Hegemonie (eBook)

Konjunkturen eines Begriffs
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2018 | 1. Auflage
250 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75786-4 (ISBN)

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Hegemonie -  Perry Anderson
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Ob es um Deutschlands Rolle in Europa geht oder um das Bröckeln des neoliberalen Konsens - ein Wort hat derzeit Konjunktur: Hegemonie. Seit der griechischen Antike bezeichnet dieser Begriff eine Beziehung zwischen Staaten (etwa in der Theorie der Internationalen Beziehungen) oder Klassen (z. B. bei Antonio Gramsci), die von einer bestimmten Mischung aus Freiwilligkeit und Zwang geprägt ist. Indem Perry Anderson die Geschichte des Konzepts in verschiedenen Kulturen nachzeichnet, zeigt er zugleich, dass seine jeweiligen Konnotationen stets ein politisches Barometer für sich wandelnde Machtverhältnisse sind.



<p>Perry Anderson, geboren 1938 in London, gilt als einer der renommiertesten Vertreter der &raquo;Neuen Linken &laquo; im angels&auml;chsischen Raum. F&uuml;r mehr als zwanzig Jahre war er Redakteur der Zeitschrift <em>New Left Review</em>. In den achtziger Jahren war Anderson Professor an der New School for Social Research in New York; heute lehrt er Soziologie und Geschichte an der University of California in Los Angeles.</p>

Perry Anderson, geboren 1938 in London, gilt als einer der renommiertesten Vertreter der »Neuen Linken « im angelsächsischen Raum. Für mehr als zwanzig Jahre war er Redakteur der Zeitschrift New Left Review. In den achtziger Jahren war Anderson Professor an der New School for Social Research in New York; heute lehrt er Soziologie und Geschichte an der University of California in Los Angeles. Frank Jakubzik, geboren 1965, übersetzte unter anderem Zygmunt Bauman, G. K. Chesterton, Colin Crouch, Daniel Miller und Franco Moretti.

111. Ursprünge


I


Die historischen Anfänge des Hegemoniebegriffs liegen natürlich in Griechenland, in einem Verb mit der Bedeutung von leiten oder führen, das sich bis zu Homer zurückverfolgen läßt. Als Abstraktum begegnet hēgemonia erstmals bei Herodot, wo es die Führungsrolle innerhalb einer mit militärischer Zielsetzung gebildeten Allianz von Stadtstaaten bezeichnet — ein ehrenhafter Rang, den man Sparta für seinen Widerstand gegen die persische Invasion zuerkannte. Ihm zugrunde lag die Vorstellung eines Bündnisses Gleichrangiger, die einen der ihren dazu bestimmten, die anderen im Hinblick auf ein vorgegebenes Ziel zu führen. Von Anfang an trat das Wort in Konkurrenz zu einem anderen Begriff, der Herrschaft im allgemeinen bezeichnete: arkhē. Was war der Unterschied zwischen den beiden? In dem berühmten Abschnitt seiner History of Greece, der die Entstehung des Attischen Seebunds unter Führung Athens im 5. Jahrhundert v. ‌u. ‌Z. behandelt, behauptete der bedeutende liberale Historiker George Grote — ein akademischer Mitstreiter John Stuart Mills —, hēgemonia bezeichne eine Führungsrolle, die die Geführten auf der Grundlage von »Verbundenheit oder Konsens« aus freien Stücken akzeptieren, während arkhē die »höhere Autorität und bezwingende Erhabenheit« eines Imperiums voraussetze, die lediglich »Ergebung« hervorbringe. Thukydides habe zwischen beiden streng unterschieden und im Übergang Athens von ersterer zu zweiterer Rolle die ent12scheidende Ursache des Peloponnesischen Kriegs gesehen.2 John Wickersham, der die klassische Beweislage zuletzt untersuchte, stimmt ihm darin zu. Die Konzepte Hegemonie und Imperium stünden »im tödlichen Widerspruch« zueinander. Die Ausübung von Zwang mache »den entscheidenden Unterschied aus«.3

Den Zeitgenossen war eine derart starke Kontrastierung noch fremd. Herodot und Xenophon verwenden hēgemonia und arkhē praktisch synonym. War Thukydides präziser? Der Absatz, auf den Grote verweist, beginnt mit dem ersten Begriff und endet mit dem zweiten, zeichnet dabei zwar eine Entwicklung nach, stellt sie einander jedoch nicht gegenüber.4 Anderswo bei Thukydides unterscheiden die Akteure seiner Berichte nicht zwischen beiden Termini. Im Rahmen der sizilischen Expedition setzt sie ein athenischer Gesandter 13umstandslos gleich: »[A]ls wir nach den Perserkriegen im Besitz einer Flotte waren, haben wir uns von der Herrschaft und Führung [arkhēs kai hēgemonias] der Lakedämonier [Spartaner] freigemacht«.5 Am pointiertesten schärft Perikles selbst seinen Mitbürgern ein, daß sich ihr Ruhm nicht auf die hēgemonia, sondern auf die arkhē gründe, die sie sich nicht aus der Hand nehmen lassen dürften. »Es versteht sich aber von selbst, daß ihr die Ehre, welche unserer Stadt aus der Herrschaft erwächst, und mit der ihr alle großthut, nicht im Stiche lassen dürfet«, erklärt er ihnen, »und keine Mühe scheuen, wenn ihr nicht überhaupt das Streben nach Ehre aufgeben wollet. Auch denket nicht, daß es bei diesem Kampfe sich nur um eines drehe, eigene Abhängigkeit oder Unabhängigkeit, nein, es handelt sich auch um den Verlust der Herrschaft über Andere und um die Gefahren, die der Haß mit sich bringt, welchen unsere Herrschaft uns zugezogen hat.« Der Staatsmann, dessen Moderatheit Thukydides unermüdlich lobt, schließt mit den Worten: »Bedenket, daß [diese Stadt] eine Macht erworben [hat], deren Andenken bei den Nachkommenden nie erlöschen wird […]. Wir sind es, die unter den Hellenen über die größte Zahl von Hellenen geherrscht und in den schwersten Kriegen der Gesammtheit wie den Einzelnen widerstanden haben, und so haben wir diese Stadt, die wir bewohnen, in allen Stücken zur blühendsten und größten gemacht.«6 Um den positiven Wert der arkhē noch zu unterstreichen, spricht Thukydides sie am Ende seiner Lobeshymne auf Perikles diesem selbst zu: »So gab es 14dem Namen nach eine Volksherrschaft, in der That aber ging vom ersten Manne die Herrschaft aus [tou prōton andros arkhē].«7

