Naturphilosophie (eBook)

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2018 | 1. Auflage
384 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76053-6 (ISBN)

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Naturphilosophie -  Paul Feyerabend
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Paul Feyerabend, Philosoph, Physiker und Anarchist, war einer der unkonventionellsten Wissenschaftler seiner Zeit. Im vorliegenden ersten Teil seiner auf drei Bände angelegten, unvollendet gebliebenen Naturphilosophie erschließt Feyerabend in gewohnt polemischer und äußerst belesener Weise die Vorgeschichte der modernen Wissenschaft von Homer bis Parmenides. »Die Fortschrittlichkeit des Steinzeitmenschen wird so recht deutlich, wenn man seine Ideen mit denen späterer Philosophen und Wissenschaftler vergleicht.«



Paul Feyerabend (1924-1994), Physiker und Philosoph, lehrte unter anderem in Berkeley, Kalifornien, und an der ETH Zürich. Er gehört zu den einflussreichsten Denkern des 20. Jahrhunderts und hat den Slogan des methodologischen Relativismus geprägt: »Anything goes«.

Paul Feyerabend (1924–1994) lehrte unter anderem in Berkeley, Kalifornien und an der ETH Zürich. Von ihm sind im Suhrkamp Verlag erschienen: Wider den Methodenzwang; Briefe an einen Freund; Erkenntnis für freie Menschen; Wissenschaft als Kunst; Zeitverschwendung.

431. Die Voraussetzungen des Mythos und die Kenntnisse seiner Erfinder


[1] Auf dreifache Weise können wir den Wandel der Naturansichten in die Vergangenheit zurückverfolgen. Die Archäologie macht uns mit materiellen Produkten bekannt, die einen Rückschluß auf die Ideen und Kenntnisse der begleitenden Kulturen gestatten. Die Mythenforschung im weiteren Sinn, d. h. die Erforschung von Legenden, Märchen, Ritualen, Sprichwörtern, Geheimlehren, Gesängen, Epen, Träumen, gestattet die Identifikation und teilweise Entschlüsselung von Bruchstücken archaischen Wissens, die jene nur indirekt erschlossenen Ideen ergänzen. Die vergleichende Kulturanthropologie schließlich zeigt uns, wie schriftlose Kleingesellschaften der Gegenwart Ideen und Natur-›Tatsachen‹, soziale Umstände, Artefakte etc. verbinden, und legt eine analoge Ergänzung der von Archäologie und Mythenforschung entdeckten Elemente nahe.

Bei der Sammlung und Deutung des reichen und rätselhaften Materials bedürfen diese drei Grunddisziplinen der Hilfe aller übrigen Wissenschaften, also der Astronomie, der Biologie, Chemie, Physik, Geographie etc. Wir brauchen diese Wissenszweige für Datierung, Materialforschung (Herkunft und Behandlung des für Kunstwerke, Bauten, Schmuck etc. verwendeten Materials), wir brauchen sie noch viel mehr zur Deutung der so erhaltenen Information. Wie könnte man wohl den astronomischen Gehalt eines Mythos oder die astronomische Funktion eines Bauwerkes entdecken ohne genaue Kenntnis der Vorgänge am gestirnten Himmel? Noch genügt eine bloß rudimentäre Beherrschung der Hilfswissenschaften. Die Annahme, daß der Mensch der Steinzeit oder der Bronzezeit nur die primi44tivsten Naturkenntnisse besessen haben kann, schmeichelt zwar der Einbildung unserer eigenen Fortschrittlichkeit; sie ist aber wenig plausibel – der Mensch der Steinzeit ist bereits der voll entwickelte homo sapiens – und auch unvereinbar mit den Ergebnissen der neueren Forschung. Die Probleme, die Gesellschaft und Umwelt an den Frühmenschen stellten, waren unvergleichlich größer als die Anforderungen an den Wissenschaftler von heute, sie mußten mit den einfachsten Mitteln gelöst werden, oft ohne Arbeitsteilung und Spezialisierung, und die erreichten Lösungen deuten auf eine Intelligenz und Sensitivität, die der unseren sicher nicht unterlegen ist.

In der Anthropologie und in verwandten Gebieten sprach man für geraume Zeit von »Primitiven«, »Wilden« oder »Naturvölkern« im Gegensatz zu »zivilisierten«, »fortgeschrittenen« oder »Kulturvölkern«. Diese Terminologie hat ihren Ursprung in den ziemlich primitiven Entwicklungsgedanken des 19. Jahrhunderts, nach denen eine lineare Entwicklung im Tierreich (heute sehr fraglich) ihre Fortsetzung in einer linearen Entwicklung menschlicher Fähigkeiten und Kulturen findet. Evans-Pritchard macht den pseudo-empirischen Charakter evolutionistischer Theorien sehr klar. Man legte Entwicklungslinien fest und illustrierte dann diese aus der Fülle des keinesfalls vorurteilslos gesammelten Materials: »Trotz ihres Bestehens auf empirischer Methode im Studium sozialer Institutionen waren diese Anthropologen des 19. Jahrhunderts kaum weniger dialektisch in ihrem Vorgehen […] als die Moralphilosophen des vorhergehenden Jahrhunderts« (Evans-Pritchard 1964: 41). Die empirische Grundlage entschwindet in noch größere Ferne, wenn man bedenkt, daß die Missionare, die Frazer und Tylor mit Berichten versahen, oft begeisterte Anhänger der Entwicklungslehre waren – die Fragen, die sie stellten, die Fragebogen, die sie verfaßten, die Auswahl des gewonnenen Ma45terials war völlig durch die Entwicklungslehre bestimmt.[2] Zusätzlich wurde eine Stufe der Entwicklung angenommen, in der der Mensch noch ganz organisches Wesen ist und unberührt von den Segnungen der Kultur. Eine solche Stufe hat die Forschung nicht gefunden, und sie ist auch a priori sehr unwahrscheinlich. Rousseau, den man hier oft als Zeugen anführt, lehnt die Idee ausdrücklich ab. Er »richtet seine Energie nicht auf die Entdeckung eines kulturlosen Naturzustandes, sondern einer Kultur, die der wahren Natur des Menschen zum Lichte helfen würde« (Gay 1970: 95). Das zeigt auch Rousseaus Preisabhandlung über die Frage Hat der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen? aus dem Jahre 1750 sowie die Letzte Antwort an Bordes: »Alle barbarischen Völker, selbst jene, die keine Tugend besitzen, verehren dennoch die Tugend; die gebildeten, aufgeklärten Völker hingegen gelangen mit zunehmendem Fortschritt schließlich dahin, sie ins Lächerliche zu ziehen und zu verachten« (Rousseau 1752: 71). Soziale Verbände, soziale Zusammenarbeit, Entdeckungen, Verbreitung derselben, Ritualhandlungen finden wir bereits im Tierreich, zum Beispiel bei den von Jane Goodall beobachteten Schimpansen (Goodall 1971).[3] Der Unterschied zwischen Natur und Kultur (wild und zahm; roh und gekocht; ungeschmückt und geschmückt), über den selbst moderne Philosophen oft leicht hinweggleiten,[4] ist für viele »Wilde« ein Problem, das sie durch Mythen zu verstehen 46und durch Riten zu lösen versuchen.[5] Gelegentlich verfällt ein Stamm ins entgegengesetzte Extrem und verneint »natürliche« Funktionen mit allen Anzeichen des Ekels.[6]

Der Gegensatz zwischen Naturvölkern und Kulturvölkern beruht in nicht geringem Ausmaße auf einer Überschätzung der Schrift. Schrift ist zwar oft, doch nicht immer mit Fortschrittlichkeit (oder größerer Intelligenz) verbunden. Die Sprachen schriftloser Stämme übersteigen an Kompliziertheit oft die uns bekannten Kultursprachen. Gelegentlich sind sie darum für den erwachsenen westlichen Menschen ganz unerlernbar (Kinder hätten dazu vielleicht noch etwas Talent). Wir kennen schriftlose Kulturen, deren Errungenschaften den Vergleich mit den Errungenschaften zeitgenössischer Schriftträger aushalten, und wir wissen, daß unvergleichliche Kunstwerke, wie die Ilias und die Odyssee, von schriftlosen Sängern komponiert und überliefert wurden[7] und daß die Rabbinischen Traditionen, die Kommentare zur Torah bis zum 5. Jahrhundert nicht niedergeschrieben, sondern von professionellen Gedächtniskünstlern von einer Generation an die andere weitergegeben wurden. Die Griechen, sicher nicht das dümmste Volk der Erde, setzten sich der Einführung des Schriftlichen in der Literatur entgegen, und noch Plato wendet sich gegen eine rein schriftliche Entwicklung von Problemen.[8]

In dieser Situation ist eine neue Terminologie dringend erfordert. Im vorliegenden Essay spreche ich von Kultur47völkern und Verstandesvölkern, Industrievölkern und industrielosen Völkern, Schriftvölkern und schriftlosen Kleinstämmen, d. h., ich gründe Unterscheidungen nicht auf einen angenommenen Idealzustand (der dann »natürlich« im Westen verwirklicht ist), sondern auf relevante Unterschiede in der Struktur der beschriebenen Gesellschaften. Die Details werden jeweils aus dem Zusammenhang klar. Aber selbst eine ›objektive‹ Bestandsaufnahme mit Hilfe ›neutraler‹ Fragen ist unvollständig und irreführend. Sie erlaubt es dem Antwortgebenden nicht, scheinbar unsinnige Teile seines Mythos durch Argumente zu klären und zu verteidigen, und kommt damit zu einer falschen Einschätzung des Mythos und seiner Anhänger. Der argumentativen Kraft der Naturvölker kommt man so keinesfalls auf die Spur. Erst Forscher wie Evans-Pritchard, die die Mitglieder der von ihnen untersuchten Stämme wie normale Menschen behandelt haben und die also versuchten, die »Wilden« durch Argumente zu ihrer eigenen westlich-wissenschaftlichen Ideologie zu bekehren, mußten erkennen, daß eine solche »Bekehrung« keine leichte Sache ist. Die Mitglieder des Stammes haben zwar ursprünglich keine Vorstellung von der Struktur und der Funktion kritischer Argumente, aber sie lernen schnell, wenn auch ohne große Begeisterung, und kehren den Rationalismus bald gegen ihre Lehrer. Argumente stoßen auf kluge Gegenargumente, und es stellt sich heraus, daß auch die scheinbar absurdeste Lebensform einen starken rationalen Kern besitzt oder mit einem solchen Kern versehen werden kann, falls man daran Interesse hat: »Mir erschien ihre Art, sich das Leben einzurichten, genauso befriedigend wie jede andere Art, die ich kenne«, schreibt Evans-Pritchard über die Azande (1937: 270), die selbst die trivialsten Handlungen nicht ohne genaue Konsultation von Orakeln ausführen. Schließlich befanden sich viele untersuchte Stämme zur Zeit der Bestandsaufnahme 48im Progreß der Auflösung. Die ›primitiven‹ Züge, die man bei ihnen feststellte, waren das Ergebnis der katastrophalen Einwirkung westlicher Eindringlinge (vgl. Lévi-Strauss 1958a: Kap. VI). Wie würde wohl New York aussehen beim plötzlichen Aussetzen von Gas, Elektrizität, Benzin?[9]

1.1. Steinzeitliche Kunst und Naturerkenntnis


[2] In der Kunst führen den Beweis die erstaunlichen Felsenbilder der späten Altsteinzeit, in denen technisches Können, Beobachtungsgabe, Stilsicherheit, Drang nach neuen Ausdrucksformen und die Fähigkeit zur raschen Verwirklichung neuer Ideen sich auf einzigartige Weise zu einem Ganzen vereinen. Ökonomie der Darstellung, charmante Kleinarbeit, Beherrschung isolierter perspektivischer Phänomene findet man hier ebenso wie prunkvollen Farbenreichtum und impressionistische Züge. Die Idee, daß der Naturalismus eine 49Spätform ist, der in allen Fällen eine archaisch-infantile Stufe vorausgeht, ist mit einem Schlage widerlegt. Ganz im Gegenteil – die frühen Stufen sind lebendiger...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2018
Vorwort Helmut Heit, Eric Oberheim
Zusatzinfo Mit Abbildungen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Antike • Einzelne Epochen • Naturphilosophie • STW 2257 • STW2257 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2257
ISBN-10 3-518-76053-X / 351876053X
ISBN-13 978-3-518-76053-6 / 9783518760536
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