Schatten im Paradies (eBook)

Roman

(Autor)

Thomas F. Schneider (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
720 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31912-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schatten im Paradies -  E.M. Remarque
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»Es schien mir ... schon lange nicht mehr merkwürdig, einen anderen Namen zu haben und mit dem Pass eines Toten zu leben - im Gegenteil, eher passend.« Nach einer langen Flucht vor dem nationalsozialistischen Deutschland erreicht der regimekritische Journalist Robert Ross 1944 endlich das vermeintliche Paradies Amerika. Doch trotz der Liebe zu der schönen Russin Natascha bleibt er in der neuen Welt ein Fremder ... Ein großer Roman über die Liebe zur Kunst, die Entfremdung im Exil und die Sehnsucht nach Heimat. Dieser nachgelassene Roman Remarques lag bislang nur in einer stark gekürzten und redaktionell entstellten Fassung vor. Nun erscheint er erstmals in der vollständig rekonstruierten Urfassung.

Erich Maria Remarque, 1898 in Osnabrück geboren, besuchte das katholische Lehrerseminar. 1916 als Soldat eingezogen, wurde er nach dem Krieg zunächst Aushilfslehrer, später Gelegenheitsarbeiter, schließlich Redakteur in Hannover und Berlin. 1932 verließ Remarque Deutschland und lebte zunächst im Tessin/Schweiz. Seine Bücher »Im Westen nichts Neues« und »Der Weg zurück« wurden 1933 von den Nazis verbrannt, er selber wurde 1938 ausgebürgert. Ab 1939 lebte Remarque in den USA und erlangte 1947 die amerikanische Staatsbürgerschaft. 1970 starb er in seiner Wahlheimat Tessin.

Erich Maria Remarque, 1898 in Osnabrück geboren, besuchte das katholische Lehrerseminar. 1916 als Soldat eingezogen, wurde er nach dem Krieg zunächst Aushilfslehrer, später Gelegenheitsarbeiter, schließlich Redakteur in Hannover und Berlin. 1932 verließ Remarque Deutschland und lebte zunächst im Tessin/Schweiz. Seine Bücher »Im Westen nichts Neues« und »Der Weg zurück« wurden 1933 von den Nazis verbrannt, er selber wurde 1938 ausgebürgert. Ab 1939 lebte Remarque in den USA und erlangte 1947 die amerikanische Staatsbürgerschaft. 1970 starb er in seiner Wahlheimat Tessin.

I


Ich wohnte damals im fünfzehnten Stock eines Hauses in der 57. Straße in New York. In dieser Etage sollte sich vor vielen Jahren ein Puff befunden haben; jetzt war sie längst aufgeteilt in Ein- und Zweizimmerwohnungen. Über mir, auf dem Dach, befand sich noch eine Anzahl kleiner Penthaus-Apartments. Sie hatten Terrassen und waren sehr begehrt; aber sie waren fast alle in den Händen von Schwulen. Die Homos in New York wissen immer, wo die besten Unterkünfte zu finden sind. Man konnte sie leicht schon an ihren Hunden erkennen; um die Zeit, als ich dort lebte, waren es Zwergpudel. Auch da gab es Klassen und Unterschiede. Es war nicht gleichgültig, ob man einen weißen, grauen, schwarzen oder pfirsichfarbenen hatte; einige »kesse Väter« verstiegen sich sogar zu mächtigen Königspudeln, um ihre Männlichkeit zu betonen. Auch die Art, wie die Tiere getrimmt waren, spielte eine Rolle, – ob kraushaarig wie ein Malteser, langhaarig wie ein Kerry Blue-Terrier, oder mit Bäffchen und geschoren wie ein Zirkusvieh. Morgens früh und abends spät waren die Aufzüge voll von ihnen; dann wurden sie auf die Straße geführt zum Scheißen. Zu beiden Seiten der Fahrstraße sah man sie in den Abflußrinnen neben den Trottoirs hocken, von ihren stolzen Besitzern an der Leine gehalten, – in New York durften sie nicht frei herumlaufen und ihre Bedürfnisse auf den Gehsteigen erledigen. Sie wirkten dann wie eine Allee von Sphinxen, die über metaphysische Probleme grübelten. Kunitzky, der Besitzer des Zeitungskiosks an der Ecke, wurde jedesmal um diese Zeit sehr nervös. Pudel sind flink und wendig, und die Tucken ließen sie, wenn kein Polizist in der Nähe war, trotz der Vorschriften gern ein paar Minuten frei herumrennen; dabei glitten sie oft unter das Ausgabebord des Kiosks, wo Kunitzky, der drinnen war, sie nicht sehen konnte, und bepißten rasch die aufgehängten Umschläge der Magazine, die damit ruiniert waren. Besonders pfiffig war dabei der champagnerfarbene Pudel Renée der Tucke Jasper. Kunitzky hatte ihn schon öfter angezeigt, aber er mußte ihn in flagranti erwischen, wenn er Erfolg haben wollte. Renée war dafür zu schnell und er schien zu wissen, worum es ging. Jasper fütterte ihn dafür in der Bäckerei um die Ecke mit Apfelkuchen. Das Ganze war etwas mehr als ein harmloser Ulk. Kunitzky haßte Schwule und hatte eine Fülle von Bezeichnungen für sie, die er nicht für sich behielt, – außerdem hatte er Renée mit Hamburger Bouletten zu vergiften versucht. Beides traf Jasper ins Kerngehäuse.

