innenseiten des kriegs (eBook)
288 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490862-5 (ISBN)
Otl Aicher (1922-1991) war Mitbegründer und von 1962 bis 1964 Rektor der Hochschule für Gestaltung in Ulm. Berühmt wurde er durch das von ihm entwickelte Erscheinungsbild der Olympischen Spiele von 1972 in München. Nicht weniger stilbildend waren seine Arbeiten für die visuellen Erscheinungsbilder von Unternehmen wie Braun, Lufthansa, ZDF, WestLB und Bulthaup.
Otl Aicher (1922–1991) war Mitbegründer und von 1962 bis 1964 Rektor der Hochschule für Gestaltung in Ulm. Berühmt wurde er durch das von ihm entwickelte Erscheinungsbild der Olympischen Spiele von 1972 in München. Nicht weniger stilbildend waren seine Arbeiten für die visuellen Erscheinungsbilder von Unternehmen wie Braun, Lufthansa, ZDF, WestLB und Bulthaup.
der erste sonntag
es war ein strahlender sonntag. es war der erste sonntag im krieg. seit vorgestern wird zurückgeschossen. den sonntag verbrachten wir sonst kaum noch in der familie. wir mieden die kleinbürgerlichen rituale und zogen uns schon am tag zuvor mit einem schlafsack bewaffnet in die wälder und ihre nächte zurück. auch im winter. sonntagskleidung war uns das letzte relikt einer gesellschaft der äußerlichkeiten. die jugendbewegung gab uns formen des verhaltens mit, die uns halfen, an der bürgerlichkeit vorbeizukommen, indem wir sie provozierten.
diesmal war es anders. ich blieb zuhause. seit tagen hing ich am radio. meistens, um ausländische sender zu hören. später stand ein zweiter empfänger in einem kleiderschrank versteckt, und unter wintermänteln flüsterte radio beromünster oder die BBC aus london hervor. ausländische sender zu hören, wurde verboten und stand unter strenger strafandrohung. mancher kam deswegen ins KZ.
wir wußten, daß es diesmal ernst war. er trieb sein spiel mit drohungen und verlockungen wie bei der sudetenkrise, wie eh und je. einmal bot er immerwährenden frieden an, sprach von einer letzten forderung, dann wieder drohte er mit dem einmarsch in danzig. ich wußte, daß ihn das diplomatische spiel störte, der versuch, über botschaften und botschafter den frieden zu retten. jedermann konnte ja nachlesen, was er wirklich vorhatte. er hatte es niedergeschrieben, schwarz auf weiß, unverschlüsselt.
aber meine mutter hatte ›mein kampf‹ nicht gelesen.
es gab kein hin und her mehr. auch unser bangen und zittern war zu ende. »seit heute früh, null uhr fünfundvierzig, wird zurückgeschossen«, hatte er vorgestern verkündet. er hatte einen polnischen überfall auf rundfunkstationen nahe der grenze inszeniert, um aufbrechen zu können, einem »volk ohne raum« ein neues herrschaftsgebiet zu erschließen. der osten gehört den deutschen. seit den tagen der »christlichen« ritterorden, seit dem mittelalter, ziehen die deutschen nach osten.
was geschichtlich hätte sein sollen, vielleicht heroisch, was die leute auf die straße treiben oder die kirchenglocken zum läuten bringen sollte, war an diesem sonntag gefühlsverlust mitten in einem familienmilieu. ich hatte mir nie vorstellen können, wie ein krieg anfängt, aber so hatte ich es mir nicht gedacht. mit sonne und sonntagsbraten. ausgerechnet an den tagen, an denen der zweite weltkrieg begann, war ich eingeschottet in ritual und konvention. ich befand mich unter verdutzten bürgern, die nach einer aufbruchstimmung suchten, nach helden, die sie dereinst verehren wollten, sich aber am schönen sonntag freuten, ihrem braten, ihrem kaffee und kuchen.
