Um unsere Webseiten für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend zu verbessern, verwenden wir Cookies. Durch Bestätigen des Buttons »Akzeptieren« stimmen Sie der Verwendung zu. Über den Button »Einstellungen« können Sie auswählen, welche Cookies Sie zulassen wollen.

AkzeptierenEinstellungen

Der Gott jenes Sommers (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
254 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75714-7 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Ein Kind im Krieg: Anfang 1945 muss die zwölfjährige Luisa Norff mit ihrer Mutter und der älteren Schwester aus dem bombardierten Kiel aufs Land fliehen. Das Gut ihres Schwagers Vinzent, eines SS-Offiziers, wird ein unverhoffter Raum der Freiheit: Kein Unterricht mehr, und während alliierte Bomber ostwärts fliegen und immer mehr Flüchtlinge eintreffen, streift die Verträumte durch die Wälder und versucht das Leben diesseits der Brände zu verstehen: Was ist das für eine Beunruhigung, wenn sie den jungen Melker Walter sieht, wer sind die Gefangenen am Klostersee, wohin ist ihre Schwester Billie plötzlich verschwunden, und von wem bekommt die Perückenmacherin eigentlich die Haare? Und als ihr auf einem Fest zu Vinzents Geburtstag genau das widerfährt, wovor sich alle Frauen in jenen Tagen fürchten, bricht Luisa unter der Last des Unerklärlichen zusammen.

War Ralf Rothmanns großer, in fünfundzwanzig Sprachen übersetzter Roman Im Frühling sterben ein aufwühlendes Drama am Rand der Schlachtfelder, so ist Der Gott jenes Sommers eine ebenso erschütternde Geschichte über das Klima von Verblendung und Denunziation in den letzten Monaten eines Krieges, der jedem für immer die Seele verdunkelt und schon eine Zwölfjährige mit Recht sagen lässt: »Ich hab alles erlebt.«



Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Er lebt seit 1976 in Berlin.

Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Er lebt seit 1976 in Berlin.

Nur noch ein paar Einjährige


Nur noch ein paar Einjährige standen in dem großen Stall; die jüngeren Kälber waren requiriert worden. Stattdessen brachte man jetzt die Pferde der Flüchtlinge darin unter, die »Zigeunergäule«, wie ihre Mutter sie nannte. Abgesehen von zwei schwarzen Trakehnern waren die meisten braun, und man sah ihnen die Strapazen der Trecks an, den Hunger und die Erschöpfung. Spitz zeichneten sich die Hüft- und Schulterknochen unter dem Fell ab, das stumpf und wundgescheuert war von Kummet und Geschirr.

Es gab für alle nur wenig zu fressen, ein paar Armvoll Heu am Tag, und die meisten dösten oder schliefen im Kot, als Luisa durch den Gang kam. Doch die Stute, die abseits im Schatten des Wassertanks stand, schien schon auf sie zu warten. Starr blickte sie ihr entgegen aus den eingesunkenen Augen, und der Schweif wischte über die Mauer. Sie war das magerste Pferd von allen, man konnte die Rippen zählen, und außerdem fehlte ihr ein Ohr. Unbeschlagen hatte sie einen großen Karren voller Menschen und Hausrat von Ostpreußen bis an die Kieler Bucht gezogen, und nun waren ihre Gelenke dick geschwollen, die Hufe sahen wie verwittertes Holz aus.

Weder grau noch weiß ihr Fell, eher von einem schmutzigen Gelb, und es waren wohl Schmerzen, die ihre Unterlippe mit den Fühlhaaren zittern ließen. Blut lief aus den Spalten und Abszessen über die breitgetretenen Hufkapseln, und die anderen Pferde drängten sie immer wieder vom Heuhaufen weg; es gab Bissstellen an ihrer Kruppe und am Hals. Nicht einmal die alten Schwalbennester, die von den Wänden oder aus den Dachsparren fielen, ließ man sie fressen, und manchmal schrie sie auf in ihrer Not, ein schriller Ton. Aber der Verwalter hatte nur mit den Schultern gezuckt, als Luisa deswegen zu ihm gelaufen war. »Ach, die aus Kruschwitz … Die stirbt. Und wer mag schon den Tod bei sich haben.«

Auch an diesem Morgen kamen die anderen Pferde witternd näher, als sie der Kranken, die sie Brise nannte, den Hals klopfte. Manche legten die Ohren an, schlugen mit den Hufspitzen Splitter aus dem Ziegelboden, und sie schloss einen Trennzaun und schüttete ihr gerade so viel Milch in den Futterstein, dass es zu Hause nicht auffiel. Dann brockte sie etwas Zwieback dazu, und plötzlich roch sie den Rauch und blinzelte in die Sonnenstrahlen, die durch die verstaubten Fenster fielen.

»Na, schau dir das an«, sagte Sibylle. »Jetzt wird mir einiges klar!«

Ihr Schatten glitt über die gekalkte Wand, an der eine Reihe Strohgarben lehnte. Der schmal taillierte schwarze Mantel mit dem Persianerkragen und die hohen Stiefel verliehen ihr ein fast damenhaftes Air – wozu gut stimmte, dass sie den bordeauxroten Seidenschal trug, bauschig gebunden. Trotz der Frühe waren ihre Lippen geschminkt und die Nägel lackiert, und die Ohrclips aus durchbrochenem Gold, ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem neunzehnten Geburtstag, glitzerten in der Sonne.

»Wo kommst denn du her?« fragte Luisa verblüfft. »Hast du nicht zu Hause geschlafen? – Man soll hier nicht rauchen. Alles kann brennen.«

Ihre Schwester, rothaarig wie sie und ähnlich gelockt, hatte im Gegensatz zu ihr dunkle Augen – ein Braun, in dem sie selten mehr sah als Braun – und viel weniger Sommersprossen. Sie schnippte die Zigarettenasche auf den Boden. »Ach, das wissen wir ja langsam, das haben wir nun reichlich erlebt. Dass alles brennen kann, meine ich. Aber ich glaube, du bist unser Schutzengel, wenn auch ohne Heiligenschein. Weiß übrigens der Alte, was du hier treibst? Ich kann mich erinnern, dass er Flüchtlinge in den Ställen nicht mag …«

Luisa warf sich den Schal über die Schulter, trat in den Gang und schloss das Gatter. »Wieso, du bist ja auch hier«, erwiderte sie. »Außerdem sind wir keine Flüchtlinge. Wir kommen aus Kiel!«

Sibylle gähnte. »Was du nicht sagst. Und warum sind wir da weg? Lass mich nachdenken: Kann es sein, dass es unter dem verkohlten Dach ein bisschen ungemütlich wurde? Jede Nacht im Luftschutzkeller, das war wohl kein Traum, oder? Also haben wir gepackt, und sind vor den Bomben geflohen.« Mit dem kleinen Finger kratzte sie sich neben der Lippe, wo es ein Erbmahl gab, einen winzigen Doppelpunkt: »Und wie nennt man noch mal Menschen auf der Flucht, kleiner Klugscheißer?«

Luisa fühlte, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg, ein kühles Brennen. Aber ihre Schwester, die meistens die Augen verengte und kalt triumphierte, wenn sie die Zwölfjährige bei etwas Ungereimtem ertappte, nutzte ihre Überlegenheit an diesem Morgen nicht aus. Sie lachte nur leise durch die Nase, kramte in ihrem Mantel und hielt ihr ein Päckchen Zigaretten hin, »Sondermischung«. Auch das hatte sie noch nie getan.

»Marketenderware« stand auf der Banderole, »Verkauf im freien Handel verboten!«, und Luisa runzelte die Brauen. »Die behalt mal«, sagte sie. »Du willst dich ja nur einschmeicheln, damit ich dich nicht verpetze. Außerdem ist rauchen ungesund!«

Auf dem Pflaster waren Pneus zu hören, das Schleifen einer Bremse. Durch die spinnwebverhangenen Fenster konnte man einen Personenwagen erkennen, zwei Soldaten im Fond. Der Fahrer schlug auf die Hupe und Sibylle grinste. »Was du nicht sagst. Hab mich schon gewundert, warum mir der Atem so pfeift. Aber weißt du, was noch schädlicher ist? Immer ernst und vernünftig sein, Süße. Das ist mit das Schlimmste. Davon kriegt man schmale Lippen, einen giftigen Blick und ist schon als junges Ding ganz alt. Schau dir unsere Stiefschwester an.«

Die Zigarette zwischen den Zähnen, streifte sie ihre Handschuhe über, öffnete den Durchschlupf in dem großen Tor und trat auf die Straße. »Also: Sollte man mich suchen, ich bin im Kuchen. Und jetzt bring gefälligst die Kanne nach Hause, und tu nicht wieder Wasser rein! Nichts schmeckt trauriger als verdünnte Milch.«

 

Nach Bovenau fuhr sie durch den Wald. Mehrere alte Linden waren umgerissen worden von den Druckwellen der Bomben, die ein Pilot hier abgeworfen hatte, obwohl es nirgends ein Ziel gab; womöglich wollte er Last loswerden vor der Rückkehr zum Stützpunkt. Frau Thamlings Rad war noch etwas zu groß für Luisa, meistens stand sie auf den Pedalen. Nur wenn es einmal abwärts ging, setzte sie sich auf den Sattel und streifte das Gestrüpp am Feldrand mit den Stiefeln. Im Ort war der Weg dann gepflastert, glänzende Katzenköpfe, und der Deckel ihrer Klingel rappelte leise, als sie auf den Simonis-Hof bog.

Das Schulhaus, in dem die Lehrerfamilie auch gewohnt hatte, war ausgebrannt, die Giebelmauer eingestürzt. Verkohlte Balken ragten in den Himmel und zeigten helle Flächen, wo Herr Simonis etwas abgesägt hatte. Zusammen mit dem Reet verfeuerte er die Stücke in dem Kanonenofen in der Scheune, ihrem derzeitigen Unterrichtsraum. An der Wand hing die Hakenkreuzfahne mit dem versengten Saum, und auch sein Stehpult und die Tafel hatte er aus den Flammen retten können. Indessen waren die Bänke zerstört; jedes Kind hatte sich einen Stuhl oder Hocker mitzubringen, und das eine oder andere trug ihn mittags wieder heim.

Noch vor wenigen Monaten war das Klassenzimmer, in dem Herr Simonis sämtliche Jahrgänge gleichzeitig unterrichtete, voll gewesen. Mittlerweile aber wurden viele Schülerinnen und Schüler im Lazarettdienst oder als Flakhelfer eingesetzt, manche sogar in Hamburg. An den Tischen aus grob gehobelten Bohlen warteten an diesem Morgen gerade einmal vier Mädchen aus der Kinderlandverschickung, die beiden Kleber-Brüder in HJ-Uniformen und der kleine Ole Storm. Er hatte Buntstifte dabei und zeichnete Vögel auf ein Stück Pappe, als der Lehrer vom Heuboden herunterkam. Die wurmigen Stufen knarrten.

Das Hitlerbild unter dem Arm, den Mantel offen, trug er wie jeden Morgen seine Uniformjacke, zwei verschieden lange Hosen, eine Wollmütze mit Schirm und Handschuhe ohne Finger. Seit dem Angriff der Flieger lebte er mit seiner jungen Frau und dem Säugling in einer Knechtkammer neben den Heuhaufen, und offenbar plagten ihn immer noch Läuse; jedenfalls roch er nach »Goldgeist«. Er musterte die Kinder, erwiderte ihren halblaut geleierten Gruß mit einem Nicken und hängte das Portrait an die Wand. Den gleichen Bart wie der Abgebildete trug er, ein graues Quadrat.

Nachdem sie das Horst-Wessel-Lied gesungen hatten, setzte er seine alte, mit Pflaster geflickte Brille...

Erscheint lt. Verlag 7.5.2018
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • bücher bestseller 2018 • Familie • Heinrich-Böll-Preis 2005 • Im Frühling sterben • Kleist-Preis 2017 • Premio San Clemente 2017 • Schleswig-Holstein • spiegel bestseller • SPIEGEL-Bestseller • Spiegel Bestseller 2018 • Spiegel-Bestseller-Liste • ST 4959 • ST4959 • suhrkamp taschenbuch 4959 • Thomas-Mann-Preis 2023 • Uwe-Johnson-Preis 2018 • Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2004 • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-518-75714-8 / 3518757148
ISBN-13 978-3-518-75714-7 / 9783518757147
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,7 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Wolf Haas

eBook Download (2025)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
18,99
Roman

von Percival Everett

eBook Download (2024)
Carl Hanser Verlag München
19,99
Roman

von Chimamanda Ngozi Adichie

eBook Download (2025)
Fischer E-Books (Verlag)
19,99