Vom Wesen der Götter (eBook)
720 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-22035-8 (ISBN)
António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.
ERSTES KAPITEL
Das erste Mal wurde ich ungefähr zu der Zeit zum Haus der Senhora geschickt, als ich den Obdachlosen auf der Stufe zur Buchhandlung schlafend antraf, aber ehrlich gesagt, habe ich ihn erst in dem Augenblick bemerkt, in dem ich den Schlüssel aus der Handtasche zog, um die Tür zu öffnen, oder, besser gesagt, zwei Schlüssel an einem Ring mit einem Stoffbärchen, dem das rechte Auge fehlte, der richtige und ein zweiter, von dem ich noch immer nicht weiß, wozu er gut ist, bereits als Kind haben mich Schlüssel verwirrt, waren sie unheimlich, rätselhaft, was öffnen sie, wenn man sie ins Schlüsselloch steckt, fragte ich sie
– Was öffnet ihr?
würde mich die Antwort sicher beunruhigen, wie viele Zimmer hinter den Zimmern, die ich kenne, wie viel Rauschen schwarzen Wassers, das Meer von Cascais hört man vom Laden aus nicht, es bleibt bäuchlings, unaufhörlich zitternd im Sand liegen
– Was ist mit dir?
würde ich ohne die Lampen der Laternen und der Fenster in den Gebäuden bei geschlossenen Rollläden schlafen, hätte ich Angst, das Haus der Senhora war riesig, der Gärtner goss gerade die Beete, Schatten spähten mich durch die Fensterrahmen aus, was wollten sie, der Obdachlose steckt immer in einer Art Sack, ich sage ihm guten Tag, er macht sich klein, um mich vorbeizulassen, demnächst wird er den Sack zusammenfalten, ihn im Rucksack verstauen und unter den Duschen am Strand ein Bad nehmen, während ich draußen die Tabletts mit den Büchern aufstelle, meine Kollegin hilft mir, auf dem Dach gegenüber hin und wieder eine Möwe, zwischen den Möwen nichts, Tauben, die Eisdiele nimmt im Mai den Betrieb auf, schließt im Oktober, ich bin in Afrika geboren, kam als Kind nach Portugal, wohne mit meinem Sohn im Hinterland von Cascais, wo die Miete billiger ist, aber dennoch bleibt, wenn ich sie bezahlt habe, so wenig übrig, ich kann mich nicht an die Kälte gewöhnen, beim Haus der Senhora vom Kies bis zum Eingang Dutzende Marmorstufen, Balkons, Terrassen, der Swimmingpool lag nicht bäuchlings da wie das Meer, sondern auf dem Rücken, der Chauffeur folgte mir schweigend, der Obdachlose kommt dann mit nassem Haar vom Duschen zurück, ich habe ihn nie lächeln sehen, habe ihn nie mit jemandem zusammen gesehen, er setzt sich auf dem Platz beim Hamburgerrestaurant hin, wenn ich nicht im Laden zu Mittag esse, tue ich im Vorbeigehen so, als bemerkte ich ihn nicht, als ich die Bücher zur Senhora brachte, der Angestellte
– Komm rein
keine Anrede, kein Sie, er duzte mich
– Komm rein
weiße Jacke, silbrige Metallknöpfe, möglicherweise so alt wie mein Vater, aber vornehmer, eleganter, er hat nicht mit Negern an einem Staudamm gearbeitet, ich erinnere mich an die Affenbrotbäume, strohgedeckte Hü
– Komm rein
Hütten, in meiner Vorstellung liegt meine Mutter im Bett
– Das ist der Nierenstein
der Obdachlose holt Bälle aus dem Rucksack und wirft sie in die Luft wie im Zirkus, ohne dass ein einziger herunterfällt, im Haus der Senhora forderte ein Dienstmädchen mit Häubchen
– Die Bücher
keine Anrede, kein Sie, auch sie duzte mich, dies außerhalb von Cascais, fast am Guincho, wo der Wind beginnt, Dünen sich auflösen und wieder zusammenfügen, dorniges Gestrüpp, im Januar rüttelt der Wind am Haus, in dem mein Sohn und ich leben, der Angestellte mit der weißen Jacke
– Worauf wartest du noch?