den nachmittagskaffee mit kuchen konnte ich umgehen. werner scholl rief an. wir verabredeten uns nach dem essen am ortsausgang zum klosterwald. er kam mit einem freund, ulli, den ich nur vom sehen kannte. da die spekulationen vorbei waren, konnte das gespräch nicht viel höhe gewinnen. das überraschende am krieg war seine wirklichkeit. wir hielten uns fast geschäftlich an das faktische.
es klang auch ganz geschäftlich, als werner fragte, ob ich mitmachen würde, eine widerstandsgruppe aufzubauen, eine sabotagegruppe. ich war weder überrascht noch bestürzt. es war nur eine frage.
wie lange er glaube, daß der krieg dauern würde, fragte ich. es wird schnell gehen. die engländer, franzosen haben zeit gehabt zu rüsten, sind aus dem ersten weltkrieg gestärkt hervorgegangen, haben die ganze grenze entlang eine verteidigungs- und aufmarschlinie aufgebaut, haben flugzeuge über flugzeuge, panzerarmeen. in ein paar tagen wird es losgehen.
mach keinen blödsinn, sagte ich zu werner. der krieg kann lange dauern. denk daran, wie sich hochtechnische armeen von verdun bis lille ineinander so verkrallt hatten, daß es kein vor und zurück mehr gab. eine widerstandsgruppe fliegt in diesem partei- und polizeistaat über kurz oder lang auf. jeder ist des andern spitzel geworden. es ist ja für das vaterland.
werner hatte eine kalte verwegenheit. kürzlich hat er nachts der büste der justitia vor dem gerichtsgebäude eine hakenkreuzbinde um die augen gebunden. sie stand da, groß, erhaben, eine bronzene waage in der steinernen hand, nun einen stoffetzen mit dem symbol der partei um die augen. beim heldengedenktag der garnison gab es beim feierlichen zapfenstreich auf dem nächtlichen münsterplatz plötzlich einen ohrenbetäubenden knall. eine knallkapsel war hochgegangen. so war er.
werner und ich gingen in dieselbe schulklasse, die bald ihr abitur machen sollte. wir waren freunde geworden, weil ich mich hartnäckig weigerte, in die hitlerjugend einzutreten. man ließ mich deshalb weder zum abitur noch zum studium zu. meine isolation in der klasse war aufgebrochen. werner zog auf seine art folgen daraus. er trat aus der naziorganisation aus, was aufsehen erregte. seine geschwister, vor allem hans und inge, waren früher in der hitlerjugend gewesen, man kannte sie in der ganzen stadt.
werner und ich bestimmten die politische diskussion in der klasse, benützten schulaufsätze zu anspielungen, so daß uns die lehrer die arbeiten mit der bitte zurückgaben, sie verschwinden zu lassen. wir verwickelten lehrer, von denen wir das gefühl hatten, daß sie uns nicht verpfeifen würden, in diskussionen über die neue interpretation der deutschen geschichte und ihre widersprüche. nietzsche, einen vorgeblichen ideologen des neuen staates, kannten wir so gut, daß wir ihn dagegen ausspielen konnten.
werner traute ich zu, daß er eine konspirative gruppe zustandebringen würde, er würde sich zur not funkgeräte und sabotagematerial beschaffen. aber das netz der bespitzelung und beobachtung war zu eng, als daß man ohne konspirative schulung lange würde überleben können. die gesamte öffentlichkeit vom »blockwart« bis zum »hauswart« war mit parteimitgliedern durchsetzt, und neben der partei stand die allgegenwärtige geheime staatspolizei. die wände hatten ohren, und die nacht hatte augen.
gab es noch einen rückhalt? konnten einzelne der totalen isolierung standhalten? werner und ich waren keiner politischen bewegung zuzurechnen. die parteien waren vor sechs jahren schon eliminiert worden. wir hatten kaum noch erinnerungen an sie. der widerstand gegen die nazis speiste sich aus der alltäglichen erfahrung und aus der wahrnehmung, wie ein regime das denken gleichschalten konnte. dies nicht nach gründen der vernunft oder einsicht, sondern nach den oft willkürlichen direktiven seiner führung. wer sich widersetzte, wurde kaltgestellt oder verschwand spurlos. man wollte uns zwingen, nicht mehr eigene gedanken zu denken.
