Bot (eBook)

Gespräch ohne Autor

(Autor)

Angelika Klammer (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
180 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75716-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bot -  Clemens J. Setz
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Stellen Sie sich vor, Sie sind ein bekannter Schriftsteller und werden um ein ausführliches Interview gebeten. Sie sollen Auskunft geben über Ihre Interessen und intellektuellen Vorlieben, über die Voraussetzungen und Hintergründe, über Motive und Themen Ihres umfangreichen Werks. Stellen Sie sich vor, Ihnen fällt nichts ein, gar nichts, so sehr Sie sich auch bemühen. Dann muss eben jemand anderer über Sie erzählen. Aber wer sollte das sein? Wer weiß gut genug über Sie und ihre Bücher Bescheid? Im Fall des Schriftstellers Clemens J. Setz fand sich eine Alternative. Aber keine natürliche Person steht hier Rede und Antwort, sondern eine Art künstliche Intelligenz, sein Millionen von Zeichen umfassendes elektronisches Tagebuch - die ausgelagerte Seele des Autors, kurz gesagt: ein Clemens-Setz-Bot. Und was der Befragte selbst im mündlichen Gespräch nicht zu verbalisieren mochte, gibt das Werk allein, völlig losgelöst von seinem Autor, in verblüffender Offenheit preis.



<p>Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er Mathematik und Germanistik studierte. Heute lebt er als &Uuml;bersetzer und freier Schriftsteller in Wien. 2011 wurde er f&uuml;r seinen Erz&auml;hlband <em>Die Liebe zur Zeit des Mahlst&auml;dter Kindes</em> mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Sein Roman <em>Indigo </em>stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 pr&auml;miert. 2014 erschien sein erster Gedichtband <em>Die Vogelstrau&szlig;trompete</em>. F&uuml;r seinen Roman <em>Die Stunde zwischen Frau und Gitarre </em>erhielt Setz den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015. Mit <em>Vereinte Nationen</em> war Setz 2017 und mit <em>Die Abweichungen</em> 2019 zu den M&uuml;lheimer Theatertagen eingeladen. 2021 wurde er mit dem Georg-B&uuml;chner-Preis geehrt.</p>

Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er Mathematik sowie Germanistik studierte und heute als Übersetzer und freier Schriftsteller lebt. 2011 wurde er für seinen Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Sein Roman Indigo stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 ausgezeichnet. 2014 erschien sein erster Gedichtband Die Vogelstraußtrompete. Für seinen Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre erhielt Setz den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015. Angelika Klammer studierte Philosophie, Germanistik sowie Hispanistik und promovierte mit einer Arbeit über Baltasar Gracián. Sie war verantwortliche Lektorin des Residenz Verlags (1994–2000) und des Jung und Jung Verlags (2001–2010). Seit 2011 arbeitet sie als selbstständige Lektorin. Sie lebt in Wien.

Tag 1


In einer neuen Stadt gehen Sie am liebsten gleich in eine Apotheke. Warum?

Freitagnachmittag in Wien. In der Apotheke überlege ich, den etwas losen Ärmelknopf meines Mantels abzureißen und der Verkäuferin vor mir in den Ausschnitt zu werfen, wie eine Münze in einen Automaten, vielleicht wäre es die richtige Zauberhandlung gegen meine Halsschmerzen. Ich bin unterwegs zum Bahnhof, und die Luft hat schon Schnee. Überhaupt sollte man mehr mit Knöpfen um sich werfen. Früher trugen die Männer zu diesem Zweck Orden an der Brust. Ein einzelnes Zeitungsblatt treibt auf der Straße, mal aufgeregt anbrandend gegen Hausmauern, mal geduckt undulierend wie ein Rochen. – Halspastillen werden zu Kontaktlinsen, wenn man sie lange im Mund hat.

(Anfang Dezember 2016)

Was unterscheidet eine inspirierende Apotheke von einer langweiligen?

In Dresden sehe ich einen Mann mit einem silberknaufigen Spazierstock (den er beim Gehen nur leicht aufsetzt) in der linken und einer rollenden Sauerstoffflasche in der rechten Hand. So geht er auf der Straße dahin.

In der Auslage eines Antiquariats liegt ein Buch: Kleine Anleitung zur Freundschaft mit einem Globus von Kapitän Alfred E. Schmidt, Verlag von Dietrich Reimer, 1939. Daneben gleich die Apotheke, hübsche Kombination, man hat an mich gedacht. Aber leider stehen keine Sauerstoffflaschen in der Auslage. Die Stadt reimt sich nicht vollkommen.

(6. März 2013)

Den Tipp mit der Apotheke haben Sie von Tucholsky. Was kann man sich noch von der Literatur abschauen?

Wolfseule twitterte einen Gedichtbandtitel, Ich bin ein Bauer und mein Feld brennt. Das lädt sehr zum Übernehmen und Weiterdichten ein:

Ich bin ein Vatikan und mein Papst brennt.

Die Sonne heute, in der erneut übers Land hereingebrochenen Föhnwärme, scheint ständig von allen Seiten zu kommen, momentweise sogar von unten, so als stünde man neben einer Vielzahl aufgeklappter Kopiergeräte, deren leuchtender Lesebalken hinter dem Glas auf und ab wandert. Irgendwo in dieser Stadt rollt eine Kugel, sie rollt unter Häusern dahin und unter Gärten, es ist eine uralte Kugel, und sie stößt kaum irgendwo an. Auf der Straße blieb eine alte Frau stehen und wandte sich, obwohl da nichts war, atemlos um, eine Hand an ihrem Mund. Es hat elf Grad, die Zeit vergeht gläsern. In den Stirnhöhlen fließt elektrisches Licht. Ozonblauer alpiner Kopfschmerz. Einige Vögel riefen im Hof durcheinander, sie hatten irgendetwas verloren, es fand sich nicht. Meine Armbanduhr fühlt sich falsch an, aber jedes Mal, wenn ich hinsehe, geht sie richtig. Man spürt heute den Erdkern. Selbst wenn ich Wasser aus einem Glas trinke, spüre ich ihn, da, weit unter mir.

Ich bin ein Plattenladen und mein Jazz brennt.

Jemandem in vollkommener Dunkelheit die Hand schütteln.

Der Moment, wo man beim Friseur den eigenen Hinterkopf in dem kleinen Handspiegel als Nachbarplaneten gezeigt bekommt.

Ich bin ein Kalender und mein Mai brennt.

Ich bin ein Zahnarzt und meine Schi-Alpin-Poster überall an jeder Wand brennen.

12. 12., Fahrt nach Frankfurt. »BahnCard-Inhaber sind in allen ICE, IC/EC innerhalb Deutschlands CO2-frei unterwegs.« – In diesen Stunden wird Aleppo von syrischen Regierungstruppen eingenommen. Zehntausende Menschen sind eingekesselt, Familien schreiben auf Twitter, dass sie gemeinsam auf den Tod warten. Massenexekutionen auf der Straße. – Ein rotwangiges, puttenhaft gequollenes Kind quälte mit seinen Fingernägeln einen Luftballon, den es mit in den Zug genommen hatte. Er platzte erst bei Nürnberg.

Ich bin ein Salzburg und mein Mönchsberg brennt.

Draußen fuhr der Mond als langsames Schneeräumfahrzeug vorbei.

Ich bin ein Geld und meine Kaufkraft brennt.

Es raureift jetzt jede Nacht, das Fußballfeld ist voll. Tu nicht so verschneit, sagte ich ihm im Vorbeigehen. Das Feld hatte viele Krähen zur Antwort.

Ich bin eine Kirche und mein Chor brennt.

Während er mit seiner Tochter telefonierte, ging seine verkühlte Geliebte durch alle Räume und markierte hustend ihr Revier.

Wie gut meiner Stirn dieser erste Stern am dämmrigen Abendhimmel tut.

Ich bin eine Luther-Bibel und mein Hiob brennt.

Sie zog einen blechernen Eimer unter einem Tisch hervor, aber es klang wie ein Mensch, der sich in der Badewanne umdreht.

Ich bin eine Wolfseule und mein Twittergenie brennt.

(Dezember 2016)

Jemanden zu verfolgen, heißt es einmal in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, sei nicht so leicht, wie es in Filmen dargestellt wird. Wo täuscht uns die Kunst noch etwas vor?

Gotik, diese wunderbare Mutation während der Mittelalterlichen Warmzeit. Als hätte damals die ganze Welt nach Prothesen verlangt und man hätte ihr diesen Wunsch endlich erfüllt. Aufgabe: Lerne die alten Kirchen als die Raumstationen zu sehen, die sie in Wahrheit sind. Die Heiligenbilder lenken eher ab, täuschen, schwindeln. Lass die Kunst, schau aufs Handwerk. In ihm verstecken sich vielleicht, so wie heute im Internet, vernünftige Ansätze für Alien-Landebahnen.

(September 2017)

Welche Gegenden ziehen Sie besonders an? Terrains vagues?

Der strenge Forstgeruch gleich hinter dem Rollfeld der Flugzeuge. Scharf-grell in der Kehle. Vorstellung: Gegen eine seit Jahrhunderten ausgestorbene Pflanze allergisch sein. Gedanke an meinen Schaukelstuhl zu Hause; wenn ich ihn im Traum sehe, ist er immer ein Blasebalg. Ein kleines Herz, kerngesund wie ein junger Fahrraddynamo, schlägt mit Vogellauten in einem Baum. Daneben Tower und Ankunftshallen, undeutlich in der aufgeladenen Luft. Es ist genau die Lufttemperatur, bei der Verandaholz üblicherweise sommerlich zu duften beginnt. Merkwürdiger Gedanke beim Vorbeigehen an einem kleinen, verkrümmten Baum neben den Terminals: »Da wächst er, der Baum der Schulterlosen.«

(August 2013)

Sie haben einen besonderen Blick für »Thomassons«, diese aus der Zeit gefallenen, nutzlosen Gebilde: eine Treppe, die nirgends mehr hinführt; ein Knauf, an einer Wand befestigt, der nur mehr für sich selbst steht – welche Thomassons haben Sie in letzter Zeit entdeckt?

Perfekter Thomasson in der Inneren Stadt (Bürgergasse). Obwohl bedeckt von Verputz, ließ sich das Hebelchen endlos im Kreis drehen. Vorstellung eines uralten eingemauerten Filmprojektors, der nun wieder, da endlich draußen jemand kurbelt, anspringt und seine vergessenen Bilder ins dichte Dunkel wirft.

(1. 3. 2016)

Eine »Leuchtstoffröhre, vermutlich schon vor Jahren infolge ihrer Einsamkeit verrückt geworden«; ein »Telefon, das jeden Tag klingelte, ohne jemals erhört zu werden« – haben Sie Mitleid mit solchen Gegenständen?

Systemisches Mitleid.

(Dezember 2013)

»Es war erstaunlich, dass alle Menschen so entspannt an den Gegensprechanlagen vorbeigehen konnten, ohne sie pausenlos zu betätigen und zu aktivieren … Das paradoxe Glücksgefühl, sich mit einem ganzen Haus unterhalten zu können …« Was bringt Sie noch auf Ideen?

Nonnen in der Straßenbahn: durchgespielte Levels. Innen bestehen sie zweifellos aus Hirse. Aus rüstiger Hirse. Wenn sie sich abends hinlegen, dann legt sich Hirse hin, rüstige Hirse. Eine der Nonnen saß zusammengesunken da, sie hätte sich den langen Balken ihres Kruzifixes, das sie um den Hals trug, in den Bauchnabel stecken können, dann wäre der Heiland aufrecht dagestanden, als Wahrheit. Und endlich wäre die Telefonverbindung zustande gekommen.

(August 2016)

Was fasziniert Sie an Baustellen?

Im tiefsten Baustellen-Sommer der Gedanke an John Cage. Seine Art, die Zunge zu zeigen, wenn er lachte. Seine magnetisierende Stimme. Seine Fähigkeit, jedes Geräusch als interessant zu erleben. Das Gurrlied dieser Mischmaschine. In einem Interview aus dem Jahr 1992 erzählt Cage, wie er eines Tages mit dem Maler Mark Tobey spazieren gegangen und von diesem alle paar Meter auf interessante Risse im Asphalt aufmerksam gemacht worden sei. Vor ein paar Tagen sah ich eine Gruppe amerikanischer Touristen, die mit einer Tatüü-tatüü-Feuerwehrsirene mitsangen. Und hier überall die Baggerfahrzeuge und Klettergerüste. Bagger sind die besseren Dinosaurier.

(Juli 2012)

Und an Gerüsten?

Charles Lullin, nach zwei Kataraktoperationen sehbehindert und in der Folge mit einer Reihe ungewöhnlicher visueller Halluzinationen konfrontiert, sah eines Tages beim Spazierengehen ein großes Baugerüst. Bei der Rückkehr nach Hause erwartete ihn ebendieses Gerüst, auf wenige Zentimeter verkleinert, auf dem Boden seines Wohnzimmers.

(Januar 2013)

Doch dann walzen Bulldozer die Häuser nieder, das Gelände wird zur weiten, staubigen Marslandschaft mit ein wenig Gras als Erinnerung an frühere Zeiten. Stimmt Sie der Gedanke an eine Welt ohne Menschen melancholisch?

Jemand hat ein Bild der fantastischen, gewiss keine Menschen benötigenden Landschaft hinter der Mona Lisa angefertigt, also derselbe Ausschnitt, bloß ohne die Frau. Ich fand es zufällig auf einem Blog. Beim Betrachten stellte sich ein ähnliches Triumphgefühl ein wie damals, als ich auf einem Foto den Baum sah, der kerzengerade...

Erscheint lt. Verlag 12.2.2018
Zusatzinfo Mit schwarz-weißen Abbildungen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte AI • Artificial Intelligence • Autorschaft • BOT • Chat-GPT • DALL-E • Georg-Büchner-Preis • KI • Künstliche Intelligenz • Literatur • Poetologie • Schreiben • Schriftsteller • Synästhesie • Tagebuch • Wahrnehmung
ISBN-10 3-518-75716-4 / 3518757164
ISBN-13 978-3-518-75716-1 / 9783518757161
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