Die Mystikerin - Hildegard von Bingen (eBook)

Roman
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2018 | 1. Auflage
448 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-1572-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Mystikerin - Hildegard von Bingen -  Gabriele Göbel
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Die ungewöhnlichste Frau des Mittelalters.

Am Allerheiligentag des Jahres 1106 soll ein kleines, kränkliches Mädchen, das zehnte Kind einer Adelsfamilie, ihr Leben Gott weihen. Schon wenig später hat die junge Frau einen legendären Ruf als Heilerin und Seherin. Von überall pilgern die Menschen zu ihr und sie weist niemanden ab. Doch Hildegard von Bingen war mehr als nur eine heilkundige, gottesfürchtige Frau. Sie trat mit vielen der Großen ihrer Zeit in Kontakt, sie unternahm Reisen, mischte sich ein und musste sich stets gegen den - männlichen - Klerus zur Wehr setzen, der ihr Tun argwöhnisch verfolgte ...

Ein eindrucksvoller, kluger Roman über eine Frau, die nichts von ihrer Faszination verloren hat.



Gabriele Göbel lebt in Bonn. Sie hat neben Hörspielen zahlreiche Kinderbücher und Romane geschrieben.

Im Aufbau Taschenbuch Verlag ist ihr historischer Roman 'Die Mystikerin - Hildegard von Bingen' lieferbar.

1
Von der Stille, dem Wort und der Antwort


In einer weißen Winternacht aus Mondlicht und Schnee hatten die Schwestern ihre Meisterin in den Tod gesungen, Strophe um Strophe, wie aus einem Munde, Stunde um Stunde, bis sich am frühen Morgen eine Schar schwarzer Vögel vor dem Fenster der Sterbezelle versammelte, um die befreite Seele in ein anderes Leben zu begleiten.

Die Schwestern, schweigegewohnt, warfen einander vielsagende Blicke zu.

Nie zuvor hatten sie mitten im Winter, zwei Tage vor der Geburt des Herrn, die Amseln singen gehört, so vielstimmig und mit solcher Intensität, in Tonfolgen, die dem Ohr des Menschen fremd waren. Ineinander verschlungene Melodiebögen ohne Anfang und Ende. Die Hände der Schwestern lösten sich aus den Ärmeln der Kutten, eiskalte Fingerspitzen berührten einander.

Wundersüchtig sind sie, immer noch und immer wieder, mußte Hildegard denken, obwohl ihr die Trauer den Geist trübte. Süchtig nach Wundern, als wäre das bloße Dasein nicht wunders genug.

Noch vor wenigen Tagen hatten zwei von ihnen die Magistra Jutta über Wasser gehen sehen, trockenen Fußes von einem Ufer des Flusses zum anderen; sie hätte auch Brunnenwasser in Wein verwandeln können, sagten sie, und mehr als einmal mit heilenden Händen Schmerzen genommen.

Wunder, wie sie in der Bibel standen. Und wer sie sah, glaubte sie noch lange nicht, ob auf Wasser wandeln oder Amselchoräle zur Weihnachtszeit.

Auch zu dieser Stunde nützte Augenreiben nichts. Das Winterweiß auf den Wegen und Beeten draußen im Garten blieb dunkelgefleckt von Vogelleibern. Mit einemmal verstummten sie, als hätte ein Peitschenhieb die Luft zerschnitten. Doch es war nur der Klang der Totenglocke. Welcher der Brüder im Kloster drüben schlug sie so, daß sie schrie, wo sie doch gedämpft hätte klingen sollen? Die Hände der Schwestern verschwanden wieder in den Kutten, suchten Halt an den eigenen Ellenbögen.

Hildegard schaute den Vögeln nach, wie sie die Ränder des zerfetzten Himmels mit ihren Flügeln glätteten. Seelenführer, Gesandte der Engel. Nur langsam löste die Vogelwolke sich auf, verklang auch das Totengeläut. Feierliche Stille, tiefer als sonst, senkte sich über den Disibodenberg.

Im Anfang, bevor Gott das Wort gesprochen hatte, dachte Hildegard, war alles Schweigen. Dann ertönte das Wort, und sein Klang erweckte Mensch und Welt …

Die Totenwache für Jutta von Sponheim, die ihr Mutter gewesen war und Magistra, Freundin und Vertraute, hielt Hildegard allein. Die vier anderen schickte sie zu Bett.