ich fragte werner, ob er nicht zu weit gehe, ob er nicht das gefühl habe, eine schuld abtragen zu müssen, da er früher einmal bei den nazis mitgemacht hatte. konvertiten sind oft radikaler als orthodoxe. er empfand schuldgefühle. in erster linie wegen der unfähigkeit der deutschen, sich dem neuen staat zu entziehen. keiner wollte sehen, was er täglich sah, keiner wollte glauben, was er täglich hörte. und wer ein kritisches wort äußerte, wurde wie ein aussätziger gemieden, wie einer, der mit egoismen den großen aufschwung einer ganzen nation beschmutzte. alle hatten sie ihn gewählt.
das kann schuldgefühle erzeugen. schuldgefühle für ein ganzes volk. ich redete auf werner ein. ich versuchte, ihn zu überzeugen, daß widerstand nur dann sinn hätte, wenn es eine möglichkeit gäbe zu überleben. widerstand ist kein selbstzweck. er muß um der veränderung willen geschehen, aus dem willen kommen, an die stelle der jetzigen eine andere welt zu setzen.
welche form des widerstands hat überhaupt eine chance, gegen diesen staat etwas auszurichten? und nur die aussicht auf erfolg rechtfertigt aktionen gegen ihn. das opfer an sich ist kein motiv. kann es sein, daß ich feige war?
wie soll man sich verhalten? sollen wir diesen staat anfallen wie raubkatzen, ihn aus verstecken angreifen wie schlangen, oder sollten wir ihn unterhöhlen wie maulwürfe?
füchse leisten keinen widerstand. auch sie schalten ihre gegner aus und holen ihre beute. aber sie sind weder heroisch noch treu, weder unbestechlich noch berechenbar. sie besitzen keine verhaltensnormen, aber sie haben einen verstand für das richtige. sie sind listig. sie sind feige ohne ehrverlust, wenn eine aktion nichts eingebracht hat. dann eben das nächste mal. sie sind ihren methoden nicht als methode treu, wenn sie nichts einbringen. ein reh ist ein fluchttier, es eilt davon. der fuchs flieht nicht, er gebraucht eine intelligenz der anpassung, der verstellung, der behauptung durch unauffälligkeit. er baut burgen unter der erde und operiert über tage. er lebt im untergrund und holt sich auch bei tageslicht sein huhn. aber er lebt in der verborgenheit, und er agiert allein. er ist erfolgreich nur als einzelner. weder hat er die macht der vielen, noch kann er fliehen. so baut er auf überraschung, die nur aus dem agieren als einzelner kommt.
werner sah die möglichkeit, daß der krieg in kurzen, harten schlägen beendet werden könnte, so wie preußen einmal in so gut wie nur einer schlacht, bei sedan, frankreich bezwungen hatte. voraussetzung dafür sei, daß auch hinter der front züge entgleisten. dazu seien kleingruppen notwendig, die von der erdoberfläche verschwunden sind, wenn die mine gelegt ist.
mein problem war ein anderes. ich sah hier keinen krieg, in dem armeen gegen armeen stehen, soldaten gegen soldaten, geschütze gegen geschütze. es standen sich staaten gegenüber. hitler hatte nicht nur generäle beauftragt, einen krieg zu führen. das ganze volk war in die mobilmachung einbezogen, seine arbeiter, seine wirtschaft, seine wissenschaft, seine universitäten, seine kirchen. das konnte...
Erscheint lt. Verlag | 6.3.2018 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Autobiographie • Ethik • Hitler • Hitlerjugend • Krieg • Moral • Nazizeit • Politik • Roman • Selbstachtung • Soldaten • Verweigerung • Wehrmacht • Widerstand • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-10-490862-1 / 3104908621 |
ISBN-13 | 978-3-10-490862-5 / 9783104908625 |
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