Leere Gräber (eBook)
432 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-30961-6 (ISBN)
Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin und Journalistin. Heute ist sie als Autorin tätig und gibt Schreibkurse an Schulen und anderen Institutionen. Ihr Debütroman Fremde Hände erschien 2005. Ihr Werk umfasst Kriminalromane, Thriller, Liebesromane, Jugendbücher, Kurzgeschichten und Kolumnen. Petra Ivanov hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. zweimal den Zürcher Krimipreis (2010 und 2022).
Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin und Journalistin. Heute ist sie als Autorin tätig und gibt Schreibkurse an Schulen und anderen Institutionen. Ihr Debütroman Fremde Hände erschien 2005. Ihr Werk umfasst Kriminalromane, Thriller, Liebesromane, Jugendbücher, Kurzgeschichten und Kolumnen. Petra Ivanov hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. zweimal den Zürcher Krimipreis (2010 und 2022).
Montevideo, Uruguay
Der Wind pfiff durch die Gassen der verlassenen Altstadt. Er erfasste ein Blatt der Tageszeitung »El País« und wirbelte es durch die Luft. Wie ein Geist schwebte es über der Plaza de la Constitución, bevor es zu Boden segelte. Dort wand es sich zwischen einer PET-Flasche und den Resten einer Kartonschachtel. Als ein weiterer Windstoß vom Río de la Plata her über die Halbinsel fegte, wurde das Blatt erneut in die Höhe gehoben. Diesmal endete sein Flug, als es auf Widerstand stieß.
Ramón Penasso bemerkte das Zeitungsblatt nicht, das ihm am Schienbein klebte. Konzentriert glitt sein Blick über die bröckelnden Fassaden. Kaum waren die Läden geschlossen, glich das Quartier einer Geisterstadt. Einzig zwei Touristen standen mit Kameras vor der Iglesia Matriz, um den verblichenen Charme der Kirche einzufangen. Als das Klappern von Pferdehufen erklang, drehten sie die Köpfe. Ein Kartonsammler bog auf seinem Wagen um die Ecke, das dunkle Gesicht ausdruckslos.
Ramón umklammerte die Plastiktasche, die er bei sich trug, fester. Er hatte absichtlich den Weg durch die menschenleeren Gassen gewählt. Wenn ihm jemand folgte, würde er es hier rascher bemerken als im Zentrum, wo bis weit nach Mitternacht Betrieb herrschte. Doch bis jetzt war ihm niemand aufgefallen. Trotzdem drehte er eine weitere Runde durch die Altstadt, die sich vom Hafen bis zum Festungstor erstreckte.
Gitter schützten die Geschäfte vor Einbrüchen. Die meisten Fensterläden waren geschlossen, obwohl die heiße Nachmittagssonne längst verschwunden war. In den windstillen Ecken roch es nach Urin. Außer dem Kartonsammler und den Touristen waren nur einige Jugendliche unterwegs. Vielleicht habe ich mir die Gefahr eingebildet, dachte Ramón. Er versuchte, sich zu erinnern, wann er das erste Mal das Gefühl gehabt hatte, beobachtet zu werden.
Vor drei Monaten hatte er mit der Fähre von Buenos Aires nach Montevideo übergesetzt. In seiner Nähe war eine Frau gesessen, die immer wieder verstohlen in seine Richtung geblickt hatte. Er hatte ihre Neugier der Tatsache zugeschrieben, dass sein Gesicht in Argentinien bekannt war. Vielleicht hatte ihr Interesse aber nicht ihm als Privatperson gegolten. Möglicherweise hatte sie den Auftrag gehabt, ihn zu beschatten. Oder aber er hatte ihr bloß gefallen. Ramón hätte sich nicht als attraktiv bezeichnet, dazu war sein Kinn zu wenig markant, seine Nase zu lang. Einige Kilogramm weniger hätten auch nicht geschadet, doch sein Äußeres war ihm nie wichtig gewesen. Trotzdem stellte er immer wieder fest, dass Frauen sich von ihm angezogen fühlten. Gut möglich, dass die Unbekannte nichts über ihn gewusst, sondern lediglich versucht hatte, Kontakt zu ihm zu knüpfen.
Die Männer in Punta del Este hingegen hatten mit Sicherheit andere Absichten gehabt. Drei Wochen nach seiner ersten Schifffahrt war Ramón erneut nach Uruguay gereist, diesmal im Auto. Als er ein Café im noblen Badeort Punta del Este verlassen hatte, waren ihm zwei muskulöse Gestalten mit Sonnenbrille aufgefallen. Wenig später hatte er die beiden in der Nähe seines alten Peugeots entdeckt. Mit Schlägertypen kannte sich Ramón aus. Er war in La Boca aufgewachsen, einem Hafenquartier, das vielen italienischen Immigranten einst ein Zuhause geboten hatte. Früh hatte er gelernt, die Fäuste einzusetzen, wenn er seinen Besitz verteidigen oder sich Achtung verschaffen wollte.
Zu Hause hatte Ramón die Männer wieder vergessen. Bis er eines Abends spät in seine Wohnung zurückgekehrt war und das aufgebrochene Schloss an seiner Tür entdeckt hatte. Obwohl Einbrüche keine Seltenheit waren, hatte er nie besondere Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Er besaß wenig, das sich zu stehlen lohnte. Seinen Laptop nahm er meistens mit, wenn er aus dem Haus ging; der Fernseher war so alt, dass sich kaum ein Dieb die Mühe machen würde, ihn abzuschleppen. Seine Großmutter schimpfte, weil er mit sechsunddreißig Jahren immer noch wie ein Student lebte. Sie wollte ihn glücklich verheiratet sehen, bevor sie starb. Ramón fühlte sich noch nicht bereit dazu. Er zweifelte, ob er es je wäre.
Er war bei der Plaza Independencia angekommen, die den Anfang des modernen Zentrums von Montevideo bildete. Eine mehrspurige Straße führte um den Platz herum, vielen Omnibussen diente er als Endhaltestelle. Ramón schritt auf eine Bronzestatue des Volkshelden José Gervasion Artigas zu und legte den Kopf in den Nacken. Über ihm erschienen die ersten Sterne am klaren Himmel.
Der Einbrecher hatte seine Wohnung in ein Trümmerfeld verwandelt. Mitgenommen hatte er jedoch nur einen silbernen Bilderrahmen, einen Reserveakku sowie eine billige Uhr. Ramón hatte sich des Eindrucks nicht erwehren können, der Dieb versuche, ein Interesse an Wertsachen vorzutäuschen. In Wirklichkeit hatte er nach etwas Anderem gesucht.
»Seit wann bist du romantisch veranlagt?«, riss ihn eine Frauenstimme aus den Gedanken.
»Elena!« Ramón breitete die Arme aus. »Du bist schon da! Wie schön, dich zu sehen!« Er war selbst überrascht über das Ausmaß seiner Freude. Er hatte zusammen mit Elena Alvarez studiert, fast vier Jahre lang hatten sie nur Augen füreinander gehabt. Nach dem Studium hatten sich ihre Wege jedoch getrennt. Elena hatte sich nach einer Familie gesehnt, für Ramón hatte das Leben gerade erst begonnen. Ihre unterschiedlichen Erwartungen hatten einen Keil zwischen sie getrieben. Ein Kollege Ramóns hatte die Gunst der Stunde genutzt, um Elena Avancen zu machen. Drei Monate später war sie mit Gonzalo verlobt gewesen.
Ramón betrachtete seine ehemalige Freundin. Sie hatte ihr dichtes Haar zu einem Knoten zusammengebunden, doch einzelne Löckchen umrahmten ihr weiches Gesicht. Die vollen Lippen waren rot geschminkt, die Augenbrauen sorgfältig gezupft. Die helle Bluse, die sie trug, ließ sie eleganter erscheinen als zu Studentenzeiten, doch sie strahlte immer noch dieselbe unbändige Energie aus. Er dachte an die hitzigen Diskussionen, die sie geführt hatten, und an die leidenschaftlichen Nächte, die ihren Auseinandersetzungen jeweils gefolgt waren. Unweigerlich begann sein Herz, schneller zu schlagen.
Elena ignorierte seine ausgebreiteten Arme und küsste ihn kurz auf die Wange, wie es unter Bekannten üblich war.
»Gonzo«, stellte Ramón fest.
Elena zuckte die Schultern. »Er hat sich nicht verändert. Wenn er wüsste, dass du in Montevideo bist, würde er mich nicht aus den Augen lassen.«
Ramón schnaubte.
Elenas Augen funkelten. »Hör auf, Ramón! Gonzo war da, als ich ihn brauchte! Er ist ein großzügiger Mann, und er hat mir zwei wunderbare Kinder geschenkt. Es geht ihnen übrigens gut, danke der Nachfrage.«
Nur Elenas Körperhaltung verriet, wie sehr sie immer noch verletzt war, weil Ramón ihr seinen Beruf vorgezogen hatte. Bereits als Studentin hatte sie die Schultern leicht nach vorne gezogen, wenn sie sich zu schützen versuchte – eine Haltung, die nicht zu ihrer stolzen Erscheinung passte. Als Ramón sie betrachtete, fragte er sich, ob er einen Fehler begangen hatte. Wie hätte sein Leben ausgesehen, wenn er nicht den Drang verspürt hätte, sich zu engagieren? Wenn er, statt Missstände bekämpfen zu wollen, sich um seine eigenen Angelegenheiten gekümmert, eine Familie gegründet hätte? Ein müßiger Gedanke, denn in die Welt, mit der er täglich konfrontiert war, wollte er keine Kinder setzen.
»Du hast recht.« Ramóns Stimme war forsch und zärtlich zugleich. »Es steht mir nicht zu, dein Leben zu kritisieren. Wie geht es Gonzo? Arbeitet er immer noch bei der Bank?«
Elena seufzte. »Was führt dich nach Montevideo, Ramón?« Sie schlug einen leichteren Tonfall an. »Was ist so wichtig, dass sich ein Porteño dazu herablässt, uns einen Besuch abzustatten?«
Ramón begriff, dass sie die Rivalität zwischen den Bewohnern von Buenos Aires und Montevideo ansprach, um das Gespräch in unverfängliche Bahnen zu lenken. Er beschloss mitzuspielen.
»Nostalgie«, meinte er, mit einer ausladenden Geste auf die Umgebung deutend. »Ich wollte mir in Erinnerung rufen, wie Buenos Aires vor zwanzig Jahren ausgesehen hat.«
Elena schnalzte. Sie führte ihn in eine Seitenstraße, wo sie ein Bistro betraten, dessen Bänke mit verblichenem rotem Samt bezogen waren. Ramón setzte sich so, dass er die Tür im Blickfeld hatte. Inzwischen war er fast sicher, dass ihm niemand nach Montevideo gefolgt war, trotzdem ließ seine Aufmerksamkeit nicht nach. Dass er Elena in die Geschichte hineinzog, bereitete ihm Unbehagen. Doch er hatte keine andere Möglichkeit gesehen. Sie war die einzige Person, die nichts mit seinem heutigen Leben zu tun hatte und der er hundertprozentig vertraute.
Nachdem sie bestellt hatten, lehnte sich Elena zurück. »Erzähl«, befahl sie. »Ich sehe doch, dass dich etwas beschäftigt.«
Ramón legte die Plastiktasche auf den Tisch. »Ich muss dich um einen Gefallen bitten. Da drin befindet sich ein Paket. Wenn du innert dreißig Tagen nichts von mir hörst, schicke es ab.«
Elena kniff die Augen zusammen. »Was ist es diesmal? Wem willst du an den Kragen?«
»Je weniger du weißt, desto besser. Vertrau mir. Und erzähl niemandem davon. Bring das Paket einfach zur Post.«
»Wenn du in Gefahr bist, musst du …«
Ramón legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. »Es ist besser, wir reden nicht darüber.«
Elena schob...
Erscheint lt. Verlag | 1.1.2017 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Argentinien • Bruno Cavalli • Buenos Aires • Journalismus • Kriminalroman • Paraguay • Regina Flint • Schweiz • Spannung • Uruguay • Zürich |
ISBN-10 | 3-293-30961-5 / 3293309615 |
ISBN-13 | 978-3-293-30961-6 / 9783293309616 |
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