»Ihr seid jetzt seit gestern früh auf den Beinen«, sagte sie, »das hat euer Mark verdünnt und geschwächt.«

Sie legte die linke Hand auf Clementias Schulter und die rechte der kleinen Jacoba in den Nacken, bevor sie weitersprach: »Die Kräfte der Seele haben eurem Mark einen sehr angenehmen milden Hauch genommen, der die Gefäße des Halses und Nackens, ja des ganzen Kopfes durchzieht …«, sanft massierten ihre Fingerspitzen Jacobas Hinterkopf, »… und bis hinauf zu den Schläfen steigt.«

»Wirklich?« Jacoba, die noch nicht lange bei ihnen war, blickte Hildegard aus rotumränderten Augen fragend an.

»Ja. Im Schlaf aber sammelt deine Seele Kräfte, und sie läßt dein Nervenmark wieder wachsen und stark werden.«

»So wie der Mond beim Zunehmen wächst und beim Abnehmen schwindet«, half Clementia der Kleinen zu verstehen.

»Denn wie der Mond das Licht der Nacht ist, so ist die Seele das Licht des schlafenden Körpers«, ergänzte Hildegard und lächelte, weil sie es liebte, die Dinge in dieser Weise miteinander zu verknüpfen.

Jacoba, viel zu verstört, sich im Angesicht des Todes irgend etwas anderes als ewigen Schlaf vorzustellen, machte immer noch ein törichtes Gesicht.

Morgen werde ich es ihr erklären, sagte sich Hildegard. Oder übermorgen. Jetzt ist wohl nicht der rechte Augenblick. Doch trotz der eigenen Müdigkeit hätte sie der Schülerin gern ausführlicher beschrieben, wie die Seele das Nervenmark des schlafenden Menschen wachsen läßt, wie sie nicht nur seine Knochen stärkt und für die Blutbildung sorgt, sondern auch Weisheit und Wissen mehrt, während der Mensch besinnungslos daliegt, als hätte er keine Gewalt über seinen Körper. Was im Schlaf mit des Menschen Leib und Seele geschah, hatte Hildegard immer schon interessiert.

Sie drückte Jacoba einen Kuß auf die noch kindlich gewölbte Stirn und schob sie mit den Worten: »Die Terz kannst du heut’ lassen«, zur Pforte hinaus in den Klostergarten, den die Schwestern überqueren mußten, um in ihre Zellen zu gelangen. Mit hochgezogenen Schultern und angehaltenem Atem huschte das Mädchen durch die schneidende Morgenluft.

Am liebsten wäre Hildegard hinterhergeeilt, um es ganz in ihre eigene wollene Kukulle einzuhüllen, die ihr vom Fasten und Wachen der vergangenen Tage weit wie ein Zelt geworden war. Ein luftiges Zelt, das sie selbst kaum schützte vor Kälte und Wind.

Jacoba hatte ungeachtet ihrer Tränen in der letzten Nacht tapfer gesungen, ganz allein: »Ave generosa et intacta puella …«

Von allen Liedern, die Hildegard bis zum heutigen Tag gedichtet hatte, war dieses der toten Magistra Jutta das liebste gewesen.

Intacta puella … Die kleine Jacoba sollte in der kommenden Nacht weder frieren noch sich fürchten. Heute abend gleich nach der Komplet werde ich ihr mein Bärenfell bringen, beschloß Hildegard. Der Abt von Echternach hatte es ihr vor Jahren geschenkt, und keine Decke wärmte des Nachts in der ungeheizten Klause besser als dieses dichte schwarzbraune Zottelfell. Überdies half es, die Ängstlichkeit zu vertreiben, wenn man es sich auf die Brust legte.

Mechthild und Anna zwängten sich nun ebenfalls an Hildegard vorbei ins Freie.

»Mach doch bitte die Tür zu!« rief Clementia, die über die Magistra gebeugt stand und sich an deren Gebände zu schaffen machte. Noch ein wenig enger sollte es das Kinn der Toten umspannen. Stramme Bandagen wurden gebraucht, wie bei einem Wickelkind. Man schnüre es nur recht fest, auf daß es einen geraden Leib bekomme. Der Leib als Kerker der Seele, das Gewand als Kerker des Leibes. Von der Geburt bis über den Tod hinaus nichts als Fesseln.

»Als wir so alt waren wie Jacoba, haben wir zur Winterszeit Engel in den Schnee gedrückt, weißt du noch?« fragte Hildegard und zog nun selbst die niedrige Holztür zu. »Wir haben uns auf den Rücken gelegt und mit Armen und Beinen gerudert, bis ein Engel mit Flügeln im Schnee zu sehen war.«

»In Jacobas Alter warst du schon lange nicht mehr bei uns zu Hause in Bermersheim«, widersprach Clementia, die nicht nur im Kloster die Schwester Hildegards war, und wunderte sich über den Groll in ihrer Stimme. Sollten nach so langer Zeit irgendwo tief im Inneren ihres Herzens immer noch Spuren der alten Eifersucht auf die jüngste Schwester verborgen sein, die sich so sehr von den anderen Kindern unterschied, daß die Eltern sie schon als Achtjährige der schönen Klausnerin anvertrauten?

Das stets kränkelnde, viel zu zarte zehnte Kind wollten sie Gott weihen, nicht aber das robuste siebte. Ausgerechnet Clementia sollte heiraten, mochte aber nicht, schon gar nicht diesen kreuzzugbegeisterten Ritter Ruodlieb, der sich insgeheim nach dem Schwertdienst am Heiligen Grab sehnte so wie Clementia sich nach dem Minnedienst an Christus. Sie hatte sich schon als Christi Braut gefühlt, bevor Hildegard überhaupt wissen konnte, was das bedeutete.

Was hatte Clementia sich nicht alles einfallen lassen, um die Heiratspläne ihrer Eltern zu vereiteln! Verweigerung, Krankheit, Flucht … Und kein gütiger Gott, der zu ihren Gunsten seine Stimme erhob. Schließlich hatte sie sogar mit dem Gedanken gespielt – und ihn einstweilen verworfen –, es der befreundeten Oda von Nellenburg gleichzutun, die sich ihr hübsches Gesicht mit Tonscherben zerschnitten hatte, um einer unerwünschten Vermählung zu entgehen. Von Narben schrecklich entstellt, verschwand Oda für immer hinter Klostermauern.

»Verringert meine Mitgift, übertragt meinen Erbanspruch irgendeiner Abtei«, hatte Clementia gefleht, jedoch nur Kopfschütteln geerntet.

Die Bermersheimer gehörten dem fränkischen Hochadel an. Vater Hildebert war Edelfreier und Landesgutverwalter beim Hochstift von Speyer und begütert genug, so daß finanzielle Erwägungen ihm fernlagen. Vielmehr erfüllte es ihn mit Stolz, auch für seine fünfte noch lebende Tochter einen Heiratskandidaten gefunden zu haben, zumal der Männermangel seit dem Ende des ersten Kreuzzugs größer war denn je.

Dann kam der denkwürdige Tag, an dem die sechzehnjährige Hildegard ihre ewigen Gelübde als Benediktinerin ablegen sollte: Heinrich V., deutscher Kaiser, hatte den für das Kloster zuständigen Mainzer Erzbischof gerade wegen dessen Papsttreue in den Kerker von Burg Trifels werfen lassen, und so geschah es, daß die ganze Familie von Bermersheim Zeuge war, wie die jüngste Tochter den einzigen Brautschleier, den auch ihre Schwester begehrte, aus den Händen des heiligmäßigen Bischofs Otto von Bamberg empfing.

Clementias Schluchzen füllte die Pausen zwischen Gebeten und Gesängen.

»Suscipe me Domine … Nimm mich hin, o Herr, auch mich, nicht nur sie.« In der Nacht saß die verschmähte Braut Christi auf der Aussteuertruhe. Ihre Hand umschloß eine scharfkantige Tonscherbe, und niemand konnte sie bewegen, die Scherbe loszulassen. Das endlich stimmte ihre Eltern um.

Seit fünfundzwanzig Jahren lebte Clementia nun schon mit ihrer jüngeren Schwester...

Erscheint lt. Verlag 13.4.2018
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 12. Jahrhundert • Biographischer Roman • Deutschland • Gelehrte • Geschichte • Glaube • Heilerin • Heilkunde • Hildegard von Bingen • Historischer Roman • Kampf • Kirche • Klerus • Kloster • König • Medizin • Mittelalter • Mystik • Pharmazie • Politik • Roman • Widerstand
ISBN-10 3-8412-1572-6 / 3841215726
ISBN-13 978-3-8412-1572-7 / 9783841215727
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