Am andern Ende der Welt (eBook)
212 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7528-8448-7 (ISBN)
Walter Schenker, geboren 1943 in Solothurn, besuchte die Schulen in Solothurn und promovierte 1968 in Zürich über die Sprache Max Frischs. Von 1974 bis 1984 war er Professor für germanistische Linguistik in Trier, wo er auch heute lebt. Er erhielt unter anderem 1985 den Solothurner Literaturpreis.
DER ANLASS
Wer zum ersten Male nach Kiel fährt, sollte dies von der See aus tun. Es ist das Erlebnis einer ungeheuren und auch unausweichlichen Passivität, als hätte diese Einfahrt eine zeitaufhaltende Wirkung, oder als gäbe es da keinerlei Zeit zu verlieren.
Das Wasser war schwarz damals, und sobald man es genau ansah, war es grau wie Blei. Wir standen draußen auf der Brücke, nachdem wir zuvor auf rundum drehbaren Sesseln mit zum Teil kaputtem Plastik gesessen hatten, und jetzt lag uns noch die Discomusik aus dem Bauch des Schiffs in den Ohren. Es wunderte mich nicht, daß das Schiff durch Blei fahren konnte, durch abendliches Blei. Unaufhaltsam also sollte es der Bucht und Kiel entgegengehen mit dem leichten Stampfen und Schlingern, durch das sich der Motor überall bemerkbar machte. Doch obwohl wir auf die Einfahrt hatten achtgeben wollen, war es dann beinah der Zufall, daß wir es überhaupt bemerkten, wie wir in die Bucht einfuhren.
Das Wasser wurde schwarz durch die Lichter an den Ufern.
Der gegen den Horizont noch zart leuchtende Himmel lag mit der schwarzen Silhouette der Bucht in einer Umarmung. Wer da wen beleuchtete, die Lichter den Himmel oder der Himmel die Umgebung der Lichter, das blieb offen.
Von Minute zu Minute deutlicher uferte das Meer in die Bucht aus. Und alles war wie gefilmt, oder wie aus Glas, oder wie vor unendlich langer Zeit schon einmal geschehen, samt den jetzt sichtbar werdenden Autos, die ferngesteuert schienen, und samt den ankernden Schiffen im Hafen.
Perlengleich wie Kitsch also die Lichter um die Bucht von Kiel, aber Kitsch ist das Leben nie.
XXX
Ich habe drei Onkel, die Walter heißen wie ich. Alle sind tot.
Der eine, väterlicherseits, ist schon bei der Geburt oder kurz nachher gestorben.
Ein anderer, ebenfalls väterlicherseits, trat mit dem gleichen Namen die Nachfolge seines verstorbenen Bruders an – als könnte ein Name lebendig machen oder zumindest vergessen helfen.
Der dritte Onkel schließlich, auf der mütterlichen Seite, geboren 1906, gestorben 1936 an Scharlach, hatte im Rahmen seiner Ausbildung zum Arzt für innere Medizin ein Semester in Kiel belegt.
Als ich geboren wurde, war er schon sieben Jahre lang tot.
xxx
Kiel ist nicht am Ende der Welt. Aber es kann dies sein. Allein schon die Fische müssen für meinen Onkel Walter etwas Fremdes gewesen sein. Meine Mutter konnte selbst den Geruch von Fisch nicht ertragen. Deshalb gab es nie Fisch. Deshalb wurde Fisch für mich zu etwas auf leichte Art Verbotenem. Die Gräten waren eine Art Strafe. Ich habe ein bißchen auch noch heute die Angst, eine von den Gräten könne sich im Hals verfangen. Merkwürdig war es auch mit Fisch und dem Karfreitag. Fleisch war verboten, Fisch war gestattet. Weil das Essen an Karfreitag nicht schmeckte, man aß ja mit schlechtem Gewissen, wäre auch Fisch ein Essen mit schlechtem Gewissen gewesen und zudem kein richtiges Essen, da ja am Karfreitag richtiges Essen verboten war.
Auch der Anblick gefangener Fische, wie er in Kulturfilmen zum Meeresfischfang geboten wurde, erfreute nicht. Lebendige Fische lagen herum wie Gemüse. Es war einem, man müßte ihrem Sterben und allmählichen Ersticken zusehen. Das war anders als ein Schwein im Wagen auf dem Weg zum Schlachthaus, das fand ich in Ordnung, denn da würde der Tod schnell sein, und wir alle mußten sterben. Beim Fischen jedoch, wenn die gefangenen Fische im Boot stundenlang nach Luft schnappten und sich in der Qual des langsamen Erstikkens zuckend bewegten, wollte ich wegsehen und mußte gerade darum hinsehen. Das Sterben ist trauriger als der Tod, vielleicht lag es daran.
Einmal kam ein Walfisch in die Stadt. Auf einem Güterwagen war er ausgestellt beim Bahnhof und stank nach Teer und Formalin. Man hielt das Taschentuch vor die Nase. Also auch da der leise Ekel im Zusammenhang mit Fisch. Der Lehrer sagte, Walfische wären nicht Fische, sondern Säugetiere. Das änderte am Ekel nichts.
Wenn sich aber beim Eingang von Restaurants Fischkästen befanden, in denen Forellen warteten mit ruhiger Atmung und nur leichter Bewegung der Flossen an Rükken, Bauch und Schwanz, dann ging davon auch wieder eine Faszination aus, daß man nämlich Lebendiges zum Essen bestellen konnte – man brauchte nur an die entsprechende Stelle der Speisekarte zu zeigen, und mit einem Netz wurde der jetzt wild um sich schlagende Fisch herausgehoben, die andern Fische hatten sich bald wieder beruhigt.
Mein Onkel Walter wuchs bestimmt in einer Kindheit ohne Fischmahlzeiten auf, wo doch weder im Besteck meiner Großmutter noch dem meiner Mutter Fischbesteck vorhanden war.
Kiel muß ihm sehr fremd gewesen sein.
Vielleicht fuhr er eigens deshalb hin?
Er wollte ans Ende der Welt?
XXX
Fisch
Fisch essen mit dem Messer, das tut man nicht.
Die Dinge sollen für sich selber sprechen.
Am Karfreitag verwandelte das Haus sich in ein Trauerhaus. Ein Trauerfall in der Familie hatte sich ereignet. Alle Bewegungen wurden leise gemacht.
Die Dinge sprechen für sich selbst.
Am Tag, da meine Großmutter beerdigt wurde, starb mein Vater nach einer Operation auf der Intensivstation.
Mit kalten Schwingen überfliegt alles der Vogel Tod.
(Tod hat mit Leben nichts zu tun.)
Der Tod ist eine Wolke, die sich dahin und dorthin verschieben kann.
Der Tod ist eine räumliche Entfernung. Der Tod ist am andern Ende der Welt. Aber in Kiel war das Ende der Welt erreichbar. Ein Leben in der Ferne ist ähnlich wie der Tod. Der Tod und das Vergessen.
Das Leben und die Erinnerung.
Meinem toten Onkel Walter ans Ende der Welt zu folgen.
Eine Welt voller Fische.
Alle Dinge wie Fische.
Sterben wie die Fliegen.
Und so weiter.
XXX
Klavier
Mein toter Onkel Walter spielte Klavier weit über seinen Tod hinaus. Im Sommer, wenn die Fenster geöffnet waren, sagte meine Mutter zu mir: Hörst du? Das ist der Hanspeter Bühlmann, der Klavier spielt. Der Hanspeter Bühlmann war ein Nachbarssohn, viele Jahre älter als ich, aber ohne sein Klavierspiel wüßte ich seinen Namen nicht mehr. Er spielte über die Mittagszeit. So hat der Onkel Walter Klavier gespielt, fügte meine Mutter hinzu.
Ich bekam Klavierstunden.
Mein Onkel Walter spielte auch Violine. Er war überhaupt musikalisch.
Er brauchte nur irgendwo eine Melodie zu hören und konnte sie nachher spielen.
Mein Onkel Walter spielte zur Entspannung. Ein paar Takte auf dem Klavier und man ist ein anderer Mensch.
Das Klavier stand im schönen Zimmer. Goldene Kerzenhalter waren daran, die man in ihren Scharnieren bewegen konnte.
Am Freitag stellte meine Mutter die Klaviermappe in den Flur. Die Klavierstunde gehörte zum Freitag wie das kirchliche Gebot, am Freitag kein Fleisch zu essen.
Der Klavierlehrer war mit seiner Frau aus Wien gekommen und wohnte in einem kleinen Häuschen in einem andern Viertel der Stadt. Ein Holzzaun war ringsherum. Wenn ich das Fahrrad hinstellte, sah ich den Berg als eine riesenhafte und unüberwindbare Wand. Daß auf dem kleinen Dach der kleine Kamin rauchte, kann ich mich nicht erinnnern, aber man achtet ja nicht darauf und man bildet sich das Fehlen des Rauchs nur nachträglich ein. Der Klavierlehrer nahm mit mir Operettenklänge durch.
»Ach wie so trügerisch.«
»Glücklich ist, wer vergißt.«
Er und seine Frau lebten beide in der Musik. Richtig heimisch wurden sie wohl nie. Sie konnte man gelegentlich singen hören mit einer hohen Stimme.
Jahre später, die Klavierstunden waren längst zu Ende, ist mein Klavierlehrer gestorben. Seine Frau muß dann sehr allein gewesen sein an diesem fremden Ort und brachte sich in ihrem kleinen Häuschen um. Das kam in die Zeitung, man hatte es ja nicht sogleich entdeckt.
Das Ende der Klavierstunden war eher ein Versanden als ein Ende.
XXX
Es ist spät in der Nacht und immer noch niederdrückend heiß. Die Hitze ist die Hölle. Die geringste Bewegung bringt einen ins Schwitzen und aus der Besinnung.
XXX
Gräber
Meine Großmutter ging mit mir öfter zum Friedhof auf die Gräber. Es war immer ein schöner Spaziergang.
Die Wege waren aus Kies, und in der Mitte war eine Allee aus Ahornbäumen. (Diese Verbindung aus Ahorn und Kies sollte mir viele Jahre später beim Hotel Waterkant auffallen, und wie so manches an den Dingen erst nachträglich einleuchtet, so wurde mir diese Gemeinsamkeit zwischen dem Hotel Waterkant und dem Friedhof erst später bewußt.)
Meine Großmutter schaute, ob die Gräber schön gemacht waren. Wir holten mit der Gießkanne Wasser und begossen die Blumen, füllten das Weihwasser neu auf.
Zuletzt, immer zuletzt, gingen wir an Onkel Walters Grab. Sein Stein war rötlich. Auf ihm war ein Kelch mit einer Schlange eingemeißelt.
Jetzt ist er schon lange nicht mehr bei uns, sagte meine Großmutter. Mit einem Schwämmchen entfernte sie eine Spur Schmutz am Stein. So still vor dem Grab vermeinte ich zu spüren, wie er über mir mich beschirmte. Ein Turm von...
Erscheint lt. Verlag | 18.6.2018 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-7528-8448-7 / 3752884487 |
ISBN-13 | 978-3-7528-8448-7 / 9783752884487 |
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