russischem Klavier (eBook)
272 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1858-5 (ISBN)
Wolf Wondratschek wuchs in Karlsruhe auf. Von 1962 bis 1967 studierte er Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie an den Universitäten in Heidelberg, Göttingen und Frankfurt am Main. Seit 1967 lebte er als freier Schriftsteller zunächst in München. In den Jahren 1970 und 1971 lehrte er als Gastdozent an der University of Warwick, Ende der 1980er-Jahre unternahm er ausgedehnte Reisen unter anderem in die USA und nach Mexiko. Er lebt seit 1996 in Wien.
Wolf Wondratschek wuchs in Karlsruhe auf. Von 1962 bis 1967 studierte er Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie an den Universitäten in Heidelberg, Göttingen und Frankfurt am Main. Seit 1967 lebte er als freier Schriftsteller zunächst in München. In den Jahren 1970 und 1971 lehrte er als Gastdozent an der University of Warwick, Ende der Achtzigerjahre unternahm er ausgedehnte Reisen unter anderem in die USA und nach Mexiko. Gegenwärtig lebt er in Wien.
III
Du erinnerst dich?
Wien ist voller Russen, junge und alte, lebendige und tote, arme und reiche. Kaum geht das Telefon, schon ist wieder einer oder eine angekommen oder gegangen, für immer. Immer schön der Reihe nach, wie es eben geht. Und für jeden und jede habe ich einen letzten Gruß, eine Schaufel russischer Erde, ein Schäufelchen, ein Löffelchen. Ich habe genug Vorrat, einen Koffer voll.
Suvorin kichert vor sich hin. Ein letztes leichtes Löffelchen auch für mich.
Er schaut mit Vergnügen einer jungen Frau nach, die gerade vorbeigeht. Sehen Sie, sagt er, so haben sie ausgesehen, unsere Mädchen, nur schöner, viel schöner, sehr viel schöner. Jeder von uns hatte eine oder zwei, und jede war die Schönste. Wir waren nicht die, auf die Staatsbegräbnisse warten, aber wir hatten ein Leben. Sie liebten uns. Das schönste Mädchen von allen liebte einen, der schielte.
Sein Kichern klirrt vor Vergnügen.
Wir haben unsere Musen, um sie auf die Probe zu stellen, geheiratet, eine nach der anderen. Natürlich, man konnte Pech haben. Mehr abgelehnte Heiratsanträge als Symphonien. Mehr Tränen als Noten. Es brummt einem noch heute der Kopf. Da hatte einer auf einen Trauring gespart, nur um ihn, nach einem Machtwort des Brautvaters, versetzen zu müssen. Ich kannte einen, der mit einem Liebesbrief nicht zu Rande kam, was sich bis zu der Frau herumsprach, der er zugedacht war; die es lachend ihrem Mann erzählt haben soll. Einer verliebte sich in eine 15-jährige Dichterin, was ihn schlagartig altern ließ. Ich bin ihm Jahre später noch einmal in Paris begegnet, er kam in eines meiner Konzerte und danach ins Künstlerzimmer. Aber sonderbar, unsere erste Umarmung nach so langer Zeit war wie ein Abschied. Sein Gesicht wie Schnupftabak, die Stimme um eine Oktave zu tief, Blutstau unter den Augen, aber er war in Laune. Er war in Begleitung einer Frau erschienen, einer üppig ausgestatteten Deutschen, gute zwei Meter in Höhe und Breite. Sie ist reich, teilte er mir mit, wozu ich ihm gratulierte. Wir sprachen russisch, sie verstand uns nicht. Sehr reich! Er sei ihr, erfuhr ich, an der französischen Riviera begegnet, wo sie sich als baltische Baronesse ausgegeben habe. Er dagegen habe sich völlig wahrheitsgemäß als russischer Komponist zu erkennen gegeben, was Eindruck auf sie machte. Er erzählte ihr einige wahre und einige erfundene Begebenheiten aus seinem Leben und versprach, als sie ihm ihre Vorliebe für die Geige gestand, ein Violinkonzert zu schreiben, ihr als Widmungsträgerin zugedacht. Sie war den Tränen nahe vor Rührung. Er