Ich wurde nicht als Hure geboren, ich wurde zu einer gemacht - Mein Weg aus der lettischen Heimat ins deutsche Rotlicht - Biografischer Roman (eBook)
346 Seiten
Verlag DeBehr
978-3-95753-471-2 (ISBN)
2. Kapitel: Menorca
Er hatte Natalie in München am Flughafen abgeholt. Für sie sollte es das große Wiedersehen werden. Nie hatte sie daran gedacht, dass ihr Freund ganz andere Absichten hatte. Auf dem Flug von Vilnius in Lettland nach München dachte sie darüber nach, wie er sie empfangen würde. Wie war das fremde Land, wo er Natalie erwartete? Sie hatte sich irrsinnig gefreut, als er sie ganz unverhofft anrief, um sich eine Fortsetzung des Urlaubsflirts zu wünschen, der damals auf Menorca begonnen hatte. „Möchtest du nach Deutschland kommen und einige Zeit bei mir bleiben?“, hatte er gefragt und Natalie hatte spontan zugesagt. „Ja, Hermann, ich würde ja gerne nach Deutschland reisen, aber leider kann ich mir nicht zweimal im Jahr eine Flugreise leisten.“
„Das ist kein Problem“, entgegnete er, „ich schicke dir das Ticket zu. Ich wünsche mir nur so sehr, dass ich dich endlich in meine Arme schließen kann. Also würdest du kommen, falls ich dir den Flug bezahle?“ In ihrer Naivität hatte Natalie zugestimmt und schon eine Woche später war tatsächlich der Flugschein eingetroffen. Dass es ein One-Way-Ticket war, hatte sie nicht besonders verwundert, sondern sie hatte eher daran gedacht, dass sie möglichst lange bei ihm bleiben und somit den Rückreisetermin nicht festlegen wollte. Nachdem das Flugticket eingetroffen war, erledigte Natalie so rasch sie nur konnte alle Formalitäten, um ein begrenztes Aufenthaltsvisum zu erhalten, das ihr erlaubte, drei Monate in Deutschland zu bleiben.
So saß Natalie, ehe sie sich versehen konnte, hier im Flugzeug. Kaum drei Stunden trennten sie von zwei Welten, der ihren und der ihres Freundes. Zwar hatte Natalie schon viel von dem Land, in das sie reiste, gehört, aber dort gewesen? Nein, dort gewesen war sie noch nie. Das Flugzeug wurde emporgehoben über die Wolken in den strahlend schönen Morgenhimmel. Hier, nahe der Sonne, verfiel sie in die Erinnerungen an den Beginn ihrer Freundschaft:
Es war am Strand auf Menorca gewesen. Zum ersten Mal machte Natalie Urlaub, ein Luxus, den sie sich überhaupt nicht leisten konnte, doch hatte sie hart gespart, um sich den Wunsch nach Freiheit erlauben zu können, so übermächtig und eindringlich schrie alles nach diesem Wunsch. Ursprünglich plante sie, auf die große Hauptinsel der Balearen zu fliegen, doch jetzt in der Ferienzeit gab es dort kein Quartier mehr. So hatte sich Natalie zu einem Kompromiss entschlossen und auf der Nachbarinsel an der Westküste ein Hotelzimmer gebucht. Ihre Heimat, Lettland, lag weit hinter ihr. Jetzt, wo man sich nach dem Zusammenbruch des Zwangsbündnisses der osteuropäischen Staaten, endlich frei bewegen konnte, verreisten viele ihrer Landsleute. Es war wie ein innerer Trieb, dem zu entkommen vergeblich war. Raus aus dem Alltag, raus aus dem Einerlei, hinein in die Freiheit. Die Seelen der Menschen schrien nach diesem neuen Gefühl und wer es sich erlauben konnte, gab ihm nach. So war es auch bei ihr. Natalie wollte Sonne, Meer und Freiheit, sie wollte lachen, sie wollte frei sein, und die Fesseln der Vergangenheit hinter sich lassen.
Kaum war sie im Hotel an der Westküste der Insel angekommen, zog es sie auch schon wieder hinaus. Das Meer lockte. Raschen Schritts eilte sie den Hinweisschildern „Calla Blanca“ folgend die Straße hinab. Kurz vor dem Ziel musste Natalie noch einen kleinen Weg überqueren, danach einige Stufen hinabgehen, bis zum warmen Sandstrand. Es war eine der für diese Insel typischen Buchten, eingerahmt vom wassergezeichneten Fels, regelrecht über Tausende von Jahren aus ihm herausgefräst. Wie eine Zunge lag der sanft abfallende Strand vor ihr. Rings um die Bucht herum standen noch die verbliebenen Pinien eines ehemaligen größeren Waldes. Zwischen ihnen hatten die Bewohner der Insel ihre Ferienhäuser und Restaurants angelegt. Nie würde sie vergessen, wie der weiße Sand sanft unter ihren nackten Füßen knirschte und der warme Wind sich in ihren Haaren verfing. Wie schön und friedlich hier alles ist, dachte sie im Stillen.
„Die Insel des Windes“ hatte im Reiseprospekt gestanden. Davon spürte sie jetzt nicht sehr viel. Es war eher ein leichter Hauch von dem, was im Herbst die Insel heimsuchte.
Ihr Blick glitt weit hinaus zum Horizont, dorthin wo der azurblaue Himmel das Meer berührte. Langsam setzte sie sich in den von der Sonne aufgewärmten Sand. Hier war alles ganz anders als daheim. Keine Sorgen und Nöte. Alles war weit fort, so als ob es sie nie gegeben hätte. Dabei war sie doch noch gestern dort gewesen. Sie schaute weiter hinaus auf das Meer und genoss die angenehme Stille dieses Moments. Ihr ganzes Sein nahm diese Ruhe in sich auf. Schon jetzt löste sie sich von all ihren Problemen, die mehrere Tausend Kilometer fern von hier auf sie warteten, um sich nach ihrer Rückkehr auf sie zu stürzen. Wie würde es ihr in den nächsten drei Wochen ergehen, dachte sie? Innerlich machte sich ein leichtes Kribbeln bemerkbar, das man bis tief in den Bauch spürte und den Herzschlag beschleunigte. Natalie blieb still sitzen und genoss diesen ersten Moment. Sie saugte alle Eindrücke mit jedem Atemzug auf und ließ ihre Gedanken davonfliegen, hinaus auf das Meer. Erst Stunden später kehrte sie zurück ins Hotel und sie wollte sich gerade auf ihr Zimmer begeben, als sie ihn am Empfang flüchtig das erste Mal sah.
Von der Sonne müde geworden legte sie sich leicht erschöpft auf das Bett. Als sie die Augen schloss, begegnete ihr im Traum ein unbekannter Mann. Deutlich nahm sie seinen sportlichen Körper wahr. Leicht muskulös, aber nicht fett, sondern durchtrainiert. Der Traum war so intensiv, dass Natalie fast alles sehen konnte, bis auf sein Gesicht, das unter einer schwarzen Maske verborgen blieb. Er nahm sie bei der Hand. Im Traum gingen sie gemeinsam am Strand spazieren. Noch war es nur eine stumme Zuneigung, ohne jedes Wort. Die Blicke ihrer Augen verrieten das stille Einverständnis ihrer Zuneigung. Natalies Herz begann, höher zu schlagen. War es nur ein typischer Ferienflirt oder deutete sich da mehr an, fragte sie sich? So gingen sie noch stundenlang am Strand entlang. Als die Sonne sich bereitmachte, blutrot im Meer zu versinken, hielt er an und zog Natalie sanft zu sich, um sie zu küssen. Ein erstes Gefühl von Zuneigung brandete auf. Gemeinsam erlebten sie den berauschenden Moment, als die Sonne im Meer versank. Als Natalie heimgehen wollte, bat er sie zu bleiben. Obwohl sie genau wusste, was jetzt kommen würde, wehrte sie sich nicht gegen die aufkommenden Gefühle. Wie sehr hatte sie sich in ihrem jungen Leben danach gesehnt, von einem Mann geliebt zu werden. Jetzt war es soweit. Voller Vertrauen und Sehnsucht gab sie sich dem Unbekannten hin, um mit ihm eine erste Liebesnacht dieses Urlaubs zu verbringen.
Stunden vergingen, bevor Natalie aufwachte. Der Traum war verschwunden. Körperlich kaum erholt und leicht benebelt vom tiefen Schlaf stand sie auf. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es an der Zeit war, etwas zu sich zu nehmen. So verließ sie das Zimmer und begab sich nach unten zum Empfang, wo sie in brüchigem Englisch einen der Hotelbediensteten bat, ihr den Weg zum Speisesaal zu zeigen. Der Kellner geleitete Natalie mit beeindruckend fließenden Bewegungen dorthin und führte sie an ihren Tisch. Von der Speisekarte wählte Natalie aus der Vielzahl von Gerichten einen landesüblichen Grillteller mit Reis aus. Sie war neugierig, wie das unbekannte Gericht wohl schmecken würde. Dazu wählte Natalie einen leichten Rotwein. Während sie so aufs Essen wartete, sah sich Natalie um. Im Saal waren mehrere Personen anwesend. Gerade gegenüber saß jemand, der mir irgendwie vertraut vorkam. Es war ein junger Mann, der mit blitzend weißen Zähnen zu Natalie herüberlächelte. Woher kannte sie dieses Gesicht? Aus ihrer Heimat? Nein, der junge Mann hatte gar nichts von einem Osteuropäer. Er war eher der mitteleuropäische Typ. Im Gegensatz zu den anderen Gästen war er stilvoll in korrekt sitzendem Anzug und einer passenden Krawatte gekleidet. Nicht wie der einfache Tourist, der hier in kurzer Hose und T-Shirt herumsaß. Natalies Gedanken wurden unterbrochen, denn kurze Zeit später brachte der Kellner das Abendessen.
Es duftete wunderbar und sah köstlich aus. Ihre innere Ruhe und die Gewissheit, dass sie sich heute Abend etwas Besonderes leistete, ließ ihr das Essen noch mal so gut munden. Der Wein war gut gekühlt und schön trocken, so wie sie ihn mochte. Daheim gab es solche Köstlichkeiten nicht und wenn, dann konnten es sich nur wirklich Wohlhabende leisten. Es dauerte geraume Zeit, bis Natalie zu Ende gegessen hatte. Der Kellner erkundigte sich, ob sie zufrieden war, was sie bestätigte. Dies wiederum brachte ihr ein Lächeln seinerseits ein. Nachdem Natalie bezahlt hatte, ging sie nochmals zum Strand.
Dort angekommen neigte sich die Sonne im Westen bereits gegen den Horizont. Ihr grelles, helles Licht wurde allmählich zartrot. Natalie war, wie sie feststellte, nicht allein am Strand. Eine größere Anzahl von Personen sahen mit ihr gebannt auf das Meer. Es schien ihr, dass es immer wieder ein besonderes Ereignis war, wenn sich der Tag verabschiedete und die Sonne im Meer versank. Die Blicke der mit Sonnenbrillen bedeckten Augen richteten sich zum Horizont. Stumm und voller Erstaunen sah man gebannt zu, wie sich die Sonne immer schneller auf das Meer zu bewegte. Dabei wurde sie noch größer. Wie ein Kuss berührte sie mit ihrem unteren Rand den Horizont. Das Licht war jetzt blutrot. Ohne einen Laut versank der Feuerball ins nasse Element. Einige der Umherstehenden fingen an zu jubeln, andere hingegen sahen dem Naturschauspiel stumm und voll innerer Ruhe...
Erscheint lt. Verlag | 19.11.2017 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-95753-471-2 / 3957534712 |
ISBN-13 | 978-3-95753-471-2 / 9783957534712 |
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