Daß die Konzepte Hegemonie und Imperium im antiken Griechenland nicht scharf voneinander abgegrenzt waren, sondern fließend ineinander übergingen, hatte mit ihrer Bedeutung und ihrem Gebrauch zu tun. Die von Hans Schaefer gegen Ende der Weimarer Republik verfaßte erste wissenschaftliche Untersuchung zum Begriff der Hegemonie zeigte, daß dieser tatsächlich eine Führungsrolle bezeichnete, die die Mitglieder eines Bündnisses einem aus ihren Reihen aus freien Stücken einräumten, allerdings als zweckgebundene Vollmacht, nicht als generelle Autorität. Zugesprochen wurde mit ihr der Oberbefehl auf dem Schlachtfeld.8 Der Krieg, nicht der Frieden war ihr Anwendungsgebiet. Da militärische Befehlsgewalt die strikteste Form der Führung ist, bedeutete Hegemonie mithin von Anfang an die Ausübung uneingeschränkter Macht, allerdings nur auf einem bestimmten Gebiet und für eine begrenzte Zeit. Doch was wäre natürlicher oder erwartbarer, als daß ein einmal berufener Hegemon versucht, Dauer und Ausmaß seiner Macht zu erweitern?9 Während mit der hēgemonia am einen Ende des 15Spektrums also eine grundsätzlich erweiterbare Form der Machtausübung stand, war die arkhē am anderen Ende konstitutiv mehrdeutig und konnte je nach Kontext (oder Neigung des Interpreten) als neutrale Herrschaft oder imperiale Dominanz verstanden werden. In der Rhetorik des 5. Jahrhunderts ließen sich die Begriffe aus taktischen Gründen mit Konsens bzw. Zwangsausübung assoziieren, doch machten die fließenden Übergänge ihres Gebrauchs eine stabile Abgrenzung unmöglich.

Das änderte sich im 4. Jahrhundert. Als die athenischen Redner nach der Niederlage im Peloponnesischen Krieg kein Imperium mehr zu rühmen hatten, priesen sie die Vorteile der Hegemonie, die sie entsprechend moralisch aufluden und als das Ideal der Schwächeren präsentierten. Isokrates rief die Griechen dazu auf, sich noch einmal unter der Führung Athens gegen die Perser zu verbünden, und forderte die Hegemonie für seine Stadt unter Verweis auf ihre kulturellen Meriten ein: die Errungenschaften, die ihr die anderen Staaten zu verdanken hätten, vor allem in der Philosophie, der Redekunst und der Erziehung. Sein Panegyrikos ist die systematischste Verteidigung der Hegemonie als freiwillig anerkannte Vorrangstellung, die sich in der Literatur finden läßt. Doch selbst dieser Text kommt vielsagenderweise nicht ohne den Kontrapunkt ihres Pendants aus: Auch für das »sehr große« Imperium, über das Athen verfügt habe, sei »uns jeder verständige« Grieche zu »großem Dank« verpflichtet.10 Fünfundzwanzig Jahre weiterer Rückschläge und 16Demütigungen später plädierte Isokrates für einen Friedensschluß mit den gegen die Dominanz Athens aufbegehrenden Verbündeten und warf seinen Athener Mitbürgern vor, »daß wir nach einer [imperialen] Herrschaft trachten, die weder gerecht, noch möglich, noch zuträglich ist«, was bereits im Peloponnesischen Krieg »mehr und größere Uebel« über die Stadt gebracht habe als in deren gesamter übriger Geschichte.11 Zu diesem Zeitpunkt, da die arkhē verloren war, hatte er die Hegemonie in seinem Hymnus an die Beredsamkeit ganz und gar ätherisiert, indem er von der Hegemonie der Sprache über alle Dinge — hapantōn hēgemona logon — spricht und sich selbst bescheinigt, er sei »mit den Reden vorangegangen«.12 In der wirklichen Welt war der Ausgang das radikale Gegenteil, insofern der König, den er zum Friedensschluß hatte überreden wollen, den Stadtstaaten die Herrschaft Makedoniens aufzwang. Mit Hilfe seiner Eroberungen wurde Philipp »Hegemon Griechenlands«, formell eingesetzt als solcher in Korinth.13

Aristoteles schrieb später mit Blick auf Athen und Sparta: 17»[D]ie Staaten, welche die...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2018
Übersetzer Frank Jakubzik
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Antonio Gramsci • edition suhrkamp 2724 • ES 2724 • ES2724 • Lenin • Marx • New Left Review • Oktoberrevolution • Revolution
ISBN-10 3-518-75786-5 / 3518757865
ISBN-13 978-3-518-75786-4 / 9783518757864
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