habe, aber da sei er schon nicht mehr ganz nüchtern gewesen, durchblicken lassen, Kontakte nach New York und zu einigen dort ansässigen Weltklasse-Geigern zu haben, Freunde, wie er sie nannte. War das Unsterblichkeit? Sie zerlegte einen Hummer. Sie wollte sofort nach Leningrad reisen. Sie wollte ihn mit Geschenken überschütten und tat es auch. Niemand wird zweifeln, dass eine erste gemeinsame Nacht in einem monegassischen Grandhotel nicht mehr zu vermeiden war. Das war meine Chance, flüsterte er mir ins Ohr. Er machte, wenn man ihm glauben darf, dem Aberglauben, Russen seien im Bett zu allem fähig, alle Ehre. Er verausgabte sich, riss im Glauben, es sei Sommer und er bewohne eine von einer ihm ergebenen Gönnerin für ihn angemietete Villa in Italien, die Fenster auf – und holte sich eine schwere Erkältung. Die Kesselpauke, um es musikalisch auszudrücken, pflegte ihn, soweit er sich das gefallen ließ, er bat um Notenpapier und Stifte. Aber ihm fiel nichts ein. Das versprochene Konzert für großes Orchester und Violine kam über einen gewaltigen Trommelwirbel, mit dem er das Stück beginnen lassen wollte, nicht hinaus. Er brachte schließlich, auf diversen Inseln, einen kurzen ersten Satz, ein Allegro, einer Sonate für Violine und Klavier zustande, nicht viel also und nicht gerade, wie er selbst zugab, ein bedeutendes Werk. Er war auch der Entscheidung nicht gewachsen, ob der zweite langsame Satz ein Adagio oder ein Andante sein sollte, und entschied, eine längere schöpferische Pause einzulegen, unterbrochen von einer Nierenkolik. Kaum genesen, überreichte er ihr erste Notizen, an die Ränder von Speisekarten gekritzelt, die sie rahmen ließ.
Die kolossale Germanin nahm das falsche Spiel meines Freundes mit der Ahnungslosigkeit einer Idiotin hin, damit beschäftigt, ihr Geld loszuwerden; unter anderem war es ihr Hobby, nachdem sie mit den Perlenketten und Hüten durch war, Ohrringe zu sammeln und sich von ihm, noch im Bett, das sie nie vor Mittag verließ, den Bauch massieren zu lassen, der sich, wie er sagte, ekelhaft anfühlte, wie ›verfaulter Honig‹.
Ob es für das, was der Mensch sich selbst antut, eine Erklärung gibt – und wenn es keine gibt, eine Technik, sich in Sicherheit zu bringen?
Ich sollte nicht so reden, entschuldigte er sich, denn ich bin es, der nichts wert ist. Was kann sie dafür, dass ich als Komponist nichts mehr tauge? Wenn sie wissen will, ob ich sie attraktiv finde, muss ich mich zusammennehmen, um nicht rot zu werden. Und sie hat, kaum zu glauben, Humor, besonders wenn sie getrunken hat. Wenn ich dir zu dick bin oder zu alt, nimm mich zum halben Preis! Wenigstens das klappt noch!
Dass sie in allem, was zu geschehen hatte, auch sonst das Kommando führte, war selbstverständlich. Sie brachte ihm Manieren bei, kleidete ihn ein, mehr nach ihrem als nach seinem Geschmack, brachte ihm bei, mit Trinkgeldern großzügig zu sein, sich zweimal täglich zu rasieren und bei Tisch nicht in sein Taschentuch zu spucken. Kein Zweifel, nach schwierigen Jahren war Zagurskij also erst einmal auf der sicheren Seite gelandet. Zagurskij – oder wie ihn eine Visitenkarte mit vollem Namen auswies: Leonid Andreewitsch Zagurskij – führte das Leben eines Lebemannes, wenn inzwischen auch lustlos und mit zunehmend instabiler, angegriffener Gesundheit. Der Schwung, der ihn zu Anfang glauben ließ, in einer Komödie die Regie zu haben, die Hauptrolle zu spielen und die Stichworte zu liefern und, je nach Laune, den Vorhang aufgehen oder sich senken zu lassen, war dahin. In den Kulissen wartete das Drama.
Immer öfter fragte er sich: Warum tue ich das?
Er brachte es nicht über sich, ihr die Wahrheit zu gestehen, die ganze Wahrheit über das völlige Fehlen kompositorischer Einfälle – und seine Vorliebe für Krautsuppe und Kamillentee. Wenn er an die Ausweglosigkeit seiner Situation, die Schäbigkeit seiner Existenz, an all die intimen wie beruflichen Lügen dachte, die er aus Eitelkeit, aber mehr noch aus Verzweiflung von morgens bis abends von sich gab, stand ihm eisiger Schweiß auf der Stirn. Die Bulletins der Ärzte, die er konsultierte (und die von ihr bezahlt wurden), waren eindeutig. Ich habe es schriftlich. Mein Untergang, mein guter alter Freund, scheint unausweichlich.
Ich musste lachen. Was nicht auch ich alles schriftlich habe.
Ich machte den beiden Komplimente, ich wollte meinen Freund nicht kränken. Aber er tat mir leid. Ein ratloser Russe, noch einer, der es nicht lassen kann, die Welt noch immer mit seiner Kraft beeindrucken zu wollen. Aber mir, einem alten Freund, konnte er nichts vormachen. Die Sonne hatte ihn, statt ihn zu stärken, ausgetrocknet. Er trieb, und schien es geschehen zu lassen, seinem Ende entgegen. Vor Schwäche schwankend, hielt er sich an mir, der ich noch verschwitzt war und im Frack steckte, fest wie einer, der fällt.
Ich verstand das alles gut. Menschen mögen zu müssen, die man verabscheut, kostet Kraft. Einer Frau zu Diensten zu sein auch. Und jeden Abend opulente Champagnergelage durchstehen zu müssen. Und sich nach Mitternacht, wenn sie eine Erdbeere in ihren Champagner plumpsen ließ, Gedanken zu machen, wie man es schafft, noch auf zwei Beinen zu stehen.
Zagurskij riss an seinen starken, noch immer rundum rabenschwarzen Haaren. O Götter meiner Jugend! O Samara, Stadt meiner Kindheit! O Glück, das von mir ging! Keine Zeit mehr zum Arbeiten. Nicht einmal Zeit, auszuruhen, einfach nur dazusitzen und an nichts zu denken.
Es war einmal, mein Freund, sagte ich.
Alles war einmal, sagte er, Leben, Lachen, Spaß mit Frauen haben. Dahin, dahin. Er nannte Namen, Namen von Freunden. Was ist mit ihnen?
Sie sterben.
Auch für dich, Zagurskij, ein Schäufelchen, dachte ich. Wir werden uns nicht wiedersehen, nicht auf Erden.
Du erinnerst dich? Alle machten wir Musik, schrieben Noten, spielten sie, allein, zusammen, miteinander, durcheinander, gegeneinander, privat, öffentlich. Wir stritten. Es war Frühling. Es regnete oft, was es hier selten tut. Es regnet einfach zu wenig. Ich kann ohne Regen nicht leben. Ich ersticke ohne Regen. Er nahm einige der Noten, die auf dem Klavier lagen, fuhr mit der Hand darüber, und ich bemerkte, wie er sich abwendete, damit ich nicht sah, wie er mit den Tränen kämpfte. Man hatte sich, wenn man gearbeitet hatte, die Freuden ewiger Nächte verdient. Und heute?
Was mich betrifft, antwortete ich ihm, ich gehe nach den Abendnachrichten schlafen.
Suvorin winkt dem Kellner und bittet um ein Glas Wasser. Er entnimmt einer Tasche ein, zwei, drei, vier, fünf – fünf kleine verschiedenfarbige Pillen, die er, eine kleine Familie, in seinen Handteller bettet und lange anschaut. So bunt sie sind, sie werden mich nicht...
Erscheint lt. Verlag | 10.8.2018 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 75. Geburtstag • Beatnik • Boheme • Bohemien • Carmen • Carmen oder Bin ich das Arschloch • Chuck's Zimmer • Dekadenz • Deutsche Literatur • Deutsche Literatur 20. Jahrhundert • Einsamkeit der Männer • enfant terrible • Früher begann der Tag mit einer Schusswunde • Gegenwartsliteratur • Kaffeehaus • Klavier • Kunst • Künstlerroman • Literatur Rebell • Musik • Rebellion • Requiem • Rock Poet • Schönheit • Verfall • Wien • Wondrak |
ISBN-10 | 3-8437-1858-X / 384371858X |
ISBN-13 | 978-3-8437-1858-5 / 9783843718585 |
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