Näher als du denkst (eBook)
396 Seiten
Francke-Buch (Verlag)
978-3-86827-739-5 (ISBN)
Elizabeth Musser wuchs in Atlanta auf. Seit dem Abschluss ihres Studiums englischer und französischer Literatur an der Vanderbilt Universität in Tennessee ist sie als Missionarin tätig. Heute lebt sie mit ihrem Mann Paul in der Nähe von Lyon in Frankreich. Die beiden haben zwei Söhne.
Kapitel 1
Mai, sechs Wochen zuvor
„Weiß jemand, wo Sylvia heute ist?“, fragte ich und schaute meine Achtklässler an. Dreiundzwanzig Augenpaare blickten zurück. Größtenteils dunkle Augen, einige mit asiatischen Zügen, ein Schmelztiegel verschiedener Nationalitäten, Kinder aus der ganzen Welt, deren Familien sich im Süden von Atlanta angesiedelt hatten.
Schließlich antwortete Laetitia, eine dürre Dreizehnjährige: „Sie ist am Mittwochabend von zu Hause weggelaufen, Mrs Fitten.“
Ich atmete scharf ein und hörte die Stimme meines Anwaltsehemanns sagen: „Nan, die Statistiken sagen, dass Kinder, die von zu Hause weglaufen, in weniger als 48 Stunden aufgegriffen und hier in Atlanta zur Prostitution gezwungen werden.“
Als wir nach Atlanta gezogen waren, hatte sich Stockton anderen Anwälten in seiner Kanzlei angeschlossen, die sich mit mehreren gemeinnützigen Organisationen und der „International Justice Mission“ bemühten, den Menschenhandel in Atlanta zu bekämpfen, der erschreckende Ausmaße angenommen hatte. Vor meinem geistigen Auge sah ich erneut den heiligen Zorn in Stocktons warmen, braunen Augen, als er mir seinen aktuellen Fall erklärt hatte. Ich zwang mich, in die Gegenwart zurückzukehren, und legte eine Hand auf mein Pult, um mich abzustützen.
„Es tut mir sehr leid, das zu hören“, sagte ich als Antwort auf die ernsten Blicke meiner Schüler. „Wirklich sehr leid.“ Ich räusperte mich und trat ans Whiteboard. „Heute analysieren wir Sätze.“
Ein kollektives Stöhnen ging durch den Raum.
Ich drehte mich um und zwang mich zu einem Lächeln. „Das habe ich euch doch gestern angekündigt.“ Während ich das sagte, merkte ich, wie meine Beine unter mir nachgaben und das Klassenzimmer begann, sich um mich herum zu drehen. Das Letzte, an das ich mich erinnere, war die Stimme eines Schülers, Eddie, glaube ich, der laut rief: „Mrs Fitten! Ist alles in Ordnung, Mrs Fitten? Jemand muss Mrs Avery holen! Schnell!“
„Nan? Nan!“ Ich versuchte, die Augen aufzuschlagen, und stellte fest, dass ich im Lehrerzimmer der Druid Hills Schule, an der ich Englisch unterrichtete, auf dem Sofa lag. Patsy Avery, die Rektorin, stand über mir. Ihr Gesicht zeigte tiefe Sorgenfalten.
Ich schaute mit zusammengekniffenen Augen zu ihr hinauf. „Entschuldigung. Ich weiß nicht, was passiert ist.“
Patsy reichte mir ein Glas Wasser. „Trink bitte einen Schluck“, forderte sie mich auf, während ich versuchte, mich aufzusetzen. Mir wurde sofort wieder schwindelig. Deshalb legte ich mich zurück.
„Wer ist bei den Kindern?“, fragte ich mühsam.
„Mach dir darüber keine Sorgen.“ Sie nahm ein kühles Tuch und legte es auf meine Stirn. „Die Schüler haben gesagt, dass du dich aufgeregt hast, als du von Sylvia Gomez hörtest“, flüsterte sie.
„Tut mir leid, Patsy. Ich weiß nicht, warum mich das so erschüttert hat.“
Patsy sah sehr beunruhigt aus. „Nan, du weißt, dass wir froh sind, dich wiederzuhaben. Und du leistest sehr gute Arbeit. Die Kinder lieben dich. Aber vielleicht ist es doch noch zu früh. Vielleicht brauchst du noch ein wenig mehr Zeit.“
Schließlich gelang es mir, mich aufzusetzen, obwohl ich das Tuch immer noch an meine Stirn drückte. Meine Schläfen hämmerten. „Ich weiß, was du denkst, Patsy. Was alle denken. Aber das Schuljahr ist fast zu Ende. Ich möchte meine Klasse bis zum Schuljahresende begleiten. Die Kinder hatten in den letzten acht Monaten genug Unruhe.“
Patsy sah nicht überzeugt aus. Sie war Ende vierzig, kaum zehn Jahre älter als ich, strahlte aber mit ihren kurzen, grau melierten Haaren und ihrer fülligen Figur etwas Großmütterliches aus. „Du bist jetzt zum dritten Mal vor den Kindern in Ohnmacht gefallen. Das wirkt sich nicht gerade beruhigend auf die Schüler aus. Und du hast noch mehr abgenommen, Nan.“ Sie seufzte. „Ich mache mir Sorgen um dich. Natürlich erwarte ich nach allem, was passiert ist, nicht, dass du plötzlich wieder die alte, unbeschwerte Nan bist. Aber vielleicht setzt du dich zu sehr unter Druck, wenn du jetzt schon wieder unterrichtest.“
Ich kannte Patsy seit zehn Monaten und hatte großen Respekt vor meiner Vorgesetzten. Ich vertraute ihr. Deshalb atmete ich tief ein und murmelte: „Ich komme mir vor, als wäre ich ein vollkommen anderer Mensch, Patsy. Alles wirft mich aus dem Gleichgewicht. Ich hatte früher nie Angst. Jetzt jagt mir vieles, das mich früher nicht beunruhigt hätte, große Angst ein.“ Wahrscheinlich besiegelte ich damit gerade mein Schicksal, aber es tat gut, es auszusprechen. „Vielleicht hast du ja recht. Ich will den Kindern auf gar keinen Fall Angst einjagen. Die meisten von ihnen haben genug eigene Probleme.“ Ich schloss die Augen und flüsterte: „Aber ich bin doch so gerne bei meinen Schülern. Daran hat sich nichts geändert. Wenn ich unterrichte, habe ich das Gefühl, dass das Leben weniger verrückt ist. Ich glaube wirklich, dass ich bis zum Schuljahresende durchhalten kann. Es sind ja nur noch drei Wochen.“
Ihr Gesicht entspannte sich ein wenig. Schließlich nickte sie halbherzig. Dankbar sagte ich: „Lass mich in meine Klasse zurückgehen. Ich werde es den Kindern erklären.“
Patsy tätschelte meine Schulter. „Oh, Nan. Du weißt, dass du nichts erklären musst. Die Kinder verstehen dich. Sie verstehen das alle sehr gut.“
In den ersten zwei Monaten nach Stocktons Tod hatte ich mich wie gelähmt gefühlt, als hätte ich selbst diesen schrecklichen Unfall erlitten und wäre jetzt an einen Rollstuhl gefesselt. Dann gab es allmählich wieder Tage, an denen ich wieder „funktionierte“, an denen ich tatsächlich aufstehen und meinen Töchtern helfen konnte, sich anzuziehen. Tage, an denen ich durch den Supermarkt gehen konnte, ohne vor dem Regal mit dem Lieblingsmüsli meines Mannes in Tränen auszubrechen.
Also ging ich wieder arbeiten. Nur in Teilzeit. Aber doch so viel, dass ich gezwungen war, aus dem Haus zu gehen und mich in die Welt mit normalen Menschen zu begeben. Ich hasste es, von einer neuen Normalität zu sprechen. Ich wollte keine neue Normalität. Ich wollte mein altes Leben zurück. Wenn ich unterrichtete, dann überbrückte das die Kluft zwischen dem, was früher gewesen war, und meiner gegenwärtigen Realität.
Aber ich konnte die Angst nicht loswerden.
Früher war ich bei schlechten Nachrichten nie in Ohnmacht gefallen. Vor noch nicht allzu langer Zeit wäre ich in meinen Minivan gesprungen, zu Sylvia Gomez’ Eltern gefahren und hätte verlangt, dass mir ihre Mutter, auch wenn sie unter Drogen stand und rot unterlaufene Augen hatte, erzählte, was passiert war. Jetzt löste dieser Gedanke bei mir Angst und Erschöpfung aus. Ich eilte an diesem Freitagnachmittag zu meinem Minivan, schlug die Tür hinter mir zu, verriegelte sie und fuhr zu der Grundschule, in der ich meine älteste Tochter, Middie, abholen würde. Danach würde ich Kenzie aus dem Kindergarten abholen. Anschließend würden wir nach Hause fahren, wo ich mein Krabbelkind, Weezie, mit meiner Babysitterin anträfe, und wir wären alle in Sicherheit. Sicherheit, das war jetzt mein neues Ziel.
Der Grabstein war aufgerichtet. Ich hatte den Mädchen versprochen, dass wir das Grab ihres Papas besuchen würden, wenn der Stein stand. Also nahm ich am Sonntag nach dem Gottesdienst meinen ganzen Mut zusammen und wir fuhren zum Oakland-Friedhof. Meine Eltern waren mitgekommen, wofür ich sehr dankbar war. Wir gingen Hand in Hand an unzähligen Grabsteinen vorbei, von denen einige hundert Jahre alt waren, zum nagelneuen Grabstein meines Mannes. Ich hielt die Hand meiner zweijährigen Tochter so fest, dass sie zu mir hinaufschaute und sagte: „Au, Mama!“
Als wir zu seinem Grab kamen, knieten meine zwei älteren Töchter nieder und legten Wiesenblumen vor dem Granitstein nieder, auf dem stand: Andrew Stockton Fitten, geliebter Sohn, Ehemann, Vater und Anwalt der Armen. Jesaja 58,9-10. Dann setzten sie sich in ihren Kleinmädchen-Kleidern auf den Boden. Ich setzte mich neben sie und zog die zweijährige Weezie auf meinen Schoß. Papa sprach ein kurzes Gebet und las dann einen Psalm. Danach erzählte die sechsjährige Middie ihrem Vater, was sie in der Kindergruppe in der Gemeinde gelernt hatten. „Goliat war wahrscheinlich nur drei Meter groß. Also war er gar kein richtiger Riese.“ Meine Mutter musste grinsen.
Kenzie, vier Jahre alt, flüsterte mit ihrer leisen Stimme: „Ich vermisse dich, Papa. Ich vermisse dich so sehr.“
Meine Kehle war so zugeschnürt, dass ich kein Wort herausbrachte. Deshalb hielt ich einfach Kenzies kleine Hand, während Weezie die gepflückten Blumen aus meiner anderen Hand nahm und sie auf Stocktons Grab legte.
Einige schweigende Minuten, die gelegentlich durch ein Schluchzen unterbrochen wurden, vergingen. Dann berührte mich Mama an der Schulter und flüsterte: „Wir gehen mit den Mädchen zu den anderen Gräbern und lassen dich eine Weile allein.“ Sie löste Weezies Hand aus meiner und schwang sie auf ihre Hüfte. Papa streckte die Hände aus und sagte: „Wer nimmt meine Hände und führt mich?“ Middie und Kenzie kamen seiner Aufforderung schnell nach, doch vorher drückte mir jede noch einen nassen Kuss auf die Wange und sagte: „Wir sind bald wieder da, Mama.“
„Hey, Schatz“, flüsterte ich Stockton mit Tränen in den Augen zu. „Ich vermisse dich so sehr. Ich dachte, es würde ein wenig leichter werden,...
Erscheint lt. Verlag | 31.1.2018 |
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Übersetzer | Silvia Lutz |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The wren's nest |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alleinerziehende Mutter • Anwalt • Christlicher Roman • Glaube • Gott • Menschenhandel • Witwe • zeitgenössischer Liebesroman • Zwangsprostitution |
ISBN-10 | 3-86827-739-0 / 3868277390 |
ISBN-13 | 978-3-86827-739-5 / 9783868277395 |
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