in der Eingangshalle mit Säulen übergroße Möbel, riesige Bilder, die Decke ewig weit entfernt, ringsum eine Veranda, wo ein Hündchen bellte, und auf der Veranda noch mehr Möbel, noch mehr Bilder, das Gefühl, dass eine alte Frau mich ausspähte, aber ich bin mir nicht sicher, ich zum Angestellten nicht per du, per Sie
– Seien Sie unbesorgt ich gehe gleich wieder ich erwarte nichts
so wie auch der Obdachlose nichts erwartet, er steckt die Bälle in den Rucksack, schwört mir, dass ich niemals alt werde und man mich später nicht allein lassen wird, mein Sohn zur Direktorin des Heims
– Falls sie stirbt ist mir das egal
die ihn für erwachsen hält, was er aber nicht ist, schauen Sie ihn sich an, sechs Jahre, wer nimmt denn einen kleinen Jungen ernst, nicht nur das Gefühl, da saß eine alte Frau auf der Veranda, und die alte Frau
– Bringen Sie sie mir her Marçal
nicht du, per Sie, das Hündchen im Arm, das sich wand, um ihr Gesicht zu erreichen, die scharfe Helligkeit eines Ringes blitzte auf und verschwand schlagartig, der Angestellte mit der weißen Jacke schaute prüfend meine billige Kleidung, das Haar, das kleine Armband an
– Tut mir leid wenn ich Sie nicht angemessen angeredet habe
zehn Stunden am Tag im Laden, die Hälfte der Sonnabende, die Hälfte der Sonntage, kaum ein Kunde, nachmittags der verwitwete Ingenieur, dessen eines Bein nicht so will und der mich von den Buchrücken her ausspäht
– Wie hübsch Sie sind
obwohl sein Mund schweigt, versteht man die Worte
– Wie hübsch Sie sind
er nähert sich mir nicht, an meinem Geburtstag ein feierliches kleines Parfüm
– Ich stelle es Ihnen hier auf das Regal
dabei flüchtete er, das Bein mit der Hand anschiebend, zum Ausgang
– Nun komm schon nun komm schon
er hat das Sparbuch in der Tasche, blättert darin herum, ohne die Seite zu finden, so wie er auch lange braucht, bis er die Jacke findet, als er es wegstecken will
– Wissen Sie ich habe da ein paar Ersparnisse
ich erinnere mich an die Gattin
– Ein Klotz am Bein
vor zwei oder drei Jahren an Heiligabend hatte sie die Gabel auf den Teller gelegt und ihn überrascht angestarrt, wobei das
– Ein Klotz am Bein
sich erst zum Hals, dann zur Brust, anschließend zum Tischtuch neigte, und am Ende auf den Fußboden rutschte, das
– Ein Klotz am Bein
vom Gewicht des Körpers zerquetscht wurde, der daraufgefallen war, und der Ingenieur betrachtete sie, kerzengerade auf seinem Stuhl, die Serviette erdrosselnd, in eben der Haltung, in der sein Neffe ihn vorfand, als er ihn besuchte, die Lichter der kleinen Tanne blinkten unermüdlich, blau, orange, gelb, der Obdachlose wartet auf der anderen Straßenseite darauf, dass wir den Laden abschließen, um sich auf der Stufe auszustrecken, und wie immer macht mir der zweite Schlüssel Angst, ich zu ihm
– Was öffnest du?
