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Letzte Fahrt nach Königsberg (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
352 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-21306-0 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
12,99 inkl. MwSt
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Königsberg, das sind für Ella die Möwen über dem Fischmarkt, das ist der ornamentale Rundbogen über dem väterlichen Weinkontor. Das sind die unbeschwerten Tage an der Küste des Samlands und das ist Victor, ihre erste große Jugendliebe. Doch Anfang 1945, kurz vor Kriegsende, liegt die einst so prachtvolle Metropole Ostpreußens in Schutt und Asche. Und auch in Potsdam, wohin sich Ella mit ihren beiden Kindern geflüchtet hat, wird die Lage immer beklemmender, die Essensvorräte immer knapper. Als Ella sich an die zahllosen Einmachgläser im Keller ihrer alten Königsberger Wohnung erinnert, gefüllt mit Mirabellen, Sauerkraut und Schweinebraten, wagt sie das Unmögliche: Mitten hinein in den Vormarsch der russischen Truppen steigt sie in den Zug nach Königsberg, in eine Welt, die dem Untergang geweiht ist.

Ulrich Trebbin hat in Regensburg studiert, ist Hörfunkjournalist und Gestalttherapeut. Er arbeitet seit 1998 als Autor und Reporter beim Bayerischen Rundfunk und betreibt eine psychotherapeutische Praxis in München.

1

Potsdam, Anfang Januar 1945

Es rauscht in Ellas Kopf. Sie fühlt sich bleiern. Blass liegt sie auf dem Sofa. Eben hat sie die Kinder ins Bett gebracht und dann die Füße hochgelegt. Noch eine halbe Stunde bis zum Abendessen mit Viki, ihrer großen Schwester. Die hölzerne Armlehne des Sofas hat sie mit einem kratzigen Kissen abgepolstert, ihre Hand ist hinter die Schulterblätter geklemmt, die Armbeuge stützt den Hinterkopf. Ihr Blick verliert sich im Muster der braunen Wasserflecken an der Decke.

Die Luftangriffe der letzten Jahre zielten zwar vor allem auf Berlin, aber auch hier in Potsdam sind einige Häuser von den Luftminen zerstört worden. Das Dach ihres Hauses ist mit einem leichten Schaden davongekommen und notdürftig repariert worden. Die Decke zu streichen, dazu hat sich keiner aufraffen können. Wozu auch? Niemand weiß, wie viele Bombenangriffe noch kommen werden. Immerhin müssen sie sich nur noch selten die Nächte in den Kellern um die Ohren schlagen, weil die Engländer längst auch bei Tageslicht fliegen können – die deutsche Flugabwehr ist praktisch hinüber. Mit Galgenhumor spaßen die Leute: »Früher hat die Flak hundert Schuss pro feindliches Flugzeug abgefeuert, jetzt kommen hundert Flugzeuge auf einen Schuss.«

Bloß nicht dran denken. Ella massiert sich mit beiden Händen die Nasenwurzel, dann die Stirn, dann das ganze Gesicht. Lieber Viki zuhören, die nebenan am Klavier Brahms spielt, auch damit die Kinder besser einschlafen. Das sternklare Intermezzo besänftigt Ellas Nerven. Wie eine Glasharmonika klingt es nach paradiesischer Geborgenheit. In der sinnlosen Schwere der letzten Monate endlich etwas Wahrhaftiges, ein wärmendes Gefühl macht sich in Ella breit. Es ist wieder wie früher, wenn die große Schwester nachmittags in der Villa im Königsberger Stadtteil Maraunenhof am Flügel übte und Ella bei den Schularbeiten saß. Vor ihrem Fenster die Schwäne, die vom Grund des Oberteichs Wasserpflanzen heraufholten und blasenschlagend zerbissen. Da war auch Vater noch am Leben.

Wie deprimierend die Wasserflecken an der Decke sind. Sie führen ihr die Brüchigkeit ihrer Existenz vor Augen. Sie ist nur untergeschlüpft bei Viki, und eigentlich ist die Wohnung für sie alle zu klein. Aber sie kann den Blick nicht abwenden von den geheimnisvoll mäandernden Formen über ihr. In den braunen Linien da oben glaubt Ella, die Umrisse des Schwarzen Meeres zu erkennen und direkt daneben die Iberische Halbinsel und Madagaskar, das einer stoßzahnähnlichen Inselkette westlich vor Alaska zu entkommen sucht: Als hätte einer die Weltkarte auseinandergeschnitten und die Länder zum Spaß irgendwie auf dem Küchentisch durcheinander gemischt. Manche Landstriche sind dabei über die Tischkante gekippt und ins Nirgendwo getrudelt. Wie ihr Samland.

Ella denkt an den vergangenen Sommer in Ostpreußen, den sie bei Freunden auf dem Gut Pigallen bei Laptau verbracht hatten. Die Erinnerungen daran bewahrt sie auf wie in einem Schmuckkästchen. In Momenten wie diesen macht sie es auf und fährt in Gedanken wieder mit den Kindern ins nahe Seebad Cranz, um an der Ostsee die Segelboote der Nehrung zufahren zu sehen, über den hölzernen Corso zu laufen und die Möwen zu füttern oder bei Sturm auf dem Seesteg die anbrandenden Wellen unter sich durchrollen zu lassen. Dann holt sie ein Pferd aus dem Stall und reitet an der Steilküste entlang, abwechselnd aufwärts zur Steilküste und wieder hinab zu einem der Bäche, die sich durch finster zugewachsene Täler bis zum Meer hinabfurchen. Oder sie malt sich einen Ausflug zum Galtgarben aus, dem mit 111 Metern höchsten »Berg« des Samlandes, wo in ihrer Kindheit das Skilaufen in Mode gekommen war.

Das Ende dieses Sommers war jäh. Zu Hause in Königsberg erwartete sie Anfang September eine Trümmerwüste. Zwei Jahre nach den nadelstichartigen Luftangriffen der Russen hatten britische Lancaster-Bomber einen Feuersturm entfacht, der die Straßen in ein Inferno verwandelt hatte. Noch von Pigallen aus hatte Ella den Widerschein der Brunst am Himmel gesehen. Doch als sie zurück in die ehrwürdige Altstadt kam, jene Altstadt, die doch immer da gewesen war, solange sie denken konnte, waren fast alle Häuser ohne Dächer, der Schutt auf den Bürgersteigen reichte stellenweise bis zu den ersten Fensterbrettern hinauf. Einzelne Straßenbahnschienen waren in der Hitze gerissen und hatten sich nach oben gebogen. Drei Tage lang hatte man die noch glühende Innenstadt nicht betreten können, und auch jetzt noch erhitzten die Steine die Luft.

Im mittelalterlichen Schloss waren einst preußische Könige gekrönt worden! Doch jetzt kokelten überall nur noch die Balken vor sich hin, und die Luft war erfüllt vom ekelhaft süßlichen Gestank verwesenden Fleisches. Ella musste immer wieder den Würgereiz unterdrücken. Ihre Augen brannten. Aber sie musste noch zum Kneiphof hinunter. Musste es mit eigenen Augen sehen. Um es fassen zu können.

Vom Schloss sah sie hinab auf den Pregel. Der floss noch um die Dominsel herum, als ob nichts geschehen wäre, aber die alten Häuser darauf waren ein Trümmerfeld, das sich durch die noch immer aufsteigenden Rauchschwaden langsam in den Himmel aufzulösen schien. Einzelne Räumtrupps versuchten, die Straßen und Straßenbahnschienen wieder frei zu bekommen, ansonsten war die Flussinsel fast menschenleer: Posten sperrten die verwüsteten Areale ab. Ella mogelte sich über einen Schleichweg an ihnen vorbei und ging vom Schloss hinunter über die Krämerbrücke. Verrußte Fassaden ragten in den rauchschwarzen Himmel und schauten sie aus leeren Augen an. Hinter ihren scheibenlosen Fenstern waren keine Wohnungen mehr, keine Bücher, keine Möbel, keine Stockwerke. Die Häuser waren nur noch Schächte, in die von oben das Tageslicht fiel.

Am Straßenrand aufgereiht lagen Leichen. Obwohl der Angriff schon Tage her war, hatte man sie noch nicht alle wegschaffen und beerdigen können. Es mussten Tausende sein, die hier umgekommen waren, die meisten hatte man mit Tüchern zugedeckt. Ella versuchte, nicht hinzusehen, doch auch die einzelnen Bildfetzen brannten sich ihr unauslöschlich ein, verkohlte Körper auf die Größe von Kindern geschrumpft.

An die stehen gebliebenen Fassaden hatten überlebende Bewohner mit Kreide ihre neuen Adressen geschrieben, damit Freunde und Verwandte sie finden konnten. Das Kopfsteinpflaster war von einem zentimeterdicken Teppich aus Staub bedeckt und übersät mit Papieren. Hie und da lagen kindersarggroße Blindgänger herum.

Wo war die frühere Weinhandlung des Vaters? Wo ihre Renaissancefassade, die in keinem Reiseführer fehlte? Ella konnte sie nicht mehr finden zwischen den geborstenen Mauern und herabgestürzten Dächern. Sie war in dem Haus geboren worden – jetzt war es nur noch ein Haufen Steine. Am Boden der rußige Kopf einer Fassadenfigur, der zwischen die Streben eines herabgestürzten Fensterkreuzes gekullert war. Kneiphöfsche Langgasse 27 – was war das jetzt noch? Eine Adresse ohne Haus. In einer Straße ohne Häuser. Stattdessen konnte Ella jetzt über die Schutthaufen hinweg den Pregel sehen – das Hundegatt – und dahinter die zerbombten und heruntergebrannten Fachwerkspeicher der Lastadie. In Ellas Rücken stiegen von der Ruine des Doms Rauchwolken in den Himmel.

Gerade war die Welt noch halbwegs in Ordnung gewesen, hatte es Sicherheit und zivilisiertes Leben gegeben. Gut, die Kriegsjahre hatten Entbehrungen bedeutet, mehr noch als nach der Abtrennung vom Reich durch den polnischen Korridor, der der Wirtschaft von Ostpreußen die Luft abdrückte – auch dem Weinhandel ihres Vaters. Nach seinem plötzlichen Tod war seine Familie noch mehr in die Enge getrieben worden, alle hatten den Gürtel enger schnallen müssen, und mit dem Leben in der Villa war es bald auch vorbei gewesen.

Aber irgendwie hatten sie noch ein hinlänglich normales Leben führen können – oder wenigstens die Illusion davon. Und jetzt diese totale Zerstörung einer ganzen Welt. Ihrer Welt. Mit den Mauern der Stadt waren auch die ihrer Kindheit und Jugend eingestürzt. Was sollte jetzt noch Bestand haben? Sie kehrte ihrem ehemaligen Elternhaus den Rücken und lief wieder in die Altstadt hinauf.

Die seelische Verfassung der überlebenden Königsberger war desolat: Eltern, Großväter, Kinder, Schwestern waren in den Luftschutzkellern erstickt. Onkel, Tanten, Kusinen, Großmütter in eingestürzten Häusern erschlagen und verschüttet. Brüder, Freunde, Vettern, Bekannte, Kollegen im Feuersturm umgekommen. Die Blicke der Überlebenden waren erloschen und von Entsetzen gezeichnet. Mit Taschentüchern vor der Nase irrten sie verstört durch die noch qualmenden Trümmerhaufen, um vielleicht doch noch Angehörige zu finden oder Überreste ihres Besitzes. Am Schlossteich traf Ella einen Freund aus der Tanzstunde: Christian hatte gerade Fronturlaub. Sein Gesichtsausdruck war der eines alten Mannes. Als sie ihn nach seinem Wohlergehen fragte, brach er in Tränen aus und erzählte, wie er sich während des Angriffs in einem Ruderboot auf den Schlossteich gerettet hatte: »Wir haben uns um die Boote geprügelt! Wie die Neandertaler!«

Er berichtete, wie der Feuersturm in der Mitte des idyllischen Teiches riesige Wellen aufpeitschte, wie ganz Königsberg ein einziger Kamin war, der allen Sauerstoff fauchend in sich hineinsog und gen Himmel spie. Auch die Schlossteichbrücke habe lichterloh gebrannt und immer wieder zischende Balken ins Wasser fallen lassen. Die Vögel seien in Schwärmen tot vom Himmel gefallen; viele der Ruderboote in den Wellen umgeschlagen. Eine Hitze wie vorm Hochofen.

Hier hielt Christian inne und atmete schwer. Dann sprach er tonlos weiter, den Blick aufs Pflaster...

Erscheint lt. Verlag 19.3.2018
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • Flucht • Historische Romane • Kurische Nehrung • Ostpreußen • Roman • Romane • Samland • Vertreibung • wahre Begebenheiten • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-641-21306-1 / 3641213061
ISBN-13 978-3-641-21306-0 / 9783641213060
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