Verlust und Aufbruch (eBook)
720 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490257-9 (ISBN)
Elke Vesper hat selbst viele Jahre in dem Haus in der Kippingstraße gelebt, in dem sie ihre Familie Wolkenrath angesiedelt hat. Sie hat zahlreiche Romane veröffentlicht, in denen starke Frauenfiguren eine zentrale Rolle spielen. Elke Vesper arbeitet neben dem Schreiben als Psychotherapeutin, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Hamburg.
Elke Vesper hat selbst viele Jahre in dem Haus in der Kippingstraße gelebt, in dem sie ihre Familie Wolkenrath angesiedelt hat. Sie hat zahlreiche Romane veröffentlicht, in denen starke Frauenfiguren eine zentrale Rolle spielen. Elke Vesper arbeitet neben dem Schreiben als Psychotherapeutin, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Hamburg.
2
Marthe hatte einiges zu tun mit ihrem Hass. Das war keine bellende Wut, kein keifender Ärger, kein knurrender Groll, ihr Hass war schneidend, beißend, ihr Hass war auf Vernichtung aus. Ihr Hass machte sie bekannt mit der Mörderin in ihr.
Marthe hasste ihren Mann dafür, dass sie als ungebetener Gast in diesem Haus wohnen musste, weil er mit der vielversprechenden Firma Wolkenrath und Söhne in Ratekau Schiffbruch erlitten hatte. Sie waren nun elf Jahre lang verheiratet, in diesen Jahren hatte sie fünf Kinder geboren, zwei Kinder an den Tod verloren, und das alles, obwohl sie nie darauf erpicht gewesen war, Mutter zu werden, denn im Grunde mochte sie Kinder nicht besonders.
Sie hatte mit diesem Mann ein Desaster nach dem anderen erlebt, all seine Versprechungen hatten sich als schillernde Seifenblasen entpuppt. Sie hatte nicht Mutter werden wollen, sondern Gattin eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Nun war sie Mutter, auch noch von drei Söhnen, obwohl sie unter einer beliebigen Menge von Kindern die Mädchen meistens noch am ansprechendsten fand, und sie war alles andere als eine Gattin, sie war die Frau eines Bankrotteurs.
Bei Kriegsende hatte sie Hoffnung auf eine hellere Zukunft geschöpft. Dritters Fähigkeit, günstige Gelegenheiten zu erkennen und zu ergreifen, hatte ihr als Licht in der Nachkriegsdüsternis gedient. Den Traum, Bürgermeisterin zu werden, hatte sie schnell aufgegeben, stattdessen musste sie wie eine Bäuerin auf matschigem Boden die Kuh Hyacinthe melken und die Kartoffeln aus der Erde klauben. Das war zwar nicht märchenhaft, aber während alle hungerten, gab es bei ihnen Milch und Kartoffeln satt. Außerdem gaukelten ihres Mannes Visionen für die Zukunft ihr das Bild einer Unternehmersgattin vor.
Sie erinnerte sich noch sehr gut daran, wie sie ihn kennengelernt hatte, einen stattlichen gutgekleideten Mann, der sie zum Plausch bei Kaffee und Kuchen in das exklusive Hotel Vier Jahreszeiten an der Binnenalster einlud und zum Tanztee ins Hotel Atlantik an der Außenalster, wo er tanzte wie ein junger Gott, obwohl er auch damals schon für ihre Verhältnisse ein alter Mann gewesen war. Er hatte sie mit vielem verführt, das aussah wie Gold, sich aber später als Blech entpuppte. Er hatte ihr sogar eine Zukunft in dem herrschaftlichen Jugendstilhaus in der Johnsallee in Aussicht gestellt, das er von einer jüdischen Familie für Brosamen erworben hatte. Stattdessen war er bei ihr und ihrer Mutter in der Gärtnerstraße untergekrochen und hatte sein Haus in der Johnsallee vermietet, um wenigstens ein geringes Einkommen zu haben. In so vielem hatte er sie getäuscht, und immer wieder hatte sie ihm verziehen, doch inzwischen überschritt die Menge dessen, was sie ihm verzeihen musste, ihre Kapazität des Verzeihens, so kam es ihr zumindest vor, seit sie in der Kippingstraße gestrandet waren.
Schöne Bilder, auch Fotos, müssen in Gold gerahmt sein, so lautete Marthes Credo, und deshalb stand ihr Hochzeitsfoto in einem Rahmen aus breitem, in Gold lackiertem Holz sogar jetzt, da sie kaum eigene Möbel hatten, auf dem Nachttisch neben dem Foto ihrer Mutter, die leider nach Cuxhaven zurückgezogen war, als Dritter mit seiner Familie in Scharbeutz Unterschlupf vor dem Krieg gefunden hatte.
Marthe hatte auf der Flakstation nicht lange in der Erde buddeln müssen, bald hatte sie eine Magd gehabt, und dann kam auch der Mann, den bald alle Onkel Wertmann nannten. Wertmann war in der Lage, eine unglaubliche Zuversicht zu verbreiten, das geschah allein, weil er Zuversicht und Sicherheit und Weitsicht im Überfluss besaß und wie absichtslos um sich herum verstreute. Bald ging ein Knecht Onkel Wertmann zur Hand bei der Bewirtschaftung der riesigen ehemaligen Flakfläche.
Die Anzahl der Bewohner der Flakstation wuchs ständig, und alle wurden satt. Das war in diesen Jahren nach dem Krieg ein Segen, von dem die Städter nur träumen konnten, weshalb sie in die Dörfer einfielen wie Kartoffelkäfer und die wertvollsten Dinge ihres Haushalts gegen Eier, Speck und Kartoffeln tauschten.
Marthe hatte ihr Leben als Ehefrau mit einer kleinen Aussteuer begonnen, inzwischen war ihr Haushalt vom Feinsten, zum einen, weil Dritter noch im »Reich« die »Nachlässe« der Juden billig ersteigert hatte, zum anderen, weil Marthe die meisten wirklich schönen Sachen ihres Hausrats gegen Eier und Kartoffeln und manchmal gegen Speck von den hungernden Städtern erworben hatte.
Sie hatte die Hühner gehasst, die auf dem eigens eingezäunten Acker im Matsch die ihnen hingeworfenen Körner aufpickten, deren Kot ätzend stank – Marthe bekam Atemnot, wenn der Knecht das Hühnerhaus mit der Spritze reinigte –, aber die Hühner hatten ihnen mehr Reichtum beschert, als es Dritter mit seinen unternehmerischen Spinnereien gelungen war.
Nun hatte Dritter wieder einmal alles vergeigt. Monatelang hatten sie gebangt, ob sie wenigstens die Baracke verkaufen könnten, die er als Fabrikgebäude ausgebaut hatte, um angeblich Herde herzustellen, wo große Zeichentische wie Schmuckstücke aufgereiht waren und sich davor sogar zeitweilig schon Zeichner aufgebaut hatten. Dritter, so war ihr jetzt klar, ernüchtert nach all den Illusionen, war ein Schaumschläger, ein Versager, ja, gewissermaßen ein Heiratsschwindler. Für all das hasste sie ihn.
Und jetzt war sie hier in diesem Haus gestrandet, das damals zu seiner Heiratsschwindelei dazugehört hatte, denn er hatte sie in dieses Haus geführt und so getan, als wäre es gewissermaßen auch seines, auf jeden Fall, als sei es das Haus seiner Familie, und diese Familie war unglaublich vorzeigbar: gebildet und schön und illuster. Jonny Maukesch, der Kapitän der Woermann-Linie, ein so schmucker Mann! Er hatte damals bei dem ersten Treffen seine Kapitänsuniform getragen, und seine Augen hatten so blau geblitzt, dass sie nicht umhinkam, ihn sich auf der Brücke eines Schiffes auszumalen, wo er die Richtung wies. Vielleicht, so grübelte Marthe heute zuweilen, habe ich mich von Dritter nur zum Heiraten verleiten lassen, weil ich eigentlich in Jonny Maukesch verliebt war. Eigentlich hätte sie lieber den Kapitän geheiratet, aber der war nun mal vergeben an die großartige Stella, auch das ein Argument, das für Dritter sprach, dass er nämlich eine so brillante Schwester hatte.
Sogar Cynthia in der strengen Kluft einer Anstaltsleiterin, gestärkte Bluse und Granatbrosche über blauem Faltenrock, sogar Eckhardt mit seinem seiner Frau ergebenen hündischen Blick, all das hatte sie für Dritter eingenommen, wirkte es doch so gediegen, so hamburgisch, so Vertrauen einflößend.
