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Eine gewöhnliche Familie (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018
160 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26137-2 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
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Die Geschwister Cardin sind zu viert. Als Tante Tamara und Onkel Simon sterben, werden am Tag der Beerdigung jedoch nicht nur die Trennlinien zwischen den vier Geschwistern sichtbar, sondern die Gräben in der gesamten Familie. Die Verstorbenen waren es, die alle zusammenhielten. Nun hinterlassen sie neben Uneinigkeit vor allem eine Auseinandersetzung um das Erbe, die schon auf dem Weg zur Trauerhalle ihren Anfang nimmt. Die gefühlte Ungerechtigkeit in der Verwandtschaft ist außergewöhnlich groß - und genau darin ist diese französische Familie so ziemlich gewöhnlich.
Sylvie Schenk hat einen Roman geschrieben, der auf wenigen Seiten poetisch, klar und klug die Geheimnisse einer ganzen Familie ausleuchtet.

Sylvie Schenk wurde 1944 in Chambéry, Frankreich, geboren, studierte in Lyon und lebt seit 1966 in Deutschland. Sylvie Schenk veröffentlichte Lyrik auf Französisch und schreibt seit 1992 auf Deutsch. Sie lebt bei Aachen und in La Roche-de-Rame, Hautes-Alpes. Bei Hanser erschienen ihre Romane Schnell, dein Leben (2016) und Eine gewöhnliche Familie (2018).

Lyon-Part-Dieu. Pauline und ihr Mann stehen am Ende des Gleises. (Er ist groß, massiv, steht immer hinter der schmalen Pauline, schützt sie vor Stürmen und Schlägen aus dem Hinterhalt, beide unzertrennlich wie Rahmen und Spiegel. In dieser Geschichte jedoch wird er ihre stumme Einfassung bleiben.) Auch Aline steht am Gleis. Ebenso Philippe und seine Frau (die wir ebenfalls kaum noch erwähnen werden, da sie sich in die Geschichte der Cardins nicht einmischen will). Alle tragen schwarze Schals über den Mänteln, eine Trauermannschaft, die auf der Stelle tritt. Man küsst sich. Gleich werden sie gemeinsam ins Krematorium fahren.

Was für ein Glück, dass dein Zug keine Verspätung hatte, sagt Pauline, du kommst auf den letzten Drücker; wir wollen noch zusammen einen Kaffee trinken. Ja, und wir müssen noch einiges besprechen. Célines Blick fällt auf die kleinen Füße ihrer Schwester, Schuhgröße 34, zwei Füßchen in schwarzen Nylonstrümpfen und schwarzen Ballerinas. Sie ist froh, dass diese kleinen Füße auf dem Boden stehen, schon immer hatte sie Angst, es könne ihrer Schwester irgendein Unglück passieren. Pauline ist der Treffpunkt aller möglichen bizarren Krankheiten, die sich im Verborgenen bei ihr verabreden. Depressionen wühlen ihr Leben auf, zuletzt vergifteten es Gürtelrose und Ekzem. Auch jetzt stimmt sie ihr Klagelied an: Ach, Céline, ich wäre am liebsten im Bett geblieben heute Morgen. Ja, sie sei erschöpft. Die letzten Tage haben sie übel mitgenommen. Jeden Tag im Krankenhaus, die Organisation der Beerdigung, der Kummer, sie beide quasi gleichzeitig verloren zu haben, das Vakuum.

Céline fürchtet, dass Pauline in ein großes Loch fallen wird, anstatt Erleichterung zu spüren, ein Loch, das sie nur schwerlich mit neuen Idealen und Beschäftigungen wird ausfüllen können. Sie sieht mitgenommen aus, ihr Gesicht ist verrunzelt, als wäre es verschnürt worden, als hätten Bindfäden diese Spuren hinterlassen.

Sie sitzen im Bahnhofscafé, die Bedienung trottet zwischen den Tischen umher und scheint erst alle Tische und Stühle sauber wischen zu wollen, bevor sie zu ihnen kommt. In Céline flammt eine schüchterne Freude auf: Man ist wieder beieinander, alle nicht mehr jung, aber lebendig. Sobald sie zusammenkommen, sind sie Geschwister, aufgeregt, schelmisch. Verbündet, vertraute Spielkameraden, alte Komplizen. Sie stecken die Köpfe zusammen, betatschen sich, wie geht es dir, wie geht es euch? Es geht uns gut, alles klar, nee, alles unklar, sagt Philippe, wenn nur diese blöde Geschichte nicht wäre. Aber leider. Welche Geschichte? Der Bruder räuspert sich und spricht zögernd, als fiele es ihm schwer, das zu erzählen, was man ihr unbedingt erzählen sollte, bevor sie die anderen treffen.

Die anderen, das sind die Cousine Hélène und Bernard, der Neffe von Tamara, samt Anhang. Émile, Hélènes Mann (den wir meist außen vor lassen, obwohl er sich gern einmischen möchte), ihr behinderter Sohn William und die flotte Kati, Bernards Mutter und Schwester von Tamara.

Das Testament der Tante, beginnt Philippe, gleicht dem Testament des Onkels. Das Vermögen sollte dem Überlebenden zukommen — und nach dessen Tod schließlich allen Neffen, sowohl ihren Neffen als auch seinen Neffen.

Céline weiß das. Bei ihrem letzten Besuch hat der Onkel ihr sogar gesagt, dass beide Testamente in den Nachttischschubladen liegen. Sie hatte gesagt, er solle sie beim Notar abgeben oder bei irgendeiner offiziellen Stelle. Der Onkel hatte gekichert, na ja, keine schlechte Idee, aber getan hat er nichts. Das war seine Art. Er widersprach selten, lebte nach dem Prinzip des geringsten Widerstands.

Nun, leider ist das Testament von Tamara verschwunden, fährt Philippe fort. In der Schublade des Nachttischs wurde nur eine Fotokopie gefunden, eine verdammte Fotokopie.

Eine Fotokopie? Ist das sicher? Céline lächelt, obwohl es nichts zu lächeln gibt.

Ja, fährt Philippe fort, der Notar hat gesagt, er habe das Papier gewissenhaft unter die Lupe genommen. Und eine Fotokopie ist leider kein gültiges Dokument.

Alle sprechen jetzt gleichzeitig. Céline hört zu, versteht noch nicht ganz die Tragweite. Außerdem hat sie Hunger. Und der Hunger trübt ihre Auffassungsgabe. Erst Paulines Stimme erreicht sie wieder, laut, übertrieben artikuliert. Ihre Schwester bildet eine Drei mit den Fingern, als spräche sie mit einer Ausländerin.

Tante Tamara ist drei Stunden, nur drei Stunden nach Onkel Simon gestorben, also wurde sie drei Stunden lang seine Erbin, bevor sie ihn eingeholt hat. Verstehst du?

Jedes Wort.

Das bedeutet, dass das gesamte Vermögen für drei Stunden von Simon an Tamara vererbt wurde — und weil von Tamara kein richtiges Testament vorliegt, vererbt sie nun alles dem nächsten Angehörigen. Und das ist Bernards Mutter. Catherine.

Die flotte Kati?, sagt Céline.

Die flotte Kati, Tante Tamaras Schwester, selbstsicher, siebenundachtzig Jahre alt und geldgieriger als ein Mafiaboss.

Die flotte Kati, sagt Pauline, denkt natürlich an ihren geliebten Sohn, verstehst du?

Ja, Céline versteht: Bernard wird nicht gern auf das komplette Vermögen des Onkels und der Tante verzichten, wenn ein tückischer Zufall es ihm in den Schoß wirft. Er ist zwar Rentner, aber er war mal Wirtschaftsanwalt.

