Das Motel der vergessenen Träume (eBook)
382 Seiten
Francke-Buch (Verlag)
978-3-86827-734-0 (ISBN)
Katie Ganshert war Lehrerin, bis ihr der Durchbruch als Romanautorin gelang. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Für »Das Motel der vergessenen Träume« bekam sie in den USA einen Preis für den besten zeitgenössischen christlichen Roman des Jahres verliehen.
Kapitel 2
Gracie
In der ersten Stunde hatten wir Sport. Völkerball. Hurra. Ich lehnte mich an die Wand, während Schaumstoffbälle quer durch die Halle flogen. Die Jungs übernahmen den Großteil der Würfe. Die Mädchen kreischten dafür am meisten. Mein Sportlehrer, der mittig am Spielfeldrand stand, bemerkte, dass ich mit meinem iPod Musik hörte, und winkte mich mit dem Zeigefinger zu sich. Ich tat so, als hätte ich ihn nicht gesehen. Daraufhin kam er zu mir und streckte die Hand aus. „So dumm bist du doch nicht, Gracie.“
Widerwillig drückte ich ihm den iPod in die Hand.
„Du kannst ihn heute nach der Schule wieder abholen“, sagte er in dem Moment, als ein Schaumstoffball ihn am Hinterkopf traf.
„Sorry, Coach“, rief Kyle Marcello, einer der dreistesten und unterbelichtetsten Verteidiger der Franklin High, von der anderen Seite der Halle zu uns herüber. „Ich hatte auf Fisher gezielt.“
Der Trainer kehrte auf seinen Platz an der Mittellinie zurück. Meinen iPod hatte er in die Tasche seiner Shorts geschoben. Ihh! Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn jetzt noch wiederhaben wollte. Kyle fing meinen Blick auf und schwang mit einem spöttischen Grinsen im Gesicht einen imaginären Baseballschläger.
Ich verdrehte nur die Augen.
Einhundertachtzig Tage … einhundertachtzig Tage …
In der zweiten Unterrichtsstunde hatten wir unser Oberstufenwahlfach. In meinem Fall bedeutete das: Einführung in die Philosophie. Das hatte mir meine Tutorin aufs Auge gedrückt. „Du bist ein kluges Mädchen, Gracie, das beweisen die Ergebnisse deines College-Eignungstests. Deshalb ist das ein guter Kurs für dich.“ Als ich ihre Argumente eins nach dem anderen widerlegt hatte, hatte sie gesagt, das sei nur ein weiteres Zeichen, dass ich für diesen Kurs gut geeignet sei. Machte ja nichts, dass der Lehrer, der kleine, kahlköpfige, schildkrötenartige Mr Burrelson, nach Voltarensalbe roch und sich ständig ein weißes Speichelband zwischen seiner Unter- und Oberlippe bildete, wenn er sprach. Ich starrte auf die Spuckebläschen in seinem Mund, während er das Lehrbuch Die philosophische Reise: ein interaktiver Ansatz austeilte und unaufhörlich über die Erwartungen schwadronierte, die er an uns Schüler stellte.
Seine trüben Augen leuchteten auf, als er davon sprach, wie wichtig Analyse und Debatte seien. Das bisschen Aufmerksamkeit, das die Schüler ihm noch entgegengebracht hatten, verlor er, als er anfing, mit Begriffen wie „ethische Entscheidungsfindung“ und „moralische Zulässigkeit versus moralische Notwendigkeit“ um sich zu werfen. Ich spielte mit meinem Stimmungsring, bis sich die Farbe von Gelb zu Hellgrün änderte, und überlegte, wie lang Mr Burrelsons Spuckeband wohl werden würde, bevor es abriss.
Sobald die Glocke ertönte, packte ich meine Sachen zusammen und ging zur Toilette. Als ich meine Kabine verließ, kam gerade Chelsea Paxton, ein übergewichtiges Mädchen aus meiner Klasse, herein. Chelsea war eine Außenseiterin, so wie ich. Seit ich in der fünften Klasse auf die Schule gekommen war, hatte ich mit angesehen, wie sie alles nur Menschenmögliche tat, um dazuzugehören. Bis jetzt mit wenig Erfolg. Meistens sah sie aus wie ein Hündchen, das man getreten hat, weshalb ich sie anlächelte, wann immer wir uns über den Weg liefen. Auch wenn sie verzweifelt zu den Leuten gehören wollte, die ich hasste, tat sie mir einfach leid.
Chelsea erwiderte mein Lächeln, dann verschwand sie in der letzten Toilettenkabine in der Reihe.
Ich hatte gerade zweimal den Seifenspender betätigt und die Seife zu Schaum verrieben, als die Situation sich drastisch verschlechterte. Zwei der größten wandelnden Klischees der Schule – Sadie Hall und ihr bewährter Schatten Jenna Smith – betraten den Raum. Sobald Sadie mich sah, musterte sie mich von oben bis unten. „Schöne Haare.“
„Schönes Gesicht.“
Ihre Wangen leuchteten rosa.
Eine Toilettenspülung rauschte.
Wahrscheinlich hätte ich Chelsea davor warnen sollen rauszukommen. Sadie und Jenna waren erbarmungslos, wenn es um sie ging. Sie griffen sie persönlich an, machten sie in den sozialen Netzwerken fertig, attackierten sie mit Textnachrichten. Und das Schlimmste? Chelsea wehrte sich nie und die Lehrer unternahmen nichts dagegen. Ich spülte gerade die Seife von meinen Händen, als Chelsea aus der Kabine kam. Sie sagte atemlos Hallo zu Clown 1 und Clown 2 und drehte dann den Wasserhahn auf.
Jenna fing an, Würgegeräusche von sich zu geben.
Chelsea starrte auf das Waschbecken.
Ich presste die Lippen aufeinander.
„Hier drinnen stinkt’s“, sagte Jenna.
Ich riss einige Papierhandtücher ab. Halt dich da raus, Gracie. Du kannst es dir nicht leisten, noch mehr Schwierigkeiten zu bekommen.
Den Kopf immer noch gesenkt, schob Chelsea sich an Sadie vorbei, um sich die Hände abzutrocknen.
Sadie hustete und fächelte sich mit einer Hand Luft zu.
„Was hast du für ein Problem?“ Die Worte sprangen aus meinem Mund, bevor ich sie aufhalten konnte, und hallten in der gewölbeartigen Mädchentoilette wider. Offenbar war ich doch nicht so schlau, wie meine Tutorin meinte.
„Ich soll ein Problem haben? Schließlich bin ich nicht diejenige, die sich nicht duschen kann.“ Sadie musterte Chelsea von oben bis unten mit angewidertem Blick. „Heute ist der erste Schultag. Und sie gibt sich nicht mal Mühe.“
„Und es gibt Leute, die geben sich zu viel Mühe.“
„Wie bitte?“
„Ist das eine Flasche Foundation in deinem Gesicht oder sind es zwei?“
Sadie trat näher und rückte mir dabei unangenehm auf die Pelle. Unsere Nasen berührten sich beinahe. „Kannst du uns nicht allen einen Gefallen tun und deinen Pony länger wachsen lassen? Dann müssen wir uns dein hässliches Gesicht nicht mehr angucken. Ich weiß, dass Chris es zu schätzen wüsste.“
Meine Hände machten sich selbständig.
Gerade hatten sie noch heruntergehangen und jetzt stießen sie Sadie fort, so fest, dass sie stolperte. Ihre Miene war so entsetzt, dass ich lachen musste. Ich war mir nicht sicher, ob es jemals ein Mensch gewagt hatte, Sadie zu schubsen. Ihr Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Grimasse. Dann stürzte sie sich auf mich und mit einem Mal kämpften wir am ersten Schultag auf dem Boden des Mädchenklos. Sadies scharfe Fingernägel gruben sich in meinen Hals. Ich ballte die Hand zur Faust und zielte auf ihren Mund. Sie riss mich an den Haaren. Ich stieß ihr mein Knie in die Magengrube. Jenna und Chelsea kreischten. Die Glocke zur dritten Stunde ertönte. Und eine Lehrerin trennte uns.