Schon damals hatte Dritter das Bild geschönt. Den Juden Aaron und seine etwas weltfremde Frau Lysbeth hatte er beim ersten Treffen vor ihr versteckt. Sonst hätte sie ahnen können, dass in dieser Familie nicht alles von purem Gold war, und seinen Bruder Johann und dessen dreizehn Kinder hatte Dritter ihr nie offenbart, das war zufällig vor ein paar Tagen aufgeflogen, als eine Todesanzeige ins Haus flatterte: Johann Wolkenrath wurde beerdigt. Darunter eine lange Liste von Kindern. Dritter hatte die Anzeige vor Marthe nicht so schnell verschwinden lassen können, wie er es beabsichtigt hatte. Also hatte er ihr Rede und Antwort stehen müssen.
So hatte sie erfahren, dass dieser Bruder der Auslöser dafür gewesen war, dass Dritter mehr als vier Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Auch das eine Sache, die er ihr nicht gestanden hatte, die sie erst von dem Arzt erfahren hatte, der 1941 die Ehetauglichkeitsuntersuchung durchgeführt hatte. Was verschwieg Dritter ihr noch? Mittlerweile hielt Marthe alles für möglich.
Aaron und Lysbeth waren ihr inzwischen die liebsten Familienmitglieder. Für deren Unterstützung bei ihrer ersten Geburt, der von Alexander dem Vierten, würde sie ihnen auf ewig dankbar sein. Die beiden hatten auch sofort das Gartenzimmer geräumt, damit Dritter und seine Familie ein eigenes Zimmer bekamen. »Früher hat die Tante da gelebt, jetzt wohnt ihr da, wir haben viel übrig für nette Nachbarn.« So waren die beiden.
Wenn sie ehrlich zu sich war, so wusste Marthe, dass sie das für Aaron und Lysbeth nicht getan hätte. Sie hätte es wahrscheinlich für niemanden getan, denn sie hatte den Eindruck, dass man im Leben seinen Platz erobern und behaupten musste, ihn freiwillig herzugeben, grenzte an Dummheit.
In dieser Hinsicht traf sie sich mit Dritter, in jeder anderen Hinsicht unterschieden sie sich voneinander wie ein Buch und ein Hammer. Sie hatten keinen Schnittpunkt, selbst bei ihren drei Söhnen war Marthe nicht davon überzeugt, ob ihr Mann und sie sich in der Liebe zu den Jungs trafen. Für Dritter erfüllten die drei gewisse Aufgaben: Alex sollte höher hinaus, er sollte Abitur machen und zeigen, was in Dritter gesteckt hätte, wenn er in seiner Entfaltung nicht durch die widrigen Umstände seiner Herkunft beschnitten worden wäre. Wilhelm sollte seinem Vater zur Hand gehen, er war praktisch veranlagt, so hatte Dritter entschieden und ihn bereits auf der Flakstation zu einfachen Arbeiten herangezogen, was leicht gewesen war, weil Onkel Wertmann, der im Grunde genommen den Laden geschmissen hatte, es verstanden hatte, Wilhelm so zu begeistern, dass der Junge ihm wie ein Welpe folgte. Und Peter, was war Peter für Dritter? Marthe wusste es nicht, denn Dritter übersah seinen dritten Sohn meistens, sie vermutete jedoch, dass er stolz auf dessen hübsches Gesicht und seine anschmiegsame Art war. Vielleicht bot Peter seinem Vater auch eine gewisse Befreiung von seinen Pflichten als Ehemann. Peters Zärtlichkeiten, seine körperliche Nähe, der Duft seiner Haut, die Berührung durch seine weichen Hände, all das beglückte Marthe mehr, als Dritter sie je hatte...
Erscheint lt. Verlag | 26.9.2018 |
---|---|
Reihe/Serie | Die Geschichte der Wolkenraths |
Die Geschichte der Wolkenraths | |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 68er • Dresden • Familiensaga • Frauenschicksal • Geteiltes Deutschland • Hamburg • Studentenrevolte • Wirtschaftswunder |
ISBN-10 | 3-10-490257-7 / 3104902577 |
ISBN-13 | 978-3-10-490257-9 / 9783104902579 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 6,0 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich