Die Universität (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
147 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75706-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Universität -  Andreas Maier
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Frankfurt, die Universität, 1988, 1989. Damals noch ein ganz anderes Studium, Magister, eigentlich völlige Freiheit in allem. Das Betätigungsfeld erstreckt sich vom Biertrinken im 'Doctor Flotte' bis hin zu Seminaren über Wahrheitstheorie, die den Studenten der Philosophie schon innerhalb eines Semesters zu Arztbesuchen treiben. Es droht ein völliger Verlust der eigenen Person, und auch die Zeiten geraten durcheinander: Auf der Suche nach einer Studentenbude stößt der Protagonist auf ein Erotikmagazin, in dem er eine alte Liebe aus dem Jahr 1983 wiederzuerkennen glaubt. Aus seiner Matratzengruft, in der er sich verzweifelt-lethargisch einrichtet, rettet ihn ausgerechnet ein Pflegefall: Gretel Adorno, die uralte Witwe des Philosophen, bei der er durch seinen Studentenjob Dienst tut. Er lässt sich von ihr zerkratzen und beschimpfen, aber eigentlich versteht er sich mit ihr besser als mit seiner ganzen Umwelt.

Die Universität ist ein Roman über die Möglichkeit, überhaupt von so etwas wie 'Ich' oder 'Person' zu sprechen. Es ist jener Zustand Anfang zwanzig, in dem wir zwar noch im Rollenspiel der Jugend verhaftet sind, zugleich aber längst begriffen haben, dass es irgendwo anders hingehen muss.



<p>Andreas Maier, 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren, studierte Philosophie und Germanistik, anschlie&szlig;end Altphilologie. Er lebt in Frankfurt am Main.</p>

Andreas Maier wurde 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren. Er studierte Altphilologie, Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und ist Doktor der Philosophie im Bereich Germanistik. Er lebte wechselweise in der Wetterau und in Südtirol. Andreas Maier lebt in Hamburg.

Die Universität


Die Universität macht zum ersten Mal Semesterferien, es ist wieder Frühling, und ich packe meinen Rucksack. Damals lebte ich noch in Friedberg, es war das Jahr 1988. Wo ich hinfahre, sage ich niemandem, ich glaube, es war eine jener Phasen, in denen ich wochenlang mit keinem sprach (außer abends im Lascaux, unserer Kellerkaschemme, in der wir herumlungerten, aber auch da saß ich inzwischen meistens schweigend). Italien, näher gesagt Südtirol, sollte es sein.

Es ist ein blendend sonniger Tag, die Zeit der Kirschblüte. Draußen ein Fest, überall. Ich fahre die Strecke nach Frankfurt, die früher mein Onkel J. täglich zu seinen Schichten nahm, Nieder-Wöllstadt, Ober-Wöllstadt, Karben, Dortelweil, Bad Vilbel.

Voller Enthusiasmus komme ich in den Hauptbahnhof hinein. Dort würde ich mir eine Karte für den nächsten Zug nach Italien kaufen. Aber in dem Moment, als ich in der Tür des Waggons stehe, vor mir der Bahnsteig, beginne ich zu lächeln, besser: zu grinsen. Die Stimme in mir fängt an zu sprechen. Es ist meine Kommentarstimme, mein innerer Meta-Ebenen-Kuckuck.

Die Stimme erklärt: So, du fährst jetzt nach Italien! Gleich gehst du zum Schalter und holst dir eine Fahrkarte, und dann steigst du in den Zug nach Italien, und dann bist du also in Italien! Zunächst nach München, dann durch die Alpen, und schon wirst du im sonnigen Italien sein, fast unter den Zitronen und den Orangen, wenn auch nur fast, denn du fährst bloß nach Südtirol. Komm, trete auf den Bahnsteig hinaus, wir sind doch bereits in Frankfurt! Da, schau, die Sonne, all die Reisenden, all die normalen, geschäftigen Menschen, und mittendrin du, denn du fährst ja jetzt nach Italien.

Ich laufe über den Bahnsteig, und die Stimme spricht weiter.

Jetzt bist du nicht mehr so ganz enthusiastisch! Eben warst du noch voller Elan und in deinem Eifer ungebrochen, aber nun kommst du etwas auf die schiefe Ebene. Da ist eine Bank, da könnte man sich hinsetzen, oder fühlst du dich nicht plötzlich erschöpft? Rede ich zuviel?

In der Tat fühle ich mich mit einem Mal überraschend müde, etwa so, wie wenn man beim Laufen unversehens stehenbleibt, irgendeinem unbegründeten Impuls folgend. Ich gehe daraufhin zum Bahnhofskiosk, hole mir ein Bier, setze mich auf eine Bank und nehme einen großen Schluck.

Jetzt gehen wir das noch einmal durch, sagt die Stimme. Gestern abend (denn es war schon Abend) faßt du also plötzlich diesen Entschluß. Warum nicht, man packt, setzt sich in Bewegung, reist, gerät unter die Sonne, vielleicht sogar unter die Zitronen (in Meran gäbe es Zitronen!), und immerhin: Bis Frankfurt hast du es schon geschafft! 35 Kilometer in den Süden, von Friedberg in der Wetterau nach Frankfurt am Main! Der Schalter in Friedberg hatte übrigens geöffnet. Erinnerst du dich? Er hatte geöffnet, dort hast du die Karte nach Frankfurt gelöst, du hättest auch gleich nach Bozen lösen können, oder nach Brixen, oder nach Meran!

Ich: Nein. Ich weiß nicht. In Friedberg sind sie am Schalter nicht so profund mit Auslandsfahrten, in Frankfurt dagegen geht das alles ganz schnell! Die Stimme: So, nicht so profund! In Friedberg nicht so profund mit Auslandsfahrten! Erinnerst du dich an deine letzte Turinfahrt? Da saßt du drei Stunden dort drüben auf dieser Bank, siehst du sie, die jetzt leer ist. Damals saßt du auf ihr, drei Stunden!

Ich: Ja, ich weiß es noch. Da war auch dieser Mann, dieser Verrückte, mit Bart, barfüßig, der diese Schulhefte, wie wir sie früher in Mathematik benutzten, auf dem Schoß hatte. Drei Stunden murmelte er Formeln vor sich hin, manchmal sah er aus, als hätte er eine Eingebung.

Die Stimme: War er denn kein Mathematiker?

Ich: Nein.

Die Stimme: Woher wußtest du das?

Ich: Er war barfuß! Wer sitzt denn drei Stunden barfuß am Bahnhof und hat Schulhefte auf dem Schoß, in die er dauernd etwas hineinschreibt? Und plötzlich bin ich aufgesprungen und zu meinem Zug nach Turin gerannt, weil ich gedacht habe, wenn ich hier sitzen bleibe, unterscheidet mich nichts mehr von ihm, der einzige Unterschied ist dann nur noch, daß ich Schuhe trage, keinen Bart habe und keine Schulhefte, aber ansonsten ist alles gleich.

Die Stimme: Und jetzt sitzt du wieder da. Und nun sage ich dir die Wahrheit! Du hast schon gestern abend bei deinem Entschluß gewußt, daß du nicht nach Italien fahren wirst. Du hast es dir gegenüber aber natürlich nicht zugegeben. Schon während du den Rucksack gepackt hast, wußtest du es. Jede deiner Handlungen war von diesem Bewußtsein begleitet. Du und dein großer Entschluß! Hier und jetzt müßtest du entscheiden und es in die Wege leiten. Da steht der Zug, und was machst du? Sitzt ohne Fahrkarte auf der Bank und trinkst Bier. Erinnerst du dich auch noch an die Frau, die zu dem Mathematiker dazukam?

Ich: Eine Frau? Ja, Moment, stimmt, es kam eine Frau, die eine Weile vor uns auf und ab lief und herumschrie. Der Mann, also der Mathematiker, schaute sie empört an, als habe er ganz und gar nichts mit einer solchen Person zu schaffen. Das fand ich seltsam. Er machte zwischen sich und der Frau dasselbe Gefälle aus, das ich zwischen mir und ihm voraussetzte. Wortlos betrachtete der Mann die schreiende Frau, und als Ordner kamen, um sie wegzuführen, sah er ihnen lange nach und schien zufrieden, daß jetzt wieder Ruhe und Ordnung hergestellt waren und er mit seinen Heften weitermachen konnte, barfuß und mit Bart.

Ich ließ den Zug nach Italien fahren, ging zum Schalter, kaufte mir eine Karte nach Butzbach und stieg ein. Dort arbeitete die Tochter des Buchhändlers in einer Zweigstelle der Bindernagelschen Buchhandlung. Ich fuhr zuerst die ganze Strecke nach Friedberg retour und schließlich noch fünfzehn Kilometer weiter nach Butzbach.

Ich kannte das Städtchen kaum. Als Schüler hatte ich dort keine Bekannten gehabt. Im Zentrum lag der Marktplatz, mit einer Pizzeria, die wir ab und zu besuchten, wenn wir gekifft hatten. Weiter kannte ich eine kleine Kapelle, in der die Bindernagelsche Buchhandlung hin und wieder Veranstaltungen abhielt, bei denen der Vater der Buchhändlertochter oder ihr Bruder Texte lasen. Und ich wußte, daß es ein kleines, ziemlich abgehalftert wirkendes Hotel direkt am Bahnhof gab. Dort könnte ich zwei, drei Tage verbringen.

Ich stieg aus bei bestem Wetter und lief mit meinem Rucksack in die Stadt hinein, nach irgendwo. Ich kam zu einem kleinen Park, in dem alles blühte. Die Bäume, die Tulpen und die Osterglocken. Dort fand ich eine Bank und setzte mich. Das ist dein Ziel, sagte die Stimme. Das hast du im Sinn gehabt, nicht die Orangen und Zitronen Italiens, sondern diesen Butzbacher Stadtpark.

Ich fragte mich, ob die Buchhändlertochter diesen Park hin und wieder in ihrer Mittagspause besucht? Vielleicht geht sie sogar oft in diesen Park, mit ihren Kindern, ihrem Mann? Ihrem Hund, falls er noch existiert? Die Friedberger Buchhändlertochter im Butzbacher Park unter Butzbacher Bäumen inmitten von Butzbacher Blüten. Sofort fiel mir ein Erzählungstitel ein:

Butzbachfahrt

Ich fand den Titel verlockend, lokal, aber zugleich auch irgendwie universal. Da ich Hunger hatte, öffnete ich meinen Rucksack und holte ein Butterbrot heraus. Ich hatte mir am Butzbacher Bahnhof auch eine zweite Flasche Bier gekauft, und nun aß und trank ich und betrachtete den Park, der sich mir auflud mit allerlei Assoziationen. Jedes Blütenblatt, jeder Grashalm schien mir mit einem universalen Vollkommenheitssinn aufgeladen, als sei der Butzbacher Park just in diesem Moment die höchste Form von Welt.

Nach dem Imbiß holte ich den Doktor Faustus hervor, den ich für meine Reise eingepackt hatte, und fing an zu lesen. Ganz von vorn, mit der Ansprache des Serenus Zeitblom an den Leser. Etwas Feierliches lag über dem Augenblick: der Beginn der dritten Doktor-Faustus-Lesung in meinem Leben. Zum ersten Mal hatte ich das Buch mit achtzehn Jahren gelesen, ein schweres, vertracktes, theoriegebundenes Ding, gewürzt mit einer bei einem Bordell-Besuch geholten Krankheit und jenem darauf folgenden Dahindämmern des Protagonisten, denn jener mußte ja größere Teile seiner Zeit hinter zugezogenen Vorhängen verbringen und war am Ende gänzlich handlungsunfähig. Beim zweiten Mal war...

Erscheint lt. Verlag 12.2.2018
Reihe/Serie Ortsumgehung
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 80er Jahre • Adorno • Erotik • Erwachsen werden • Frankfurt am Main • Jugend • Magister • Neue Frankfurter Schule • orientierungslos • Ortsumgehung • ST 5063 • ST5063 • Studenten • Studentenbude • Studentenjob • Studentenleben • Studium • Studium der Philosophie • suhrkamp taschenbuch 5063 • Universtität
ISBN-10 3-518-75706-7 / 3518757067
ISBN-13 978-3-518-75706-2 / 9783518757062
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