Ich keuchte.
Sadies Lippe blutete.
So viel zum Thema Raushalten.
* * *
An der Fensterwand des Sekretariats standen drei unbequeme Stühle. Auf einem davon saß ich, auf einem anderen Sadie. Sie hatte die Arme verschränkt und sah so weit wie möglich in die andere Richtung, als hätte ich Läuse oder sonst irgendwas. Ich streckte die Beine vor mir aus und ließ die Fußspitzen gegeneinanderstoßen. Augenblicklich warf Sadie meinen Füßen einen düsteren Blick zu. Ich fing an, Beethovens Fünfte zu klopfen, während ich leise die Melodie dazu summte. „Ta ta ta taaaa. Ta ta ta taaaa.“
Sadies Blick verfinsterte sich noch mehr. „Du bist echt ein totaler Freak.“
Die Sekretärin nahm einen Anruf entgegen und tippte auf ihrer Tastatur, während sie uns beide ignorierte.
Vor einer halben Stunde hatte sie unsere Mütter angerufen und sie freundlich gebeten, in die Schule zu kommen. In der Zwischenzeit hatte Direktor Best die beiden Zeuginnen – Chelsea und Jenna – in sein Büro gebeten. Hätte er Chelsea als Erste und alleine hereingerufen, hätte ich vielleicht eine Chance gehabt. Aber Chelsea und Jenna zusammen? Mein Schicksal war besiegelt. Ich mochte mich für Chelsea einsetzen, aber Chelsea würde sich nie im Leben für mich einsetzen. Nicht im Beisein von Jenna.
Bis Direktor Best die Tür schließlich wieder öffnete und die beiden in die Klasse zurückgehen ließ, war Mrs Hall eingetroffen. Sie war eine erwachsene Version von Sadie, nur dass sie Altersfältchen am Mund hatte und keine geschwollene Lippe. Sie war die Vorsitzende des Elternrats und alle Lehrer der Franklin High liebten sie. Eigentlich hatte ich erwartet, die ganze Wucht ihres missbilligenden Blicks abzubekommen, doch zu meiner Überraschung richtete sich ihr Unmut gegen Sadie. Wenigstens eine kleine Genugtuung. Direktor Best gab Mrs Hall freundlich die Hand und entschuldigte sich für die Unannehmlichkeit. Er entschuldigte sich doch tatsächlich! Sadies Mutter war vielleicht bereit, die Umstände zu meinen Gunsten auszulegen, doch Direktor Best würde das nicht tun.
Er bat Mutter und Tochter in sein Büro.
Ich nahm das Taktklopfen mit meinen Stiefeln wieder auf.
Inzwischen waren eine Stunde und zwanzig Minuten seit unserem Toilettenkampf verstrichen. Eine Stunde und zehn Minuten, seit die Sekretärin meine Mutter angerufen hatte. Als wäre auch ihr das in diesem Moment aufgefallen, blickte sie von ihrem Computer auf. „Noch nichts von deiner Mom zu sehen?“
Ich schüttelte den Kopf. Nee. Null. Und sie würde auch nicht kommen. Immerhin hatte ich ihren Wagen genommen. Und wahrscheinlich lag sie eh noch bewusstlos auf...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2018 |
---|---|
Übersetzer | Dorothee Dziewas |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The art of losing yourself |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Adoption • Alkoholismus • Christlicher Roman • Demenz • Ehekrise • Fehlgeburt • Glaube • Glaubenszweifel • Nervenzusammenbruch • zeitgenössischer Roman |
ISBN-10 | 3-86827-734-X / 386827734X |
ISBN-13 | 978-3-86827-734-0 / 9783868277340 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 812 KB
Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopierschutz. Eine Weitergabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persönlichen Nutzung erwerben.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich