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Anmut und Feigheit (eBook)

Erzählungen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31871-5 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
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Liebe ist nichts für Feiglinge - Frank Schulz blickt in seinen Erzählungen hinauf zu Wolke 7 und hinab in die Abgründe der Seele Buch des Monats August 2018 bei NDR Kultur Die Liebe, sie trifft uns alle, und meist ist sie kein Zuckerschlecken, vor allem dann nicht, wenn die Jahre vergehen. Frank Schulz folgt seinen Protagonisten wie ein Privatdetektiv, er nimmt ihre Seelen unter die Lupe - aber er erschrickt nie über das, was er findet. Schulz, der Chronist des ganz alltäglichen Lebens und all seiner Untiefen, fängt den Klang von gesprochener Sprache ein wie niemand sonst. Ein Juniorsenior (gerade 60) liefert sich per SMS ein Verbal-Pingpong mit seiner jungen Freundin, das so gleichberechtigt fies ist, dass man ganz verzaubert ist: das muss dann doch wohl Liebe sein! Ein Mann und eine Frau schreiben sich Briefe, die der jeweils andere immer erst zwanzig Jahre später öffnen darf. Und überhaupt: Älterwerden ist durchaus keine friedliche Angelegenheit. Wenn die Augen und das Gedächtnis zum Beispiel gerade genug nachgelassen haben, dass man sich, wie die Unternehmerwitwe im Spreewaldresort, nicht mehr sicher ist, ob der Gatte beim Wandern in die Schlucht gestürzt ist - oder ob man selbst ihn ein bisschen geschubst hat. Frank Schulz, das wird in diesem Erzählband einmal mehr klar, kennt sich aus mit den Schwachheiten der Verliebtheit, den Feigheiten des Egos, mit den brutalen Auswüchsen von Einsamkeit, mit den herzzerreißenden Momenten der Wahrheit. 'Schulz ist ein Meister der Milieubeschreibung.' Die Zeit

Frank Schulz, Jahrgang 1957, wurde für seine Romane vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Hubert-Fichte-Preis (2004), dem Irmgard-Heilmann-Preis (2006) und dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (2015). Zwischen 2012 und 2016 erschienen seine drei Onno Viets-Romane Onno Viets und der Irre vom Kiez, Onno Viets und das Schiff der baumelnden Seelen und Onno Viets und der weiße Hirsch. Zuletzt erschien der Erzählband Anmut und Feigheit (2018).

Frank Schulz, Jahrgang 1957, wurde für seine Romane vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Hubert-Fichte-Preis (2004), dem Irmgard-Heilmann-Preis (2006) und dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (2015). Zwischen 2012 und 2016 erschienen seine drei Onno Viets-Romane Onno Viets und der Irre vom Kiez, Onno Viets und das Schiff der baumelnden Seelen und Onno Viets und der weiße Hirsch. Zuletzt erschien der Erzählband Anmut und Feigheit (2018).

[2018]

Szenen in Beige


Hellgraue Hosen, und überm dicken mittelgrauen Pullover eine – ha! – beigefarbene Funktionsweste. Die Füße V-förmig gestellt, die Finger im Kreuz verschränkt, beugt der betagte Herr sich vor, bis der Schirmstutzen seiner dunkelgrauen Schiebermütze gegen das Schaufenster stößt. Dann bleckt er das Gebiss.

Vorbildlich, der alte Zausel, denkt Kortsch, während er sich nähert; Gebiss blecken beim Gucken: ungeschriebenes Greisengesetz. Die Weste: sicher kugelsicher, denkt er und lächelt, zugegeben: blasiert. Er wirft den Gedanken auf, ob er all die Einfälle in seinem iPhone notieren soll, verwirft ihn aber gleich wieder. Er hasst dessen Tastatur-Attrappe. Und diktieren, mitten auf dem Bürgersteig? So weit kommt’s noch. Außerdem fiele ihm jetzt so auf Anhieb kaum wieder ein, wie noch mal gleich die Diktier-Funktion funktioniert. Einfach hoffen, dass er sich alles merken kann, um es Köhler erzählen zu können.

Als er noch drei Schritte von dem alten Herrn entfernt ist, erhält Kortsch eine SMS. Der alte Herr fährt zusammen und starrt den herannahenden Kortsch an, und sofort grault sich der. Weil er vergessen hat, das iPhone leise zu stellen, als er aus dem Haus gegangen ist, und wegen des Geräuschs an sich. Zum x-ten Mal nimmt er sich vor, Yvonne zu fragen, wie er den Ton, mit dem eine Kurznachricht angekündigt wird, ändern kann. Ist der Pfiff einer (Miniatur-)Dampflok eines beamteten Kulturmenschen nicht überaus unwürdig? Und zudem schämt sich Kortsch insofern, als seinen gedanklichen Reflexen (Zausel, Greisengesetz, kugelsichere Weste) die Reflexion folgt. Unweigerlich. So schnell fliegt kein Bumerang.

Irgendwo hat Kortsch mal gelesen, dass man andere Menschen als alt empfindet, wenn sie mindestens fünfzehn Jahre älter sind als man selbst. Nicht zum ersten Mal wird ihm bewusst, wie viel peinliche Milde, seichte Überheb- und Selbstherrlichkeit aus dieser Haltung sprechen. Und wie viel Angst.

Nach wie vor im Fokus des alten Mannes, spitzt Kortsch die Lippen und hebt die linke seiner überzüchteten Brauen, indes er in seinen Mantel greift; dabei rollt er die Augen, sodass er mit ein und demselben Schwenk erstens selbstironische Technophobie signalisieren, zweitens direkten Blickkontakt vermeiden sowie drittens seine Lust zu rätseln befriedigen kann, welche der Waren in jenem Schaufenster wohl des Westenträgers Interesse geweckt haben mag: die rosafarbene Faszienrolle? Der Kompressionsstrumpf-Anzieher MediButler? Den Rollator zum Einführungspreis von € 259 braucht er ja ganz offensichtlich noch nicht. All das im Vorübergehen. Ha! Synapsen 1a geschmiert.

Den starrenden, zähnefletschenden Greis hinter sich lassend, gewahrt Kortsch allerdings, dass er nicht sein iPhone zu fassen bekommen hat, sondern vielmehr den Event-Rekorder, den Dr. Tanners MTA ihm vorhin um den Hals gehängt hat. Zufällig im selben Moment beginnt die Manschette um seinen linken Oberarm sich unterm Mantelärmel aufzublähen, begleitet von einem Surren. Automatische Blutdruck-Messung. So wird das jetzt alle zwanzig Minuten gehen, die nächsten vierundzwanzig Stunden lang. Kortsch lässt die Linke hängen, während er sein iPhone aus der Innentasche fischt und mit ein-, zweimal Daumentippen und -wischen befragt.

Die Nachricht lautet:

Ja, mach ich. Schalt die Autokorrektur wieder ein!!!

Als Absenderin steht da Betreuerin. So beliebt er Yvonne zu bezeichnen, seit sie zu ihm gezogen ist, Ende letzten Jahres, ein paar Wochen nach seinem leichten »Infarkt im Kleinhirnschenkel links«. Dreiundzwanzig Jahre jünger als er, Kortsch, ist sie. Auch trotz sechs Jahren glücklichen Zusammenseins vermag er nicht in wünschenswerter Tiefe zu begreifen, was zum Kuckuck sie an ihm zu finden meint. Er ist kein Hollywood-Star – und sieht auch nicht so aus –, sondern eben Beamter. Und sieht auch noch so aus. Und sie eine attraktive Mittdreißigerin mit Charme, Humor und Aussichten auf Habilitation. Irgendwas stimmt mit ihr nicht. Hoffentlich merkt sie’s nicht, solang er lebt.

Kortsch liest seine Kurznachricht nach, die Yvonne zu ihrer galligen Replik veranlasst hat.

Uch bring Brätchen mot. Denkst du an Kloüaüoer?

O. k.

O. k., auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. Nachdem die Blutdruck-Manschette wieder erschlafft ist, antwortet er auf Yvonnes Ansinnen, die automatische Korrekturfunktion wieder zu aktivieren:

Den Trugel werd uch tin!

*

Auf der Feier seines sechzigsten Geburtstags hatten er und Köhler sich mit Yvonne und ihrer Freundin Wiebke »krass gefetzt«, wie Wiebke sich ausdrückte. (Bis auf den heutigen Tag hat sich Kortsch nicht daran gewöhnen können, dass Yvonne und die Freundinnen und Freunde aus ihrer Alterskohorte an diesem albernen ›krass‹ – oder noch schlimmer: ›voll krass‹ – ihres Jugendjargons festhielten; und Yvonnes Nachweis, dass er und die Freundinnen und Freunde aus seiner Alterskohorte es mit ›geil‹, ›echt geil‹, ›echt ätzend‹ und so weiter keinen Deut anders hielten, half ihm auch nicht weiter.)

»Noch würdeloser«, so Köhler vom edlen Grappa befeuert, »als das eigenhändige Gescrabbel auf dieser Winztastatur ist es ja wohl, die Verantwortung für die Verstümmelung allfälliger Simse zu deligieren!«

»Deligieren?«

»Na ja, an die Autokorrektur eben. Oder an Schiri oder wie die heißt.«

Die Damen lächelten schief.

»Ist doch wahr!«, tönte Köhler. »Ihr tippt ›Heilerde‹ und nehmt billigend in Kauf, dass ›Heil Hitler‹ oder so was dabei rauskommt.«

»Quatsch«, ereiferte sich Wiebke; Yvonne aber lachte nur.

»O doch. Und überhaupt.« Kortsch beeilte sich, in dieselbe Kerbe zu hauen. »Abgesehen davon, dass diese kümmerliche Tastatur für normale männliche Wurstfinger völlig ungeeignet ist – die QWERTZ-Belegung ist allemal idiotisch.«

»Die was?«

»Na, die übliche Belegung der Tasten mit den üblichen Buchstaben.«

»Wieso denn das, wenn sie doch üblich ist?«

»Na ja, herrje, im Zehnfingerblindsystem erfüllt die ja ihren Sinn, aber doch nicht auf dieser … ätzenden Miniaturimitation einer Tastatur! Warum sind die angeblich so genialen Apple-Nerds denn nicht auf den Bolzen gekommen, die Lettern schlicht und einfach alphabetisch anzuordnen? Dann bräuchte man als Zehnfingersystemiker nicht ständig wie ein Idiot herumzusuchen.«

»Wieso denn das, wenn du’s doch angeblich blind –«

»Na, weil ›blind‹ eben nur haptisch funzt und beidhändig, und dafür ist diese idiotische Tastatur eben viel zu mickrig; davon rede ich doch die ganze –«

Und so weiter, und so fort. Als Höhepunkt der hitzigen Debatte hatte Köhler in Yvonnes iPhone hineingerufen: »Siri, wir wissen, wo dein Auto steht!« Und als leidenschaftlicher Fußball-Hasserin musste man Yvonne den Witz dann auch noch erklären, Siri gleich Schiri gleich Abkürzung für Schiedsrichter, und dass Schiedsrichter von den Fanchören gern mal daran erinnert werden, dass ihre Autoreifen angreifbar sind, insbesondere bei Fehlentscheidungen, und bei all den langwierigen Erläuterungen konnte man amüsierte Langmut vorspiegeln, dabei machte es geradezu Spaß, den bis in die Niederungen der Popkultur hinunter bewanderten Weltversteher zu geben, und so weiter und so fort. Ein prima Fest.

 

Es anzuzetteln, hatte Kortsch lange gezaudert. Zuvor hatte er beim Abendessen Yvonne gegenüber einen Versuchsballon steigen lassen. »Die Geburtstagsfeier findet in aller Stille statt.«

»Mein Beileid.«

»Was ein zünftiger Senior ist«, versetzte Kortsch, »der schätzt nun mal die Gemütlichkeit, ja Ruhe und Besinnlichkeit. Auf den Zapfen gehauen wird erst wieder zum Fünfundsechzigsten.«

»Ist das nicht einigermaßen widersinnig?«

»Wann, wenn nicht jetzt, soll es denn noch gelingen, dieses deprimierende Prinzip der Dezimierung zu überwinden?«

»Dezimierung. Witzig, witzig.«

»Ist doch wahr … O.k., den zehnten Geburtstag zu feiern leuchtet ja noch ein. Den zwanzigsten erst recht, zu schweigen vom dreißigsten. Den vierzigsten und fünfzigsten zu begehen aber war schon fragwürdig genug. Nix da! Der sechzigste fällt aus. Dixit senior in spe.«

Seit einem halben Jahr bereits hatte er die Rede vom Seniorentum strapaziert. Genauer: seitdem er aus dem Newsletter der Deutschen Bahn AG erfahren hatte, ›Personen ab sechzig Jahren‹ hätten für die BahnCard 50 Anspruch auf ›Seniorenrabatt‹.

Ein Schock. Empfanden Leute Leute als alt, die mindestens fünfzehn Jahre älter waren als sie selbst, so empfanden Leute wie Kortsch sich als locker fünfzehn Jahre jünger, als sie nun mal waren. Seniorenrabatt, Seniorenteller … furchtbar. Wie sang doch Stoppok seinerzeit so lustig: von der »harten Zeit zwischen Twen-Tours und Seniorenpass«? Die war dann ja wohl tatsächlich bald vorbei. Da half nur noch Selbstironie.

Und kurz darauf, vier Monate vorm Jubiläum, sollte er die bitterer nötig haben, als er je befürchtet hätte. Jene acht Oktobertage 2016 würde er zeit seines Lebensabends nicht vergessen: den Moment nachts um vier, als er verschwitzt aufwacht und beim Gang zur Toilette plötzlich von ›starker Fallneigung nach links‹ überwältigt wird, sodass er sich an Wänden und Türzargen...

Erscheint lt. Verlag 16.8.2018
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alter • Anmut und Feigheit • Erzählungen • Frank Schulz • Hagener Trilogie • Liebe • Onno Viets • Trennung
ISBN-10 3-462-31871-3 / 3462318713
ISBN-13 978-3-462-31871-5 / 9783462318715
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