Der Mann, der Glück brachte (eBook)
278 Seiten
Lenos Verlag
978-3-85787-963-0 (ISBN)
Claude Cueni, geboren 1956 in Basel. Nach dem frühzeitigen Abbruch der Schule reiste er durch Europa, schlug sich mit zwei Dutzend Gelegenheitsjobs durch und schrieb Geschichten. Mittlerweile hat er über fünfzig Drehbücher für Film und Fernsehen sowie zahlreiche Theaterstücke, Hörspiele und Romane verfasst.
Claude Cueni, geboren 1956 in Basel. Nach dem frühzeitigen Abbruch der Schule reiste er durch Europa, schlug sich mit zwei Dutzend Gelegenheitsjobs durch und schrieb Geschichten. Mittlerweile hat er über fünfzig Drehbücher für Film und Fernsehen sowie zahlreiche Theaterstücke, Hörspiele und Romane verfasst.
1
»Jetzt haben Sie Ihr Leben zurück.«
»Welches Leben?« Ich schaute auf den Park hinunter, es war Sommer, die Menschen trugen bunte T-Shirts und dunkle Sonnenbrillen, einige waren zu zweit, andere hatten nur ein Handy, sie kamen und gingen, sie hatten alle einen Plan, ich hatte keinen.
»Werden Sie nicht abgeholt?«
Ich drehte mich um. Sabrina Padelli stand immer noch mit meiner Adidas-Tasche in der offenen Zimmertür. Sie war um die dreissig und hatte halblanges braunes Haar. Ich wollte ihr sagen, dass ich von niemandem erwartet wurde und meine Rückkehr vielleicht nicht allen gefallen werde, aber ich verkniff mir die Bemerkung. Mich ihr anzuvertrauen, hielt ich für eine schlechte Idee – Padelli hatte über die psychosozialen Folgen schwerer Schädel-Hirn-Traumata promoviert, ging zweimal die Woche schwimmen und verfasste Berichte über mich.
»Sie hatten damals nach Ihrer Einlieferung oft Besuch, eine junge Frau, können Sie sich erinnern?«
Ich ging langsam auf sie zu. »Das war früher«, sagte ich mit schleppender Stimme, »jetzt ist nicht mehr früher.«
Sie schien besorgt und zog die Stirn in Falten, wie sie es in letzter Zeit immer getan hatte, wenn sie spürte, dass ich mir keine Illusionen mehr machte. Aber es war nicht meine Aufgabe, sie aufzumuntern, sie hingegen wurde dafür bezahlt, mich und meine Adidas-Tasche nach Hause zu bringen.
»Sie wollen immer noch nicht darüber sprechen«, stellte sie bedrückt fest, als empfinde sie meine Weigerung als persönliches Versagen.
Wir traten auf den bunt gestrichenen Flur hinaus, ein bisschen Flower-Power im Todestrakt, sie taten hier alles, damit wir uns besser fühlten. Nach ein paar Schritten blieb ich stehen, hatte bereits Mühe mit dem Atmen. Ich warf einen letzten Blick in Zimmer 204, das in den letzten Jahren mein Zuhause gewesen war. Ich war da und war doch nicht da. Als wir den Flur entlanggingen, fragte die Psychologin, worauf ich mich am meisten freute.
»Worauf sollte ich mich denn freuen?«
Sie fuhr einen Fiat 500e, einen grünen Cityflitzer, sie sagte, Benziner und Diesel, das sei vorbei und das Austrittsformular habe sie in der Tasche.
»Wie schnell können Sie damit fahren?«, fragte ich. Sie schien erfreut, dass ich mich nach der Leistung des Elektromotors erkundigte, dass ich überhaupt Interesse an etwas hatte, kommunikativ, würde sie vielleicht in ihren Rapport schreiben. Aber ich interessierte mich nicht für Autos, von Motoren hatte ich keine Ahnung.
»Hundertfünf Stundenkilometer Maximum, aber mehr brauchen Sie im Stadtverkehr nicht. Und wenn ich woandershin will, nehme ich den Zug.«
Ebenso wenig interessierte ich mich für Züge, Fahrpläne und Destinationen. Meine Welt waren stets Quellcodes und Algorithmen gewesen, damals. Ich mochte auch nicht viel sprechen, meine Stimme klang so heiser, so gepresst, als hätte ich zu wenig Luft, um einen Laut von mir zu geben, als hätte ich diese Stimme seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt.
»Verzeihung, ich habe eben nicht zugehört.«
»Werden Sie wieder in Ihrem Beruf arbeiten?«, fragte Sabrina Padelli laut und deutlich, weil sie wusste, dass ich seit der Schussverletzung auf dem linken Ohr taub war.
»Sieben Jahre sind eine lange Zeit in der IT-Branche.«
Ich wandte mich von ihr ab und beobachtete die Passanten. Mir schien, sie hätten alle dringende Termine, als hätte in meiner Abwesenheit eine Beschleunigung stattgefunden. Vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil ich die letzten Jahre in Slow Motion verbracht hatte – in Zimmer 204.
Was tut man in diesem Raum? Man geht verloren. Man starrt auf die Uhr über der Tür, die man öffnen könnte und die doch verschlossen bleibt, man schaut nach einer Weile wieder auf das Ziffernblatt und stellt fest, dass sich der Zeiger nicht bewegt hat. Man überlegt, ob die Uhr defekt ist, ob sie von Batterien betrieben oder an das Stromnetz angeschlossen ist, man fragt sich, ob die einen schon vergessen haben, und dann bricht die Nacht an, obwohl es draussen noch hell ist, man versinkt in einer Finsternis, in der man sich nie zurechtfindet, und wenn man die Augen wieder öffnet, überlegt man, ob jetzt Herbst oder Mittwoch ist, schielt zum Fenster und sieht den Schnee auf den Dächern, und jemand flüstert: Können Sie mich hören?
Wir parkten vor einer Altbauliegenschaft, wie sie der damalige Stadtarchitekt Baumgartner in den dreissiger Jahren zu Dutzenden im Quartier erstellt hatte, vierstöckige Bauten mit Mansarden für den Mittelstand nach dem immer gleichen modularen Bauschema. Die Metzgerei im Erdgeschoss war offenbar ausgezogen, das Ladenlokal an einen Italiener vermietet worden. Er stand gelangweilt vor der offenen Tür und zeigte mit dem Kinn auf die grünen Obst- und Gemüseharassen, die er vor dem Schaufenster aufgestellt hatte. Sabrina Padelli löste an der Parkuhr für dreissig Minuten. Das war mir recht so, ich konnte es kaum erwarten, wieder allein zu sein. Allein, aber nicht in einem geschlossenen Raum. Vielleicht würde ich auf dem Balkon übernachten. Für einen Augenblick war ich mir nicht mehr sicher, ob ich überhaupt einen hatte. Ich schaute die Fassade hoch und sah die kleinen Balkone.
Wer eines der Spitalzimmer im zweiten Stock verlässt, ist sehr fragil, verunsichert, er verträgt nicht mehr viel, er hat das Urvertrauen in das Leben verloren. In der letzten Sitzung hatte mir die Psychologin geraten, ich solle mir die Zeit nehmen, die ich brauchte. Ich sah, dass das kleinere Ladengeschäft auf der anderen Seite des Hauseingangs leer stand. Zu vermieten. Sabrina Padelli fragte mich, ob mich der laute Strassenverkehr störe. Schon allein ihre mitfühlende Art und die Kummerfalten auf ihrer Stirn konnten einen in Schwermut stürzen.
»Das ist mir egal«, sagte ich. Es sollte ruhig laut werden, damit das Piepsen in meinem Kopf übertönt würde. Von mir aus hätten auch schwere Frachtmaschinen im Tiefflug über die Dächer donnern können.
Sie bestand darauf, meine Tasche zu tragen, weil ich motorisch noch einige Probleme hatte, aber das war angeblich normal am Anfang.
»Ich schaffe das schon«, sagte ich und räusperte mich. Ich wollte ihr die Tasche abnehmen, aber sie zog sie mit einem schelmischen Lächeln an sich und brachte mich dabei beinahe zu Fall. Der Italiener lachte, wahrscheinlich, um unsere Aufmerksamkeit auf seine Auslage zu lenken. Er nahm zwei schön geformte Orangen in die Hand und jonglierte ein bisschen, aber wir wollten keine Orangen. Der Hauseingang war mit Graffiti besprayt, doch es waren keine Motive, Bilder oder gar Kunstwerke wie in Wynwood, Downtown Miami, vielmehr gesudelte Initialen, wie ich sie früher auf jede Seite unserer Softwareverträge gekritzelt hatte. Ich blieb stehen und versuchte, durch den halboffenen Mund zu atmen. Der Druck auf der Brust hatte erneut zugenommen, aber ich konnte nicht den Rest meines Lebens wie eine Schaufensterpuppe auf einem Styroporfelsen sitzen.
»Stört Sie das?«, fragte Padelli erneut, bemüht, mich vor allem Unbill zu schützen. Ich überlegte, worauf sie anspielte. Sie meinte wohl die Grafitti.
»Mir egal«, antwortete ich und warf einen flüchtigen Blick auf die Klingelschilder. Die meisten waren mit von Hand geschriebenen Namen überklebt. Mein Briefkasten war leer, vielleicht kümmerte sich der Hauswart darum, aber ich hatte seinen Namen vergessen.
Wir stiegen die knarrende Rundtreppe hoch, ich hatte ziemliche Mühe damit, Treppensteigen hatten wir in der Reha wenig trainiert. Vielleicht würde ich mir eine neue Wohnung suchen, aber der Physiotherapeut hatte mir jeden Morgen um halb sieben gesagt: Use it or lose it.
Ich wohnte im zweiten Stock. Etwas umständlich kramte Sabrina Padelli einen Schlüsselbund hervor. Ich warf einen Blick auf die Tür zur Nachbarwohnung. Am Rahmen klebte ein Fetzen Papier: Sabih Gürsoy. Hier hatte zu meiner Zeit der Hauswart gewohnt. Johannes Hofer, jetzt fiel es mir wieder ein. Sein Sohn hatte eine Chinesin geheiratet und war nach Shenzhen gezogen, das hatte ihm arg zugesetzt. Vielleicht war der Türke nebenan sein Nachfolger und kümmerte sich um meine Post.
Sabrina Padelli öffnete die Wohnungstür. An der Wand hing ein altes schwarzes Telefon mit Wählscheibe, Jennifer hatte es behalten wollen, Vintage und so. Jennifer war meine Freundin gewesen, damals, als ich noch ein Leben führte wie andere auch. Die Küchentür stand weit offen, ich trat ein und ging gleich zum Balkon, öffnete die Tür und setzte mich in meinen alten braunen Ledersessel. Jetzt erst sah ich die Postberge hinter der Wohnungstür. Mit Mahnungen musste ich nicht rechnen, denn ich hatte alle laufenden Kosten mein Leben lang per Lastschriftverfahren bezahlt. Irgendjemand musste in meiner Abwesenheit nach dem Rechten geschaut haben. Aber wer ausser Jennifer hatte einen...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2018 |
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Reihe/Serie | Lenos Polar |
Verlagsort | Basel |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Betrug • Freitod • Glücksspiel • Koma • Komplott • Krankheit • Liebe • Lotterie • Lotto • Tod • Wachkoma |
ISBN-10 | 3-85787-963-7 / 3857879637 |
ISBN-13 | 978-3-85787-963-0 / 9783857879630 |
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