Die Fliedertochter (eBook)
496 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-19811-4 (ISBN)
Berlin 1936. Die Sängerin Luzie Kühn steht ganz am Anfang ihrer Karriere und träumt von einem Leben im Rampenlicht. Doch als Jüdin fühlt sie sich nicht mehr sicher und verlässt Berlin in Richtung Wien. Sie verliebt sich in den charismatischen Bela Król und schwebt im siebten Himmel, doch schon bald wird klar, dass Luzie auch in Wien nicht sicher ist ...
Berlin 2018. Paulina Willke wird von ihrer mütterlichen Freundin Antonia gebeten, in Wien ein Erbstück für sie abzuholen. Sie ahnt nicht, dass die Reise nach Wien ihr Leben verändern wird ...
Teresa Simon ist das Pseudonym der promovierten Historikerin und Autorin Brigitte Riebe. Sie ist neugierig auf ungewöhnliche Schicksale und lässt sich immer wieder von historischen Ereignissen und stimmungsvollen Schauplätzen inspirieren. Die SPIEGEL-Bestsellerautorin ist bekannt für ihre intensiv recherchierten und spannenden Romane, die tiefe Emotionen wecken. Ihre Romane »Die Frauen der Rosenvilla«, »Die Holunderschwestern«, »Die Oleanderfrauen« und »Glückskinder« wurden alle zu Bestsellern.
Prolog
Berlin, Herbst 1999
Das Kruschtelzimmer am Ende des langen Flurs ist Paulinas heimliches Paradies. Früher hat es ihrem Vater gehört, und noch immer meint sie dort eine Spur seines englischen Pfeifentabaks zu riechen. Dabei ist er doch schon vor vielen Monaten gestorben. Mamasi, wie sie ihre Mutter Simone nennt, hat es seitdem mit Beschlag belegt – fliederfarbene Wände, ihre antike Nähmaschine, der große Korb voller Wollknäuel und ein zierlicher Sekretär unter dem Fenster zeugen davon.
Aber es gibt nach wie vor Papas Regale und Vitrinen, in denen seine Ammoniten stehen, die funkelnden Kristalldrusen, und jene famose Blechspielzeugsammlung, die so kostbar ist, dass Paulina sie früher nur anschauen, aber auf keinen Fall anfassen durfte.
Heute erschafft sie aus alldem ihre eigenen Welten, sobald die Mutter bei der Arbeit und sie zu Hause ungestört ist. Den Freundinnen verrät die Elfjährige nichts davon, weil die anderen Mädchen sie sonst kindisch finden könnten. Dabei ist es doch so aufregend und jeden Tag wieder ganz anders! Aus ein paar Edelsteinen und Stoffresten hat sie eine kleine Theaterbühne gezaubert, auf der sie die bunten Figürchen auftreten lässt. Sie reden so, wie es Paulina in den Sinn kommt, und sagen all jene Dinge, die sie selbst lieber hinunterschluckt, um ihre Mamasi nicht noch trauriger zu machen.
Dass sie Angst vor dem Umzug hat, weil sie dann in eine neue Schule muss.
Dass sie mit Herz und Seele an dieser geräumigen Altbauwohnung hängt und sich nicht vorstellen kann, künftig in viel kleineren Räumen zu leben.
Dass sie jeden Abend im Bett vor dem Einschlafen weinen muss, weil Papas Bart sie nicht mehr beim Gute-Nacht-Kuss kitzelt.
Dass sie ihre heitere, stets gut aufgelegte Mutter wieder zurückhaben möchte, die jede Angst wegbläst.
Und wie sehr Paulina es hasst, dass ihre Mamasi auf einmal Geheimnisse vor ihr hat.
Um sich vor weiteren Überraschungen zu wappnen, durchforstet sie seit Neuestem sogar deren Handtasche, wann immer sich die Möglichkeit dazu ergibt. Leider hat sie bislang noch nichts von Bedeutung gefunden, doch Paulina studiert trotzdem selbst die allerkleinsten Notizen eingehend.
Mit Toni reden?, steht beispielsweise auf einem verknitterten gelben Post-it.
Aber warum schreibt sie sich das auf?
Mit Antonia, die in Potsdam lebt, reden sie doch ohnehin dauernd. Die ältere Dame ist für Paulina so etwas wie eine Wahloma, da sie keine eigenen Großeltern mehr hat, und seit Papas Tod sind sie sogar noch häufiger mit ihr zusammen.
Sie müsste Mamasi fragen.
Doch dann wüsste die ja, dass sie heimlich in ihrer Tasche kramt …
Seufzend setzt sich Paulina an den Sekretär und zieht nur mal für alle Fälle an der Schublade.
Unverschlossen!
Sie ist so verblüfft, dass sie für einen Moment erstarrt. Dann jedoch fasst sie sich wieder und öffnet die Schublade ganz.
Es riecht ein wenig bitter nach vergossener Tinte. Vorne liegen ein paar gespitzte Buntstifte und ein altes Holzlineal, das bei Zentimeter 15 abgebrochen ist. Als sie ein wenig tiefer tastet, berühren ihre Finger Papier, so weich, als hätte jemand es viele Male in der Hand gehabt. Gebraucht und geliebt, muss Paulina unwillkürlich denken, dann zieht sie es hervor und faltet es auf.
Eine runde Handschrift mit großzügigen Unterlängen, die sie auf Anhieb mag. Die türkisfarbene Tinte ist schon leicht verblasst, aber noch immer gut lesbar.
Jetzt wird auch noch die Zeit zu unserer Feindin, geliebte Freundin …
Paulina lässt das Blatt sinken.
Ein Brief also. Von klein auf haben die Eltern ihr eingeschärft, dass man das Briefgeheimnis unter allen Umständen wahren muss und Schreiben, die an andere Menschen gerichtet sind, tabu sind. Sie müsste ihn also sofort wieder zurücklegen und die Schublade zuziehen. Paulina beginnt, sich am Nasenflügel zu kratzen, wie immer, wenn sie verlegen wird.
Aber sie ist schon zu weit gegangen, um jetzt noch zurückzukönnen. Die Neugierde ist einfach übermächtig.
Sie beginnt noch einmal ganz von vorn.
Jetzt wird auch noch die Zeit zu unserer Feindin, geliebte Freundin, dabei hatten wir uns alles so perfekt ausgemalt. Doch mein bockiger Körper hält sich leider nicht an unseren genialen Plan. Es wird schneller gehen, als wir gedacht hatten, das haben sie mir heute mitgeteilt, in jener aalglatten medizinischen Betroffenheit, mit der sie vielleicht andere hinters Licht führen können, aber nicht mich.
Wen schert es hier schon, was aus mir wird?
Störrische Patienten sind alles andere als beliebt, und ich habe mir mehr als einmal erlaubt, gegen die Ärzte aufzubegehren. Wäre es nach ihren Ratschlägen gegangen, hätten sie das kleine Wesen, das in mir wächst, schon vor Monaten entsorgt.
Dieses Kind wird Sie das Leben kosten …
Doch wie hätte ich mich noch von ihm trennen können, als ich nach Wochen widerlichster Übelkeit zum ersten Mal in mir sein zartes Flügelschlagen wie ein freundliches Hallo gespürt habe?
Natürlich wusste ich von dem gefräßigen Monster in meiner linken Brust, das die gesunden Zellen angreift und mich über kurz oder lang ganz verschlingen wird, und es gab viele Morgen, an denen ich so traurig und zerschlagen erwacht bin, dass ich nicht mehr weiterwusste. Doch dann kamst du ins Spiel, mit deiner Frische, deiner Großzügigkeit, deinem nie endenden Mut. Das hat mich gerettet.
Wir beide zusammen gegen den Rest der Welt – so lautete unser Motto. Und für ein paar wunderbare atemlose Monate, in denen wir jede Menge Unsinn angestellt und einträchtig nebeneinander die Entwicklung der Ultraschallbilder studiert haben, schien es auch zu funktionieren.
Nun aber hat mich die rabenschwarze Diagnose wieder eingeholt, und ich bin nichts als ein einziges heulendes Häuflein Elend. Nicht dabei sein zu können, wenn ihre Zähnchen kommen, sie zu laufen beginnt, Rad fahren und Schwimmen lernt, wenn sie eingeschult wird und sich zum ersten Mal unsterblich verliebt, erscheint mir unerträglich. Die ganze Welt wollte ich ihr zu Füßen legen und vermag doch rein gar nichts mehr davon in meinem elenden Zustand.
Ich weiß, dass sie bestens behütet ist, aber sie wird das alles ohne mich erleben, das macht es so schwer.
Nicht einmal bis zum Ende der Schwangerschaft darf sie bei mir bleiben, das haben sie mir heute ebenfalls verkündet. Das Würmchen muss jetzt schon aus dem Mutterleib, vor der eigentlichen Zeit, hinaus aus der dunklen, warmen, schützenden Hülle in die grelle, kalte Welt, damit wenigstens sie eine Chance hat.
Und ich? Was wird aus mir?
Mit einem Mal habe ich große Angst vor dem Sterben, obwohl viele ja behaupten, der Körper fahre in jener letzten Phase sein eigenes Programm, eine Art langsames Herunterdimmen, ohne Pein, ohne große Schmerzen, langsam, beinahe sachte. Aber vielleicht ist das nichts als freundliche Propaganda, ein wohlgemeinter Versuch, um den Abschied vom Leben nicht noch schwerer zu machen – und jemanden, der das wahrhaftig aus eigener Erfahrung bezeugen könnte, gibt es ja leider nicht.
Man ist so verdammt allein dabei, einsam auf weiter Strecke sozusagen, und das ist vielleicht das Schlimmste daran. Ich fühle das Dunkel wie einen Meteor auf mich zurasen und klammere mich verzweifelt an alles Tröstliche, das mir in den Sinn kommt: freundliche Erinnerungen, spannende Begegnungen, kluge Sätze aus Büchern, die ich mir aufgeschrieben hatte, Witze, über die ich einmal lachen musste, Fotos, die Gnade vor meinen Augen fanden, was selten genug vorkam.
Von irgendwoher ertönt Klaviermusik, wahrscheinlich aus dem hintersten Zimmer, in dem die Angehörigen Luft holen können, bevor sie wieder zu den Sterbenden hineingehen, ein altes Rhythm & Blues-Stück, das mir in die Beine fährt, die mich nicht mehr tragen wollen, und für ein paar Augenblicke fühle ich mich besser.
Doch viel zu schnell bricht der Song wieder ab, und erneut stürzt alles auf mich ein.
Die Schnodderschnauze, mit der ich viele verletzt habe, besonders jene, die mir nahestanden, ist mir schon vor geraumer Zeit abhandengekommen. Und das Bedürfnis, unbedingt immer cool sein zu müssen, liegt ebenfalls weit hinter mir. Dafür steigen Empfindungen in mir auf, so tief und wahrhaftig, wie ich sie noch nie zuvor erlebt habe.
Zurück in die Vergangenheit kann ich nicht mehr, dafür habe ich selbst gesorgt, weil alle Brücken abgerissen sind. Eine Zukunft gibt es für mich nicht, wenn ich den Ärzten glauben kann. Doch in der Gegenwart bist du es, geliebte Freundin, deren Namen ich wie ein Mantra immer wieder vor mich hin flüstere.
S & L.
Du & ich.
Der Himmel hat dich geschickt. Keine Schwester könnte mir näher sein …
»Paulina? Wo steckst du denn?«
Sie sitzt noch immer vor dem Brief, den sie nicht ganz verstanden hat, so benommen, dass sie ihn nicht rechtzeitig verstecken kann, bevor die Mutter im Zimmer steht. Mit einem Blick erfasst diese die Situation, zieht ihre Tochter vom Stuhl hoch und umarmt sie zärtlich, während sie das Schreiben unauffällig an sich nimmt.
»Was ist das, Mamasi?«, flüstert Paulina. »Das ist ja so traurig und gleichzeitig so wunderschön.«
»Ja, das ist es. Und sicherlich nicht die richtige Lektüre für neugierige kleine Mädchen.«
»Ist sie wirklich...
Erscheint lt. Verlag | 11.2.2019 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Berlin • Bestseller • eBooks • Familiengeheimnisse • Familiensaga • Frauenromane • Historischer Roman • Liebesromane • Österreich • Spiegel-Bestseller-Autorin • Verbotene Liebe • Wien |
ISBN-10 | 3-641-19811-9 / 3641198119 |
ISBN-13 | 978-3-641-19811-4 / 9783641198114 |
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