Der Fortführer (eBook)
208 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00140-4 (ISBN)
Botho Strauß, geboren 1944 in Naumburg/Saale, zählt zu den bedeutendsten Dramatikern und Essayisten unserer Zeit. Sein Werk wurde mit vielen Preisen gewürdigt, darunter auch mit dem Büchner-Preis. Er lebt in der Uckermark und in Berlin.
Botho Strauß, geboren 1944 in Naumburg/Saale, zählt zu den bedeutendsten Dramatikern und Essayisten unserer Zeit. Sein Werk wurde mit vielen Preisen gewürdigt, darunter auch mit dem Büchner-Preis. Er lebt in der Uckermark und in Berlin.
Vier
Ungewiß, ob sich die Menschen nicht von Anfang an nach einer geheimen Begleitmusik bewegten. Immerzu Musik von fern vernommen haben und ihrem Takt gefolgt sind. Die Ideen und ihr schneller Tausch, Modulationen, Verwechslungen und Erhöhungen, die Bilderfluten, wie rasch hier eins ins nächste erlosch! Fuge und Variationen über wenige Themen. War nicht am Ende alles Richten und Zerstören bloß der Tanz zu einflußreicher Musik, die von unsichtbaren Terrassen herüberklang und zu den kühnsten Handlungen aufspielte?
Oh ihr vögelsprudelnden Bäume …! Ich Herbsthabenichts unten im Gras höre die Wehklage ungepflückter Früchte. Es schreien die Birnen, die in nächster Nacht zu Boden stürzen werden.
Die Kosten der Illusionen werden immer höher bei solchen Festlichkeiten, die mit übermütigen Fanfarenstößen beginnen, worauf dann doch niemand zum Festakt erscheint.
Worte, abgeschlossene, manche kugelrund wie die Träne, und haben mit dieser den Weg des Verrinnens gemein, zuweilen auch die Lust am Kullern, nachdem sie mit einer gewissen Hast von den Lippen sprangen, als ob einer mit doppelten Atemzügen mehr vom Leben erwischte als mit einem tiefen.
Ist das noch die Welt, vor der man getrost die Augen verschließen konnte? Oder geht man bereits unter jenen um, denen für ewig das Auge aufgesperrt bleibt?
Der mit der Stille lebt, seiner sphärischen Braut. Abends über die Seen rudert und nie ein Benzinboot benutzt. Der niemandes gedenkt, sondern ein Durchhaus ist für Väter und Ahnen.
Auf einen Verstorbenen, der in eines anderen Gedächtnis überlebt, zählen Dutzende, die nirgends unterkommen! Man beklage die wahren Obdachlosen.
«Wer erinnert, existiert; doch wer erinnert wird, lebt.»
Teixeira de Pascoaes, «Das dunkle Wort».
Aber das Ich – dieser Batzen von tausend verfilzten Masken und Schichten! Die man sein Lebtag säuberlich zu trennen sich mühte und am Ende säuberlich aufgetrennt wie nasse Geldscheine an die Leine hängt, um sie am Zahltag leicht hinblättern zu können, wenn es darum geht, die letzte Rechnung zu begleichen. Ich! Das klingt, als würden mir alle Haare auf einmal gespalten.
Irgendwann irgendwo bist du dem Überbringer deiner Schattenformel begegnet. Du wirst wohl nie erfahren, wer es gewesen ist. Du kamst vielleicht nur sehr flüchtig mit ihm in Berührung. In einem Parkhaus. Am Rande einer Tagung. Oder war es einmal der Vordermann in einer Warteschlange, der sich zu dir umdrehte? Oder etwa sie? War sie es gar? … Alles andere als eine flüchtige Berührung: sie. Lautlos ging dann in einer längst vergessenen Nacht dieser Code aus fremdem Herzen über in deines.
Die Unnennbare! Manche brauchen dennoch etwas zum Nennen, und einfache Scheu nicht achtend, wählen sie die gebräuchliche häusliche Form: Liebe. Die Unnennbare aber macht diesen hier, jene dort namenlos; dann erst finden sie sich und sind nicht wenig verblüfft über die albernen Familiennamen, die sie zu ihrer Unterscheidung trugen. Ist sie nicht, die Unnennbare, Bestandteil des Namens, der nicht gesagt werden kann?
Besäßen wir statt des Einsilbers «Gott» eine lange algebraische Formel, würden wir nicht so viel Nennmißbrauch mit Ihm treiben. Tatsächlich wären komplexe Zahlen ein Korollar Seiner Unnennbarkeit.
Unverzagt sprach ich mein Lebtag zu lauter Abgewandten. Man kann aber nicht, ohne sich vor seinem Schicksal lächerlich zu machen, hartnäckig und ohne Widerhall in anderer Leute unwendbaren Rücken reden. Man schweigt also besser. Das Verwerfliche daran ist nur: Man hofft insgeheim, daß gerade dieses Schweigen mehr auffällt als die Worte, die man machte; daß es an irgendeinem Rücken ziehe und zehre, worauf einer vielleicht doch meint sich umdrehen zu sollen, um nachzusehen, welche Ruhe ihn da kitzelt. So hofft man unwürdig auf den beunruhigenden Effekt der Stille, die man verbreitet. Und er tritt ein. Einen gibt es, der sich umdreht. Doch es kommt vom Gewendeten nur ein kurzes, unwirsches «Warum?» und fragt den anstößigen Schweiger. Gleich möchte er antworten, möchte flüssig reden! Schon löst sich die Zunge …
«Genug von dem!» schreit da ein dritter und dreht den Umgekehrten zurück in seine Reihe. «Diesen Mann laß nur im Regen stehen», befiehlt er.
Versagen hier, Es-sich-Versagen dort, sie bilden die Voraussetzung des täglichen Gespanntseins auf … Oder des Gespanntseins an sich. Ich stehe auf, der Tag beginnt, ich bin gespannt. Der Nichtstuer ist kein Faulenzer. Er verarbeitet eine Unmenge von Eindrücken, er arbeitet am laufenden Band. Er leistet bestimmt mehr Verarbeitungsarbeit als jeder Werktätige an der Fertigungsstraße. Passivität ist dafür unabdingbar, ist Voraussetzung für die Höchstleistung eines Ichs, das sich seiner Sonderstellung zwischen Himmel und Erde, zwischen Geschichte und Natur, zwischen Jetzt und Nu unentwegt versichern muß. Einsamkeit, einmal betrachtet als laborreine Isolierung, die dem Erdkrüppel Mensch für den Empfang aus der Senkrechten unabdingbar ist.
Der blonde Wald. Wo warst du? Nenne Orte, an denen du auftauchtest.
Wen siehst du dort? Einen, der viel herumstand an sonnigen Mauern.
Einen, der früher schon dauernd an früher dachte.
Man lebt als Trouvaille und lebt von Trouvaillen.
Er zeigte uns das Kompositfoto einer Frau mit mittellangem Haar, mittellanger Nase, mittelbreitem Mund und mittelrundem Kinn: Etliche Fotos seiner verschiedenen Geliebten, übereinanderkopiert, ergaben das Antlitz seiner Durchschnittsgeliebten.
«Cur aliquid vidi?» (Ovid, «Tristia» II103: Warum ward ich schuldig durch Blicke? fragt sich Actaeon.)
Warum sah ich was? Wozu sehen? Wozu gesehen haben, daß etwas da ist? Da ist etwas, wozu es sehen?
Ich habe genug gesehen. Ich sehe, daß, was ich sah, nun kahl ist. Ich sehe, daß der Wald kahl ist. Ich sehe, daß der Teppich zu meinen Füßen kahl ist.
Es waren zwei alte Männer, die Erschrockenen, nur mit ihren schmuddligen Oberhemden als Lendenschurz.
Sie standen im Rücken einer schwarz verschlaubten Frau, der dunklen, schwerlebigen, die über dem Bartresen lehnte mit gespreizten Ellbogen, deren Ende mit modischen Ellbogenspitzen verlängert waren:
Man rafft’s an sich, illegitim, ein Bruchstück aus dem wüsten Geschehen. Betrachtet’s, durchdringt’s mit klaren Gedanken und gibt es zurück, ein geläutertes Bild, dem wüsten Geschehen.
Das reuige Gefühl, die Greisin einsam auf ihrer Stube zurückgelassen zu haben, verbindet sich dem Gedanken an die kosmische Verlassenheit von Mutter Erde alles in allem. Und so geht die ursprüngliche warmherzige Regung an der Lächerlichkeit eines verfehlten Vergleichs zugrunde. Gleichwohl schafft dessen Großspurigkeit zwischen der Mutter und mir eine räumliche Einbeschließung. Es ist ein Raum, ein Licht, ein Ausweg: unteilbare Verlassenheit.
Das Anlehnungsbedürfnis, das den gesamten ungeschützten Rücken durchzieht, während vorn die Augen dem Kreuz und Quer pfeilschneller Schwalben folgen, so pfeilschnell, wie ihm die Namen entfallen, einem Mann, der froh ist, wenn er, einen haarenden Besen betrachtend, das Wort Borste noch erwischt.
In der Nacht begegnete ihm Similis, Schöpfer der Ähnlichkeiten – vom wahren Schöpfer so weit entfernt wie der Baum vom Baumkuchen.
Die Worte, die Augen – sie vergleichen mit den Jahren mehr miteinander, als tatsächlich vergleichbar ist. Von Stufe zu Stufe entdecken sie Entsprechungen und steigen von Ähnlichkeit zu Ähnlichkeit.
Auf welchen Werken alter Kunst sind wir, Verletzte von heute, lange vor unserem Erscheinen bereits aufgetaucht? In welchen Szenen großer Meister früh schon vorausgesehen?
Wie viele Phantome, Mißgeburten, scheue Flüchtlinge drängten sich schon in dieses lichte Zimmer! Und welch ein Andrang Schrift, von der nur zwei, drei blutige Sätze auf den Mauern stehen blieben!
In der Stille, der unstillbaren, die dich hinüberholt …
Es ist, als ob die Stille nur abwartete. Abwarten und schwellen, das ist die ganze Stille. Bis sie unversehens einen übermächtigen Schrei entbindet.
Der stockende Atem eines Bewußtseins, dem es im wesentlichen selbst um das Stocken zu tun ist, das Stocken an sich, um die Macht des Zögerns und der Verlegenheit, des vielleicht sichersten Gewahrwerdens von Existenz.
Was befindet sich also im Gegensatz zur Zeit (außer der allen unbekannten Ewigkeit)?
Sind es die Hesitate, die Stätten des Zögerns, des Aufenthalts, um zu lesen des Zögerns kreisende Zeichen? Was also befindet sich im Widerspruch zur Zeit?
Wir waren dem Unscheinbaren schon so nah …!
Man suche nur, jeder auf seinem Ödfeld, nach faustgroßen runden Steinen. Sammle so viele, wie sie mit Gedichten auf Papier sich umwickeln lassen, bis keiner mehr unverhüllt bleibt.
Die karge Ebene läge schließlich gefüllt mit in Poesie gewickelten Steinen, wie man sie in höfischer Zeit nach und nach über eine hohe Mauer geschleudert hätte, um einem streng bewachten Burgfräulein eine Huldigung zu bringen.
«Ich bin das sprichwörtliche, das sattsam bekannte, auf deutscher Raststätte vergessene Findelkind, liegengelassen neben Rosen aus Wachs,...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2018 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Bild • Fragment • Miniatur • Phantasie • Romantik • Traum • Zeitlosigkeit |
ISBN-10 | 3-644-00140-5 / 3644001405 |
ISBN-13 | 978-3-644-00140-4 / 9783644001404 |
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