Unsere einzige Hoffnung ist, sagt nun Philippe, dass Kati und Bernard die Fotokopie als echtes Dokument anerkennen. Das wäre gerecht. Aber wir sind einzig und allein auf ihren guten Willen angewiesen.

So ist das, sagt Aline, die bisher gar nichts gesagt hat.

Céline fällt auf, dass Alines Stimme gar nicht so alt klingt wie am Telefon. Ihr gefällt auch das kleine, ohnmächtige Lachen ihrer älteren Schwester.

Was sagt Hélène dazu?

Bislang noch gar nichts, sagt Philippe.

In Célines Kopf verschwimmen alle Eindrücke und Gedanken, die Müdigkeit, die Trauer um ihre Tante und ihren Onkel, die Freude über das Wiedersehen der Geschwister, der Ärger wegen dieser Offenbarung. Sie steht neben sich, aber ja, sie sieht ein, wie unerfreulich diese Testamentsgeschichte ist, vor allem für Pauline und ihren Mann, die sich seit Jahren um die beiden gekümmert und sie mit gepflegt haben.

Sie werden sich nicht trauen, euch derart zu übergehen, versucht sie, die Geschwister zu beruhigen.

Philippe schweigt, Aline stimmt zu, Pauline hält das für naiv und schüttelt ihre braun gefärbte Johanna-von-Orléans-Frisur — seit jeher schulterlang. Sie will damit ihre abstehenden Ohren verbergen.

Ihr Vater etikettierte die Geschwister stets: Aline war die Schöne, Céline die Intellektuelle, Pauline die Lustige, Philippe der Sportliche.

Aline haucht sich nun in die Hände. Sie ist gutgläubig und friert immer. In diesem Bistro wird nicht geheizt und anscheinend auch nicht bedient.

Célines Magen knurrt und sie denkt nach. Angenommen, Tamara hat eine Fotokopie machen lassen, diese mit dem Original verwechselt — sie hatte ja schlechte Augen —, angenommen, dass sie das echte Testament irgendwann verschlampt hat, so beweist die Fotokopie doch zwangsläufig, dass es ein Original gab und wahrscheinlich noch irgendwo gibt. Oder nicht?

Hätte Tamara uns nicht berücksichtigen wollen, sagt sie jetzt, hätte sie auch die Fotokopie vernichtet und ein anderes Testament aufsetzen lassen, meint ihr nicht?

Klar, sagt Philippe, eine Fotokopie ist aber keine Urkunde. Wenn die Schlaumeier sich nach dem formalen Recht und nicht nach der Gerechtigkeit richten, haben wir verloren.

Wir haben in jedem Schrank, in jeder Schublade gesucht, sagt Pauline, das Testament ist weg.

In Paulines Stimme klingt etwas sehr Verbissenes. Céline möchte ihr gern sagen, dass sie im schlimmsten Fall doch nur Geld verloren hätten, dass Neid, Groll und Gier sauer, krank und hässlich machten. Dafür könnten sie im Gegensatz zu Bernard ein reines Gewissen haben, sie hätten sich schließlich auch gekümmert, wenn Tante und Onkel arm gewesen wären. Es klingt aber sehr moralisch, sehr célinehaft, sehr nach Große-Schwester-hat-geredet. Sie hört auch schon das empörte Geschrei: Sie dresche Phrasen, sie selbst brauche vielleicht dieses Geld nicht, aber leider seien nicht alle so gut gestellt wie sie (seit der Scheidung ist sie das nicht mehr, sie nimmt in letzter Zeit alle...

Erscheint lt. Verlag 23.7.2018
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alltag • Beerdigung • deutsch-französisch • Erbe • Erinnerung • Familie • Frankreich • Frau • Geheimnis • Großfamilie • Kinder • Leben • Lyon • Nachkriegszeit • Testament • Trauer
ISBN-10 3-446-26137-0 / 3446261370
ISBN-13 978-3-446-26137-2 / 9783446261372
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