Der große schwarze Vogel -  Stefanie Höfler

Der große schwarze Vogel (eBook)

Roman
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2018 | 1. Auflage
182 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-74678-8 (ISBN)
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Der Tag, an dem Bens Mutter plötzlich und völlig unerwartet stirbt, ist ein strahlender Oktobertag. Ben erzählt von der ersten Zeit danach und wie er, sein Bruder Krümel und Pa damit klarkommen - oder eben nicht. Er erinnert sich an seine Ma mit den grünen Augen und den langen roten Haaren, die so gerne auf die höchsten Kastanienbäume kletterte. Mit einem Mal ist nichts mehr so, wie es war. Doch manchmal geht das Leben nicht nur irgendwie weiter, sondern es passieren neue, verwirrende und ganz wunderbare Dinge. Eine Geschichte einer großen Erzählerin über das Unfassbare, von großer Intensität und Nähe, voller Trost und Zuversicht.

Stefanie Höfler, geboren 1978, studierte Germanistik, Anglistik und Skandinavistik in Freiburg und Dundee/Schottland. Sie ist Lehrerin und Theaterpädagogin und lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Ort im Schwarzwald. Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihr bisher das Kinderbuch »Helsin Apelsin« (Illustrationen von Anke Kuhl) und die Romane »Mein Sommer mit Mucks«, »Tanz der Tiefseequalle«, »Der große schwarze Vogel« und »Feuerwanzen lügen nicht«, die alle unter anderem für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurden. Zusammen mit der Illustratorin Claudia Weikert entstanden die Bilderbücher »Waldtage« und »Die Eroberung der Villa Herbstgold«.

Sonntagvormittag


Die Stille in der Küche wurde von einem Saxofon unterbrochen. Ein lang gezogener Ton sägte sich gnadenlos durch unsere Umarmung, und ich spürte, wie Pa nach Luft schnappte, und hörte drüben im Schlafzimmer einen der Sanitäter erschrocken sagen: »Was ist das denn?«

Strange Fruit, Mas Lieblingssong und seit Jahren die Weckmelodie auf ihrem Handy. Automatisch wartete ich darauf, dass Billie Holiday ihren Gesang nach der ersten Zeile unterbrechen und ein leiser Fluch meiner Mutter folgen würde, die ein Morgenmuffel ist. Zehn Minuten später würde Billie noch mal aufjaulen, weil Ma immer nur auf den Slumber-Knopf drückt, um doch nicht ganz zu verschlafen. Wie jedes Wochenende hatte sie vergessen, den Wecker am Samstagabend auszustellen.

Aber heute durfte Billie weitersingen. Keiner kam auf die Idee, sie zu unterbrechen. Die lang gezogenen Töne von Strange Fruit untermalten als morbide Filmmusik die nächsten drei Minuten des Geschehens.

Ich habe nie verstanden, was Ma an Jazz so toll findet. Schon bevor ich in der Schule Englisch lernte und zu verstehen begann, dass meine Mutter sich von einem Lied über Sklaven, die blutig am Baum hängen, aufwecken ließ, fand ich, dass einem diese Musik absolut die Laune verderben konnte.

Billie jammerte immer noch, als einer der beiden Sanitäter den Kopf zur Küchentür hereinstreckte.

»Wir gehen dann jetzt«, sagte er. Seine Stimme klang unsinnig vorsichtig, so als könne er jemanden aufwecken. »Wir haben Ihren Hausarzt gerufen. Er kommt, um …«

Der Sanitäter stockte. »… um den Rest zu klären«, fügte er dann hinzu. Die zweite Hälfte des Satzes klang wie falsch montiert. Der Sanitäter stand unschlüssig auf der Türschwelle.

»Ach ja. Und dann haben wir auch noch die Polizei informiert. Ist Vorschrift.« Er war bei den letzten Worten immer leiser geworden. Pa nickte minimal. »Blood on the leaves and blood at the root«, sang Billie Holiday. Der Sanitäter verschwand, und ich stellte mir vor, wie er draußen aufatmete, als die Wohnungstür ins Schloss fiel. Wenige Augenblicke später öffnete Tante Gerda sie wieder.