 

Ich lebte in dieser Zeit in einem sonderbaren Zustand in Amerika, – so, als ob ich gleichzeitig zehn und fünfunddreißig Jahre alt sei. Ich war vor einigen Monaten mit einem Frachtdampfer aus Lissabon angekommen und konnte nur wenig Englisch, – das war, als wäre ich halb stumm und halb taub und von einem anderen Planeten hier ausgesetzt worden. Es war auch ein anderer Planet, denn in Europa herrschte Krieg.

Dazu kam, daß meine Papiere nicht in Ordnung waren. Ich hatte zwar, durch viele Wunder, ein gültiges amerikanisches Visum, mit dem ich angekommen war; aber mein Paß lautete auf einen anderen Namen als meinen. Die Immigrationsbehörden waren mißtrauisch geworden und hatten mich in Ellis Island festgesetzt. Nach sechs Wochen hatten sie mir dann eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate gegeben; in dieser Zeit sollte ich mir eine Einreisegenehmigung in ein anderes Land besorgen. Ich kannte das von Europa her. Ich hatte dort seit Jahren so existiert, – nicht von einem Monat, sondern von einem Tag zum andern. Als deutscher Emigrant war ich ohnehin seit 1933 offiziell tot, – jetzt für drei Monate nicht mehr auf der Flucht sein zu müssen, war bereits ein unfaßbarer Traum. Es schien mir auch schon lange nicht mehr merkwürdig, einen anderen Namen zu haben und mit dem Paß eines Toten zu leben, – im Gegenteil, eher passend. Ich hatte den Paß in Frankfurt geerbt; der Mann, der ihn mir am Tage, als er starb, geschenkt hatte, nannte sich nach ihm Ross. Ich hieß also ebenfalls Robert Ross. Meinen wirklichen Namen hatte ich fast vergessen. Man kann viel vergessen, wenn es ums nackte Leben geht.

 

In Ellis Island hatte ich einen Türken getroffen, der vor zehn Jahren schon einmal in Amerika gewesen war. Ich wußte nicht, weshalb man ihn jetzt nicht wieder einreisen ließ; ich fragte auch nicht danach. Ich hatte zu oft erlebt, daß man Leute auswies, einfach weil sie lebten. Der Türke gab mir die Adresse eines Russen, der in New York wohnte und dem sein Vater einmal auf der Flucht vor zwanzig Jahren in Konstantinopel geholfen hatte. Der Türke hatte ihn einmal besucht; er wußte aber nicht, ob der Russe noch lebte. Als ich freigelassen wurde, ging ich trotzdem sofort hin. Es war selbstverständlich, daß ich das tat; ich hatte seit Jahren so gelebt. Leute, die auf der Flucht waren, mußten durch Zufälle weiterleben, und je unwahrscheinlicher sie waren, desto normaler kamen sie einem vor. Es waren die Märchen von heute; sie waren nicht sehr erheiternd, aber sie gingen überraschenderweise oft besser aus, als man erwartete.

Der Russe lebte in einem kleinen, sehr heruntergekommenen Hotel in der Nähe vom Broadway. Er nannte sich Meukow und nahm mich sofort auf. Als alter Emigrant hatte er einen Blick für das, was mir fehlte: ein Unterkommen und Arbeit. Das Unterkommen war leicht gefunden; er hatte eine zweite Bettstelle, die er in seinem Zimmer unterbrachte. Zu arbeiten war mir mit einem Touristenvisum verboten, ich hätte dafür ein anderes haben müssen: ein Einreisevisum mit einer Quotanummer. Ich mußte also heimlich arbeiten. Ich kannte das aus Europa, und es störte mich nicht besonders; ich hatte auch noch etwas Geld.

»Haben Sie eine Ahnung, wovon Sie leben könnten?« fragte mich Meukow.

»Ich habe in Frankreich zuletzt als Schlepper für Händler mit zweifelhaften Bildern und falschen Antiquitäten gelebt.«

»Verstehen Sie etwas davon?«

»Nicht viel, aber einiges von den üblichen Praktiken.«

»Wo haben Sie es gelernt?«

»Ich war zwei Jahre im Museum in Brüssel.«

»Angestellt?« fragte Meukow überrascht.

»Versteckt«, antwortete ich.

»Vor den Deutschen?«

»Vor den Deutschen, die Belgien eingenommen hatten.«

»Zwei Jahre?« sagte Meukow. »Und man hat Sie nicht gefunden?«

»Mich nicht. Aber nach zwei Jahren den, der mich versteckt hat.«

Meukow sah mich an. »Sie sind entkommen?«

»Ja.«

»Haben Sie von dem anderen noch etwas gehört?«

»Das Übliche. Man hat ihn in ein Lager gebracht.«

»War er Deutscher?«

»Belgier. Direktor des Museums.«

Meukow nickte. »Wie konnten Sie so lange unentdeckt bleiben?« fragte er dann. »Kamen keine Besucher in das Museum?«

»Doch. Tagsüber war ich im Keller in einem Abstellraum eingeschlossen. Abends kam der Direktor, brachte mir Essen und ließ mich über Nacht heraus. Ich blieb im Museum; aber ich konnte aus dem Keller heraus. Licht durfte ich natürlich nicht machen.«

»Wußten andere Angestellte davon?«

»Nein. Der Abstellraum hatte keine Fenster. Ich mußte still sein, wenn jemand in den Keller kam. Am meisten Sorge hatte ich davor, zur falschen Zeit niesen zu müssen.«

»Hat man Sie so entdeckt?«

»Nein. Es war jemand aufgefallen, daß der Direktor so oft abends im Museum blieb, – oder noch einmal zurückging.«

»Ich verstehe«, sagte Meukow. »Konnten Sie lesen?«

»Nur nachts, im Sommer und wenn der Mond schien.«

»Aber Sie konnten nachts im Museum umhergehen und die Bilder ansehen?«

»Solange man sie sehen konnte.«

Meukow lächelte plötzlich. »Ich mußte auf der Flucht aus Rußland einmal sechs Tage an der finnischen Grenze unter dem Holzstapel eines Blockhauses liegen. Als ich herauskam, dachte ich, es wäre viel länger gewesen. Mindestens vierzehn Tage. Aber ich war jung damals; dann vergeht die Zeit ohnehin langsamer. Sind Sie hungrig?« fügte er ohne Übergang hinzu.

»Ja«, sagte ich erstaunt, »sehr sogar.«

»Das dachte ich. Man ist immer hungrig, wenn man freigelassen wird. Gehen wir zur Apotheke, essen.«

»Zur Apotheke?«

»Zu einem Drugstore. Das ist eine der Eigentümlichkeiten des Landes. Man kann dort Aspirin kaufen und essen.«

 

»Was haben Sie tagsüber im Museum getan«, fragte Meukow, »um nicht irrsinnig zu werden?«

Ich blickte die Reihe der Leute entlang, die eilig an der langen Theke aßen, Reklameschilder und Medizinflaschen vor sich. »Was essen wir hier?« fragte ich zurück.

»Ein Hamburger. Neben Wiener Würstchen die Hauptnahrung des Volkes. Steaks sind zu teuer für den einfachen Mann.«

»Ich wartete auf den Abend. Ich benutzte natürlich jedes Mittel, um nicht immerfort an die Gefahr zu denken, in der ich war. Das hätte mich rasch verrückt gemacht. Dafür aber hatte ich schon etwas Training; ich war ja bereits einige Jahre unterwegs, eines davon in Deutschland auf der Flucht. Ich schaltete jeden Gedanken aus, etwas falsch gemacht zu haben; Reue zerfrißt die Seele gründlicher als Salzsäure, – sie ist etwas für ruhige Zeiten. Ich repetierte alles Französisch, das ich konnte, und gab mir selbst unzählige Nachhilfestunden. Dann begann ich, nachts in den Galerien des Museums umherzustreichen und die Bilder zu betrachten und mir einzuprägen. Bald kannte ich alle. Dann fing ich an, sie mir im Dunkel des Tages in meinem Gelaß vorzustellen. Ich ging dabei systematisch vor, Bild auf Bild, nicht wahllos, und brauchte oft viele Tage für ein einzelnes...

Erscheint lt. Verlag 8.11.2018
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erich Maria Remarque • Exil • Flucht • Fremde • Heimat • Im Westen nichts Neues • Nachlass • Nationalsozialismus • New York • USA
ISBN-10 3-462-31912-4 / 3462319124
ISBN-13 978-3-462-31912-5 / 9783462319125
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