Wo sind die Beweise, Sir? (eBook)
124 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-10666-0 (ISBN)
John Bingham, 1908 als einziger Sohn von Lord Clanmorris in York, England, geboren, war ursprünglich Journalist und zeitweiliger Mitarbeiter des «Punch». Bingham gehörte viele Jahre zur internationalen Spitzenklasse der Autoren von Spannungsliteratur. In seinen Büchern erwies er sich immer wieder als Meister dieser Gattung, obgleich er oft auf harte Aktionen und laute Effekte verzichtete. Er starb 1988.
John Bingham, 1908 als einziger Sohn von Lord Clanmorris in York, England, geboren, war ursprünglich Journalist und zeitweiliger Mitarbeiter des «Punch». Bingham gehörte viele Jahre zur internationalen Spitzenklasse der Autoren von Spannungsliteratur. In seinen Büchern erwies er sich immer wieder als Meister dieser Gattung, obgleich er oft auf harte Aktionen und laute Effekte verzichtete. Er starb 1988.
1
Wir leben in einem gefährlichen Zeitalter, nicht nur wegen der Atombombe und der hohen Steuern. Die Menschheit war schon immer dem Terror ausgesetzt, wie zum Beispiel der Pest, dem Einfall der Mongolen, Rassenverfolgungen oder der Machtgier einzelner.
Wie in der Vergangenheit, so muß auch heute der Durchschnittsmensch auf der Hut sein, wenn er nicht untergehen will, sonst wird er ein Opfer der Gefahren, denen er sich täglich gegenübersieht, oder aber jener anderen, die plötzlich über ihn hereinbrechen, von denen er vorher keine Ahnung hatte und gegen die er sich, verstört und aufgescheucht, seiner Haut wehren muß, so gut er kann. Und oft ist das gar nicht so einfach.
Die Welt ist noch immer ein Dschungel, obgleich die besiedelten Gebiete größer und die Verbindungswege zumeist gut ausgebaut und scheinbar sicher sind. Normalerweise kann der Bauer bei Tag und selbst bei Nacht ungeschoren seinen Geschäften nachgehen. Aber zuweilen, wenn er auf abgelegenere Pfade gerät, kann es geschehen, daß ihn ein plötzliches Aufleuchten von grünen Augen im Gestrüpp zu beiden Seiten des Weges, schleichende Bewegungen und das Knacken von Zweigen aufschrecken.
Falls er ein Optimist ist, wird er die Achseln zucken und keine Notiz davon nehmen, so wie ich es zunächst getan habe. Aber jetzt weiß ich: die Art der Bedrohung hat sich zwar gewandelt, doch die Raubtiere sind noch immer da, blutrünstig wie eh und je.
Man braucht diese Gedanken nicht übertrieben ernst zu nehmen. In vieler Hinsicht ist es besser, Optimist zu sein und auf das Glück zu vertrauen, wie es der primitive Bauer in der Vergangenheit hatte tun müssen, um das Leben überhaupt ertragen zu können. Und wenn hin und wieder einmal ein Bauer von den Bestien zerrissen wird – na schön; das ist eben Pech.
Es gibt ja so viele von uns Bauern.
Der Anfang dieser Geschichte ist simpel, wie meistens in solchen Fällen. Ich schreibe Kriminalromane, das heißt also, daß die Personen meiner Geschichte meist erfunden sind. Aber manchmal hat mein Opfer eine Ähnlichkeit mit jemand, den ich verabscheue. Warum auch nicht? Jede Arbeit hat ihre Annehmlichkeiten. Eine phantastische Vorstellung, jemand literarisch zu ermorden, gegen den man einen besonderen Widerwillen empfindet. Es versüßt die Mühe des Schreibens.
Aber Lucy Dawson kannte ich eigentlich nicht, und ich verabscheue sie auch nicht. Sie wurde mir als Opfer sozusagen auf dem Präsentierteller gereicht. Ich hatte nie mit ihr gesprochen, sie nur einige Male gesehen.
Sie war eine große, magere Frau über siebzig mit stark gebogener Nase, freundlichem Lächeln und einer weichen, kultivierten Stimme. Ich nehme an, daß sie in England schwarz gekleidet ging, aber bei der Septemberhitze, die südlich von Neapel herrschte, trug sie graue oder zartblaue Kleider.
Wenn ich an sie denke, sehe ich sie meistens graugekleidet vor mir. Ich sehe sie allein sitzen und essen, draußen im Vorgarten des Restaurants, wo während der heißen Jahreszeit die Mahlzeiten serviert werden. Manchmal huscht eine Eidechse über den Boden, und über den Golf hinweg kann man in der Dunkelheit die Lichter von Neapel schimmern sehen.
Ich erinnere mich vage an die glitzernden Brillantringe an ihren Fingern und etwas deutlicher an einen herrlichen Amethystanhänger mit einem Diamanten, der an einer goldenen Kette um ihren Hals hing. Sie trug ihn am Tag und auch am Abend, und ich erinnere mich, daß ich damals dachte, es sei etwas zu aufwendig, solchen Schmuck am Tag zu tragen. Wahrscheinlich wollte sie ihn nicht auf ihrem Zimmer lassen.
Ich weiß, daß zwei Ehepaare versucht hatten, mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber sie unterhielt sich kaum mit jemand; sie wahrte nur stets sehr freundlich die üblichen Höflichkeitsformen.
Die vier Tage, die wir zusammen im selben Hotel wohnten, verbrachte sie, indem sie Bücher und Zeitungen las, die sie sich aus England hatte nachschicken lassen, oder indem sie die Uferstraße entlangging, auf einen Spazierstock gestützt, dessen Griff aus Gold und Elfenbein bestand. Allerdings erfuhr ich später, daß sie manchmal längere Ausflüge in einem gemieteten Wagen unternahm.
Dann verließ ich für eine Woche das Hotel in der Nähe von Sorrent, um Paestum, Cumä und andere Ruinen aus der Römerzeit zu besichtigen. Ich trug mich mit der an den Haaren herbeigezogenen Idee, meinen nächsten Mord in Cumä spielen zu lassen, in der dunklen Höhle, in der ich Sybille die Zukunft geweissagt haben soll. Vielleicht auch im Heiligtum einer der griechischen Tempel bei Paestum, in einer alten Villa von Pompeji oder dergleichen. Und dann, während ich Lokalkolorit sammelte, geschah der Mord. Sozusagen direkt vor meiner Haustür; wenige Kilometer entfernt, in Pompeji.
Wenn ich Pompeji von früheren Besuchen her nicht so gut gekannt hätte, wäre ich wahrscheinlich an dem Tag, an dem sie starb, in den großartigen Ruinen dieser Stadt umhergewandert.
Als ich nach Sorrent in das Hotel zurückkehrte, war die schlimmste Aufregung schon vorüber. Die Polizei war dagewesen und wieder gegangen. Man hatte ihr Zimmer für einige Tage verschlossen und versiegelt; jetzt war es nur noch verschlossen, da man noch nicht wußte, was mit ihrem Eigentum geschehen sollte. Die Hotelgäste und das Personal hatten aufgehört, sich flüsternd über die Tragödie zu ereifern. Die Leute gingen baden, lagen in der Sonne, betrachteten die blaßhäutigen Neuankömmlinge und rieben sich mit Sonnenöl ein. Die freundliche und einsame Mrs. Dawson war fotografiert, in den Akten registriert und schließlich auf dem protestantischen Friedhof von Neapel beigesetzt worden.
Ich hatte natürlich in den italienischen Zeitungen über das Verbrechen gelesen und fand die Sache ziemlich rätselhaft. Der Polizei, entnahm ich den Berichten, ging es nicht anders.
Weder die Brillantringe noch der wertvolle Amethystanhänger waren gestohlen worden. Lire im Wert von über sieben englischen Pfund lagen unberührt in ihrer Handtasche. Und ein Sexualverbrechen war völlig ausgeschlossen. Nur soviel stand fest: Sie war hinter den Mauern des Hauses Nr. 27 in der Sektion 12 mit einem italienischen Seidenschal erdrosselt worden. Sie hatte, wie ich mich erinnerte, mehrere sehr hübsche italienische Halstücher besessen.
Fast alle Häuser in Pompeji sind nur noch Ruinen ohne Dächer, und inmitten der Quadrate und Rechtecke aus ungleichmäßig hohen, zerfallenen Mauern ist nichts als nackte Erde. Ich stellte mir vor, wie der Mörder die alte, gebrechliche Frau in das Haus Nr. 27 lockte, sich zu ihr beugte, vielleicht unter dem Vorwand, ihr Halstuch zurechtzurücken, mit jeder Hand ein Ende des Halstuches ergriff und mit einem Ruck zuzog … Wahrscheinlich hatte er gleichzeitig mit den Daumen die Halsschlagadern abgequetscht; eine rasche und schmerzlose Methode, einen Menschen innerhalb von Sekunden bewußtlos zu machen. Das Opfer kommt nicht mehr zum Schreien. Bei längerem Druck wird die Blutzufuhr zum Gehirn unterbrochen, und der Tod tritt ein … So mochte es sich abgespielt haben.
Wenn der Mörder nach dieser Methode vorgegangen war, ließ sich daraus schließen, daß Mrs. Dawson ihn gekannt hatte; ich konnte mir nicht vorstellen, daß eine würdige viktorianische Dame einem Fremden gestattet haben würde, ihr das Halstuch zurechtzurücken. Und da diese Methode ziemlich viel Kraft erfordert, mußte es sich bei dem Täter wohl um einen Mann gehandelt haben … Aber vielleicht war es doch ein Fremder gewesen, und vielleicht war der Mord auch auf simplere, brutalere Art verübt worden. Ich hoffte es nicht.
Ich fuhr hinüber in das staubige Pompeji. Nicht aus Sensationslust, sondern weil ich außer Büchern auch Zeitungsartikel schreibe; ich wollte mir auf alle Fälle den Tatort ansehen und mir Notizen machen.
Es gab keine sensationslüsternen Gaffer, und ich war ganz allein, als ich das Haus Nr. 27 betrat. Allerdings bemerkte ich ein paar Meter weiter die Straße hinauf eine dunkelhäutige, untersetzte Gestalt, die sich von einer niedrigen Mauer erhob und auf mich zukam. Der Mann trug die Uniform der Wächter, denen es obliegt, Besucher daran zu hindern, antike Stücke mitzunehmen.
Ich kannte ihn. Er war ein verwittert aussehender Bursche um die Fünfzig; ich hatte mich bei früheren Besuchen mit ihm unterhalten. Er war Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens und schrieb jedes Mißgeschick, das ihm im Leben widerfahren war beziehungsweise noch widerfahren würde, den Unzulänglichkeiten des kapitalistischen Systems zu.
Er hieß Mario Bartelli. Der Vesuv habe damals eine gute Arbeit geleistet, als er die Kapitalisten in Pompeji, Herculaneum und anderen Städten vernichtete, hatte Mario damals gemeint. Aber die ganze Angelegenheit sei auf einen zu kleinen Raum begrenzt gewesen. Um das ganze verrottete und dekadente System zu vernichten, sei schon ein bißchen mehr erforderlich, als ein schlichter Vulkanausbruch.
Heute schien er das Bedürfnis zu haben, das Gespräch fortzusetzen. Er machte die Ruinenverwaltung dafür verantwortlich, daß er so wenig Trinkgelder bekam: Weil sie ihn nämlich immer dort einteilten, wo es keine obszönen Kritzeleien auf den Wänden und folglich auch keine spendenfreudigen Touristen gab … Für Mario Bartelli bedeutete Pompeji nur die dürftig tröpfelnde Quelle, aus der er seine zahlreiche Familie mit der täglichen Polenta speiste und noch eben die Miete für zwei Zimmer in einem stickigen Haus in Castellamare abzweigen konnte; wer ihn in einer trinkgeldarmen Sektion einteilte, der hatte offensichtlich etwas gegen die Weltrevolution. Ich ließ ihn schließlich stehen und ging in das Haus, in dem Mrs. Dawson getötet worden war. Unwillkürlich mußte ich an die wenig...
Erscheint lt. Verlag | 17.11.2017 |
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Übersetzer | Arnold Rothermann |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Britisch • England • Italien • Journalist • Klassiker • Klassischer Kriminalroman • Krimi • Mord • Pompei • Pompeji • Roman Noir • Schriftsteller |
ISBN-10 | 3-688-10666-0 / 3688106660 |
ISBN-13 | 978-3-688-10666-0 / 9783688106660 |
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