Tante Gerda sieht aus wie Pa, nur zwei Köpfe kleiner, was ziemlich komisch wirkt, wenn beide nebeneinanderstehen, etwa so, als hätte man bei ihr ein Stück von den Beinen abgesägt, um sie bei Pa wieder einzufügen, denn weder bei Pa noch bei seiner älteren Schwester stimmen die Proportionen. Besonders Tante Gerdas Hände sind viel zu groß für ihre kleine Statur. Meine Tante kam alle paar Tage zu uns, mal kochte sie und mal putzte sie das Badezimmer. Natürlich hätten wir das genauso gut selbst machen können, aber alle schienen die Idee gut zu finden. Außerdem hatte sie selbst keine Familie.

Wie immer begrüßte mich Tante Gerda, indem sie ihre Hand ganz kurz auf meine Schulter legte, was sich anfühlte, als würde sich ein sehr kleiner, sehr leichter Vogel sekundenlang darauf niederlassen. Krümel hingegen schüttelt sie sehr ernsthaft die Hand. »Karl«, sagt sie dann knapp, wie um sich zu vergewissern, dass er wirklich so heißt. Ich glaube, Tante Gerda ist die Einzige, die Krümel den Wunsch erfüllt, ihn Karl zu nennen. Nur Pa wurde von Tante Gerda anders begrüßt als sonst. Sie umarmte ihn lange, und dabei drückte sie ihre Finger so fest in Pas Rücken, dass ihre Fingerkuppen weiß wurden. Wie um zu verhindern, dass er abhebt oder hinfällt, eines von beidem. Keiner von beiden sagte etwas. Dann hörte Billie Holiday auf zu singen. Und dann klingelte es.

»Das wird der Arzt sein«, murmelte Pa.

Ich erwartete, Doktor Gräber zu sehen, unseren Hausarzt, aber es war ein dünner, jüngerer Mann mit pechschwarzen, etwas wirren Haaren und fragendem Blick, der schüchtern in der Küchentür lehnte. Als er sich vorstellte, sah er keinem von uns in die Augen.

»Hagemann. Ich bin Doktor Gräbers Vertretung. Wo …?« Er unterbrach sich, sah aber weiter vor uns auf den Boden. Ungefähr dort, wo sein Blick hinfiel, entdeckte ich eine handflächengroße Staubflocke. Staubratten, sagt Ma immer. Das sind keine Wollmäuse mehr, sondern Staubratten. Ma hasst Staubsaugen. Das Geräusch macht sie wahnsinnig.

Als Pa den Arzt ins Schlafzimmer führte, bemerkte ich den stämmigen, grauhaarigen Mann, der im Flur stand und geduldig darauf wartete, dass ihn jemand wahrnahm.

»Tut mir leid, dass ich einfach hereingekommen bin, aber die Türen standen offen«, sagte er jetzt. Sein Blick war ruhig, aber scharf, und traf mich genau im Gesicht. Seine Augen unter den dichten, borstigen Brauen hatten die Farbe einer Regenpfütze.

»Gneist, von der Kriminalpolizei.« Er streckte seine Hand aus und ich gab ihm meine. Er drückte sie so schnell und fest zusammen, dass ich kurz zurückzuckte. Er bemerkte es sofort. »Entschuldigung«, sagte er und lächelte. »Berufskrankheit.«

Es war das erste Lächeln, das ich an diesem Morgen sah, und ich erwiderte es unwillkürlich. Ich sah mich nach Tante Gerda um, aber sie war verschwunden. Vermutlich versuchte sie, Krümel abzulenken.

»Ich bin Ben«, sagte ich dann und wunderte mich beinahe, dass ich noch sprechen konnte.

»Der ältere Sohn der Toten«, ergänzte Herr Gneist. Er hielt meinen Blick fest, und deshalb muss er auch wahrgenommen haben, wie mein Atem für genau den Moment aussetzte, in dem er meine Mutter als »Tote« bezeichnete.

Mir fiel die Leiche vom Tatort letzte Woche ein und das übertrieben viele Blut. An Strange Fruit dachte ich. Und an Ma, wie sie gestern Abend mit klirrenden Armreifen die Spülmaschine ausgeräumt hatte. Ein Teller war ihr auf den Boden gefallen, wie so oft, und sie hatte laut geflucht, und Krümel und ich mussten lachen, was sie noch wütender gemacht hatte. Sie hatte nicht so ausgesehen, als sei sie dem Tod besonders nah.

»Mein Vater und der Arzt sind da drin«, informierte ich den Kommissar und zeigte auf die geschlossene Schlafzimmertür, »und meine Tante …« Ich brach ab.

»Wäre es in Ordnung, wenn ich zuerst dir einige Fragen stellen würde?« Sein Blick hielt meinen immer noch fest, als wolle er sichergehen, dass ich nicht flüchten konnte, nicht einmal mit den Augen.

Ich konnte plötzlich das dämliche Stammeln der Tatverdächtigen nachvollziehen, das ich im Tatort immer so unglaubwürdig fand. »Okay«, sagte ich.

Wir gingen ins Wohnzimmer. Herr Gneist sah sich flüchtig um, während er seinen massigen Körper auf das Sofa sinken ließ, und ich fragte mich, woran sein Blick hängen bleiben würde. An die gegenüberliegende Wand waren Fotos von unserer Familie gepinnt. Auf fast jedem war Ma zu sehen. Ma auf dem Fahrrad, leuchtend gelber Pullover, Krümel hintendrauf. Ma beim Pilzesammeln im Wald, blauer Regenmantel, rote Gummistiefel. Ma und ich am Strand, als ich klein war. Auf jedem einzelnen Bild lachte sie mit ihrem großen, rot geschminkten Mund und beherrschte das ganze Bild.

Auf dem Boden unter dem Fenster lag ein Berg zerknüllter Zeitungsseiten. Ma hat die Angewohnheit, gelesene Seiten zu zerknüllen und die so entstandenen Papierkugeln auf einen Haufen zu werfen. Abends wirft sie den Papierberg mit Genugtuung in den Müll. Aber diesmal hatte sie es offenbar vergessen.

»War sie gestern müde?«, begann Herr Gneist. Es war klar, dass er Ma meinte.

»Nein, ich glaube nicht.« Nur schlecht gelaunt, dachte ich.

»Was habt ihr denn gestern Abend gemacht, du und deine Familie?«

»Gestritten«, antwortete ich spontan und erschrak sofort über meine eigenen Worte.

»Also, mein Bruder, meine Mutter und ich. Sie hatte ziemlich schlechte Laune gestern. Und wir hatten nicht aufgeräumt«, ergänzte ich schnell. Es klang beschwichtigend, ohne dass ich es beabsichtigte. Herr Gneist lächelte wieder. Vermutlich kam ich ihm ohnehin nicht besonders verdächtig vor.

Ich sah aus dem Fenster. Von hier aus waren keine anderen Häuser zu sehen, sondern nur der Himmel. Ein Himmel, dessen Blau so absolut war, als würde es gleich die Fensterscheibe sprengen. Vor dem Himmel stand der Kastanienbaum. Einige Äste reichten bis an das Fensterbrett. Der Baum hatte damit begonnen, seinen Saft aus den Blättern zurückzuziehen, was man daran erkennen konnte, dass die Spitzen der fünffingrigen Blätter braun wurden. Bald würde sich jedes Blatt zu einem einzigartig gekrümmten Gebilde zusammenziehen und knisternd zu Boden sinken. Bald würden die Kastanien reif sein.

Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie ich Ma Gute Nacht gesagt hatte. Ob sie noch sauer gewesen war, als ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Zum allerletzten letzten Mal. Plötzlich erschien es mir unendlich wichtig,...

Erscheint lt. Verlag 13.7.2018
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch
ISBN-10 3-407-74678-4 / 3407746784
ISBN-13 978-3-407-74678-8 / 9783407746788
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