würde mich meine Mutter nicht daran hindern
– Sei still
ich fürchtete mich vor den Zimmern hinter den Zimmern, so viel Rauschen schwarzen Wassers, und darin wir beide, außerstande zu atmen, haltet mich nicht fest, erstickt mich nicht, lasst mich los, im Haus folgte Salon auf Salon, Lüster, Gegenstände aus Porzellan und Silber, und an den Fenstern wütend der Wind, der Ingenieur ganz leise
– Wie hübsch Sie sind
blätterte im Heftchen, in dem die Ersparnisse schrumpften, das Leben ist kompliziert, finden Sie nicht, wie kann man es nur schaffen, wenn die Weihnachtslichter einen verfolgen, blau, orange, gelb, irgendwann wird das
– Wie hübsch Sie sind
sich zuerst zum Hals, dann zur Brust, anschließend zum Tischtuch neigen, am Ende auf den Fußboden rutschen, zusammen mit den paar Ersparnissen, wofür wirst du sie ausgeben, nun sag schon, ein feierliches kleines Parfüm
– Ich stelle es Ihnen hier auf das Regal
und das Bein macht sich selbständig, unsicher, ängstlich, die alte Frau in dem, was mir der letzte Raum zu sein schien, denn dahinter Kiefern bis hinunter zum Meer, in gewissen Nächten im Sommer gelingt es mir, die Wellen zu verstehen, jede trägt meinen Namen in sich
– Fátima
ich warte, doch kein weiteres Wort, sie haben mich vergessen, die alte Frau strich mit dem Ring über das Hündchen auf ihrem Schoß, befahl dem Angestellten mit der weißen Jacke
– Sie können gehen Marçal
in einem Sessel, der zu groß für sie war, und ich erinnerte mich an die Puppe, die in Afrika am Kopfkissen meiner Eltern lehnte, ebenfalls aufrecht, ebenfalls alt, der Lack auf den Wangen abgeplatzt, die alte Frau, die mir mit einer langsamen Geste nicht das Gesicht, sondern die Welt zeigte
– Mein Vater hat hier gelebt
jede Menge Türen, für die möglicherweise der zweite Schlüssel aus der Buchhandlung passte, und wenn er passte, wie viel Rauschen schwarzen Wassers, bevor sie ins Bett ging, setzte meine Mutter die Puppe auf die Kommode zwischen die Fotos meiner Großeltern, obwohl ich sie warnte
– Sie wird ganz sicher weinen
und wenn ich vor dem Morgengrauen aufwachte, nahm ich ihr Schluchzen mit meinem vermischt wahr, ich stand vor der Senhora, fürchtete mich vor dem zweiten Schlüssel, beschloss
– Ich werde ihn wegwerfen
so wie ich häufig denke
– Hätte ich keinen Sohn ich würde mich wegwerfen
denn, einmal ganz ehrlich, antworten Sie mir aufrichtig, was mache ich hier, sobald ich anfange, darüber nachzugrübeln, denke ich gleich
– Würde dir der Arzt verkünden dass du dir eine schwere Krankheit eingefangen hast würde dir der Arsch auf Grundeis gehen
der Arsch würde mir tatsächlich auf Grundeis gehen, Ärzte und Krankenhäuser, du liebe Güte, bittet mich bloß nicht, eine Krankenstation zu besuchen, das halte ich nicht aus, ich würde, nachdem ich durch das Tor gekommen wäre, gleich beim ersten Anblick eines weißen Kittels ohnmächtig werden, mein Vater wurde in Coimbra operiert, aber ihn habe ich nicht gesehen, habe den Fluss gesehen, habe im Bahnhof auf meine Mutter gewartet, habe sie, als sie näher kam,...
Erscheint lt. Verlag | 15.10.2018 |
---|---|
Übersetzer | Maralde Meyer-Minnemann |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Da natureza dos deuses |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Buchhändlerin • Cascais • Conditio Humana • dubiose Geschäfte • eBooks • Fadosängerin • Familienhölle • Patriarch • Portugal • Roman • Romane • Salazar • Verachtung • Weltliteratur |
ISBN-10 | 3-641-22035-1 / 3641220351 |
ISBN-13 | 978-3-641-22035-8 / 9783641220358 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 1,6 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich