Wie Treibholz im Sturm (eBook)
544 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44393-4 (ISBN)
Daniela Ohms wurde 1978 in Rheda-Wiedenbrück in NRW geboren. Sie ist in Westfalen auf einem Bauernhof aufgewachsen, zwischen Natur und Tieren in einem riesigen Haus, auf dessen Dachboden sich die Familiengeschichte von 500 Jahren finden ließ. So ist es kein Wunder, dass sie bereits in ihrer Jugend mit dem Schreiben begann. Später studierte sie Literaturwissenschaften mit den Nebenfächern Geschichte und Psychologie. Heute lebt die Autorin mit Mann und Kindern in Berlin.
Daniela Ohms wurde 1978 in Rheda-Wiedenbrück in NRW geboren. Sie ist in Westfalen auf einem Bauernhof aufgewachsen, zwischen Natur und Tieren in einem riesigen Haus, auf dessen Dachboden sich die Familiengeschichte von 500 Jahren finden ließ. So ist es kein Wunder, dass sie bereits in ihrer Jugend mit dem Schreiben begann. Später studierte sie Literaturwissenschaften mit den Nebenfächern Geschichte und Psychologie. Heute lebt die Autorin mit Mann und Kindern in Berlin.
Hamburg, 24. Juli 1943
Drückend und schwer lag die Hitze über Hamburg, wie eine zähe Schicht aus frisch gekochtem Gelee, die noch nicht erhärtet war, in der aber jede Bewegung zum Erliegen kam, weil es zu anstrengend wäre, dagegen anzukämpfen. Einzig am Elbufer war die Hitze erträglich, denn hier wehte ein lauer Wind über den Fluss heran, der alle Samstagsausflügler bei Laune hielt. Familien und Freunde saßen auf Decken im Sand, um ihr Picknick zu verzehren, andere wagten ein Bad am Flussufer, und überall rannten Kinder umher, die sich am wenigsten von der Hitze stören ließen.
In all dem Trubel saß Hannah still auf ihrer Decke und hatte nur Augen für das kleine blond gelockte Mädchen mit seinem Vater, die am Flussufer standen und die Schwäne fütterten. Während Robert das halb trockene Brot mit seiner gesunden Hand festhielt, riss Kathrinchen kleine Bröckchen davon ab und warf sie zu den Schwänen ins Wasser. Obwohl sie schwungvoll ausholte, flogen die Brotstückchen häufig nicht weit genug. Aber jedes Misslingen quittierte sie mit einem so niedlichen »Ohwei, ohwei«, dass Robert immer wieder ein leises Lachen entfuhr. Schon lange hatte Hannah sein Lachen nicht mehr gehört, und auch heute versiegte der Klang fast ebenso abrupt, wie er begonnen hatte. Dennoch war Roberts Rückkehr ihr ganz persönliches Wunder. Kathrinchen hatte wieder einen Vater. Vor gut zwei Jahren, noch vor ihrer Geburt, hatte der Krieg ihn einverleibt und ihn erst jetzt wieder ausgespuckt – zwar mit einer zertrümmerten Schulter, die niemals ganz heilen würde, dafür jedoch lebendig und nicht mehr kriegsverwendungsfähig. Die zerstörte Schulter mochte schmerzlich sein. Hannah hingegen war froh darüber, ihren Mann zurückzuhaben und ihn nicht mehr an der Ostfront zu wissen. Dass der Krieg ihren großen Bruder das Leben gekostet hatte, war Trauer genug.
»Ohwei, ohwei.« Wieder warf Kathrinchen das Brot nur knapp vor sich in den Sand. Dieses Mal schien der Schwan die Geduld zu verlieren. Mit langem Hals wuchtete er sich aus dem Wasser und watschelte auf das Mädchen zu, das kaum so groß war wie der mächtige Vogel.
»Wei, ohwei!« Kathrinchens Tonfall nahm eine panische Note an. Hastig versteckte sie sich hinter den Beinen ihres Vaters, der ebenfalls drei Schritte vor dem Schwan zurücktrat und das Mädchen mit sich schob.
Das Tier hingegen wollte nichts weiter als das Brot. Sobald es die Beute im Schnabel hatte, watschelte es zurück zum Wasser und ließ sich behäbig hineingleiten.
Hannah holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und wischte sich damit den Schweiß ab, der sich langsam, aber sicher auf ihrer Stirn und im Nacken sammelte. Der Sommer 1943 war ein Jahrhundertsommer, der seit seinem Beginn mit Hitze und Trockenheit über Hamburg herrschte. Ein Sonnentag reihte sich an den vorherigen, und selbst die Nächte waren lau. Es war ein Sommer, der von friedlichen Zeiten flüsterte und ihnen vorgaukelte, der Krieg fände nur in weiter Ferne statt. Aber Hannah war auf der Hut. Die Floskeln vom Sieg erfüllten sie ebenso mit Misstrauen wie die Heldentaten, die der Volksempfänger verkündete, und immer, wenn sie gezwungen war, den deutschen Gruß anzuwenden, wurde sie von tiefer Abscheu ergriffen. Ihre Zweifel am Nationalsozialismus waren größer denn je, und ihre Gedanken wurden immer einsamer. Sie sprach immer weniger und wenn, dann nur noch leise und mit Bedacht. Was in ihrem Kopf vorging, durfte um keinen Preis nach außen dringen. Immerhin hatte sie ein Kind zu versorgen.
Der vertraute Geruch von Pfeifenrauch schlich sich in ihre Nase. Ohne den Blick von seiner Apothekerzeitschrift zu heben, paffte ihr Vater an dem Pfeifchen, das er sich gerade angezündet hatte. Einzig die Sorgenfalten auf seiner Stirn verrieten, dass ihm nicht alles gefiel, was er in der Zeitung las. Zu viel Rassenforschung und Nazimedizin, vermutete Hannah.Wie sehr ihr Vater das alles verachtete, wusste sie schon lange. Jedoch wurden auch seine Worte von Jahr zu Jahr verhaltener. Immerzu schien er darauf zu achten, nicht das Falsche zu sagen, während sein Lächeln immer trauriger wurde. Daheim in seiner Apotheke sprach er einzig über Medizin und Krankheiten und allenfalls über das Wetter. Währenddessen wirbelte ihre Mutter durch die fünf Zimmer ihrer Wohnung, wies das Mädchen an, auch ja kein Staubkörnchen zu übersehen, und konzentrierte sich mit größtem Eifer auf die Küche und ihre Enkeltochter. Nur, um nicht über ihren gefallenen Sohn nachzudenken. Pauls ehemaliges Zimmer ähnelte bis heute einer Gedenkstätte, das niemand anderer nutzen durfte, ganz gleich, ob es im Rest der Wohnung allmählich zu eng wurde.
Hannah selbst pendelte zwischen alldem hin und her, half in der Apotheke aus, ging mit Kathrinchen spazieren und las auf der Bank neben dem Spielplatz in den pharmazeutischen Lehrschriften – den Nazis zum Trotz, die nicht nur dafür verantwortlich waren, dass der Studienbereich schon vor Beginn des Krieges wieder geschlossen worden war, sondern die auch dafür gesorgt hatten, dass ihr Vater keine Zulassung für die Ausbildung von Lehrlingen bekam. Wilhelm Mertens mochte zwar von lückenloser, ach so arischer Abstammung sein und befand sich damit in der offiziellen Position, eine Apotheke führen zu dürfen. Doch sie wohnten auf dem Grindelberg, mitten im jüdischen Geschäftsviertel von Hamburg, und in den Augen der Nazis pflegten sie die falschen Kontakte. Zehn Jahre lang hatten sie miterleben müssen, wie ihre jüdischen Nachbarn und zugleich besten Freunde schikaniert, enteignet, in Judenhäusern eingepfercht und am Ende in den Osten evakuiert worden waren. In den letzten Jahren hatte es viele Momente gegeben, in denen es schwer gewesen war, nicht laut zu schreien und Protest zu üben.
Doch die ersten beiden Kontrollbesuche der Gestapo waren bedrohlich genug gewesen, um das Schweigen zu lernen, um nach außen den Schein zu wahren und sich nicht mehr als Judenfreunde zu zeigen. Dennoch blieb im Nazireich kaum etwas unbemerkt, und die Spatzen pfiffen von den Dächern, dass Wilhelm Mertens und seine Familie in den entscheidenden Momenten nicht applaudierten, sondern beschämt zu Boden sahen. Hannah wusste schon lange, dass das der wahre Grund dafür war, warum sie auch in einer anderen Apotheke keine Lehrstelle für ihr Vorexamen fand.
Nein, Hannah Riedel, geborene Mertens, Mutter der zweijährigen Katharina Riedel und Ehefrau des Obergefreiten Robert Riedel war vielleicht erst 21 Jahre alt, aber sie ließ sich nicht so leicht in die Irre führen. Der Krieg war eine menschengemachte Katastrophe von ungeheurem Ausmaß, und jeder, der behauptete, er würde eines Tages ein »erfolgreiches Ende« nehmen, log nicht nur sich und anderen etwas vor, er verleugnete auch, dass unzählige unschuldige Menschen im Krieg starben. Ganz gleich, wie sehr die wohlhabenden Bürger im schönen Hamburger Harvestehude ihren oberflächlichen Frieden pflegten, nichts konnte Hannah darüber hinwegtäuschen, dass sie sich im Krieg befanden. Und nichts konnte sie darüber hinwegtrösten, dass viele der neuen Geschäftsleute nur deshalb wohlhabend waren, weil sie sich am Besitz der enteigneten Juden bereichert hatten.
Selbst der Jahrhundertsommer mit seinen sonnigen Tagen und milden Nächten machte ihr nichts vor. Wenigstens hier, am Elbufer, zusammen mit Kathrinchen, Robert und ihren Eltern hätte sie gern von einer schöneren Zukunft geträumt. Doch nicht einmal das schien ihr zu gelingen.
»Kommt ihr Kuchen essen?«, rief ihre Mutter über den Strand. Etwas entfernt unter einem Sonnenschirm hatte sie eine Picknickdecke ausgebreitet und den Kuchen darauf angerichtet.
Hannah erhob sich und ging zu ihr, zeitgleich mit Kathrinchen, die kichernd durch den Sand tappte und »Kuchen essen« zurückrief. Robert kam langsam hinter ihr her, und erst aus der Nähe erkannte Hannah, dass die Hitze ihm sichtbar zu schaffen machte.
Seit einem Monat war er zurück in Hamburg, aber erst vor einer Woche war er aus dem Lazarett entlassen worden. Seitdem wohnte er mit Hannah und Kathrinchen in dem alten Kinderzimmer bei ihren Eltern. Schon vor ihrer Hochzeit war Robert in den Krieg eingezogen worden. Ihre Trauung hatte in seinem ersten Heimaturlaub stattgefunden, sehr spontan und vollkommen überhastet, nachdem sich herausgestellt hatte, dass Hannah schwanger war. Zwei Tage später musste er wieder an die Front, und seither hatten sie sich kaum noch gesehen. Einmal kurz nach Kathrinchens Geburt und danach erst wieder vor einem halben Jahr, als er schon einmal verletzt nach Hause gekommen war. Daher hatten sie noch nicht die Möglichkeit gehabt, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Aber jetzt durfte er endgültig bleiben. Niemand konnte mit einer zertrümmerten Schulter schießen. Und da es der rechte Arm war, kam auch eine Schreibtischtätigkeit für ihn nicht in Betracht.
Als Hannah ihn zum ersten Mal im Lazarett besucht hatte, war eine unbeschreibliche Erleichterung über sie hergefallen. Ein Teil davon war noch immer da, während sie nun auf der Decke saßen und Kuchen aßen. Warme Dankbarkeit erfüllte sie, als Robert Kathrinchen auf seinen Schoß zog und begann, ihr ein Märchenbuch vorzulesen. Die Kleine kicherte und gackerte, wenn er seine Stimme verstellte, um wie ein Zwerg zu sprechen, und sie riss die Augen weit auf, als er die böse Stiefmutter imitierte. »No’mal«, verlangte sie, sobald er fertig war, und Hannah brauchte die ganze zweite Märchenlesung, um dem warmen Gefühl nachzuspüren, das durch sie hindurchsickerte, wenn sie den beiden zusah.
Endlich hatte sie eine richtige Familie. Von nun an könnte sie glücklich sein.
Den ganzen restlichen Nachmittag bemühte Robert sich darum, seiner Tochter das Wort »Papa« beizubringen. Immer...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2018 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Daniela Ohms • DeLiA • DELIA-Literaturpreis 2019 • DELIA-Preisträgerin 2019 • Deutschland • Evakuierung • Familie • Flucht • Flüchtlinge • Krieg • Landleben • Liebe • Liebesgeschichte • Liebesroman • Nachkriegszeit • Neuerscheinung 2018 • Schleswig-Holstein • Verlust • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-426-44393-7 / 3426443937 |
ISBN-13 | 978-3-426-44393-4 / 9783426443934 |
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