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Blanca (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
240 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-1462-1 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
15,99 inkl. MwSt
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Der Roadtrip ihres Lebens.

Die fünfzehnjährige Blanca will weg - weg von ihrer Mutter, die ständig auf gepackten Koffern sitzt, weg von den billigen WG-Zimmern, in denen sie an jedem neuen Ort unterkommen. Ihr Ziel: eine kleine Insel in Italien. Dort, bei Toni und seinem Vater Karl, war sie vor Jahren zum letzten Mal richtig glücklich. Ein Roadtrip quer durch das sommerglühende Land beginnt. Blanca reist als blinder Passagier nach Rom und schlägt sich zu Fuß bis ans Meer durch. Sie klaut in Cafés Essensreste von den Tischen, trifft auf einen Taxifahrer ohne Skrupel und einen zahnlosen Bauern, der sie zur Frau nehmen will ...

Mercedes Lauenstein entfaltet die Geschichte eines Mädchens, das seinen ganz eigenen Weg geht, ständig begleitet von der Frage, wie viel man vom Leben eigentlich erwarten kann.

'Hier ist eine Erzählerin am Werk, die ihren Figuren auf den Grund gehen kann, die Fragen hat an das Leben.' Sandra Hoffmann, Deutschlandfunk.



Mercedes Lauenstein, geboren 1988, lebt als Schriftstellerin und Journalistin in München und Italien. Seit 2009 schreibt sie als freie Autorin Essays und Reportagen für verschiedene Zeitungen und Magazine. Für ihr Debüt Nachts wurde sie 2016 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet.

Mercedes Lauenstein, geboren 1988, lebt als Schriftstellerin und Journalistin in München und Italien. Seit 2009 schreibt sie als freie Autorin Essays und Reportagen für verschiedene Zeitungen und Magazine. Für ihr Debüt Nachts wurde sie 2016 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet.

Eins


Hätte die Auflaufform mich getroffen, wäre alles anders gekommen. Vielleicht wäre ich jetzt tot. Aber ich sprang gerade noch rechtzeitig ins Badezimmer und schlug die Tür hinter mir zu.

Da krachte das schwere Porzellan auch schon dagegen, ein Riss ging durch das Holz, die Form zerschellte auf dem Flurboden. Meine Mutter hämmerte gegen die Tür.

Ich nahm alle Handtücher aus den Regalen, warf sie in die Badewanne, kletterte hinein und schloss die Augen. Die Handtücher rochen nach den verschiedenen Waschpulvern der WG-Mitbewohner. Nichts in diesem Badezimmer gehörte uns. Aber wir benutzten alles heimlich mit. Die Shampoos, das Klopapier, die Zahnpasta. Manchmal sogar die Zahnbürsten.

Das Handtuch, das unter meinem Kopf lag, war ungewöhnlich weich. Weich und dick, wahrscheinlich teuer. Es erinnerte mich an etwas. An Sommer. An klirrende Eiswürfel in beschlagenen Gläsern. An eine Sonne, die so hell ist, dass man nicht wagt, die Augen zu öffnen. An den Wunsch, die Zeit anzuhalten. An Toni und Karl.

Es rumste. Die Haustür. Stille. Sie war abgehauen. Sie verschwand immer nach einem Streit. Ich wusste nie, wohin sie ging. Wann sie wiederkommen würde. Manchmal blieb sie Tage weg, manchmal Wochen. Sie verließ sich einfach darauf, dass ich dableiben würde. Ich blieb immer da. Dieses Mal beschloss ich, nicht mehr dazubleiben.

Das war heute Morgen.

Ich lehne meinen Kopf an die kühle Scheibe. Keine Ahnung, wie lange ich geschlafen habe. Draußen wird es allmählich Abend, der Himmel ist aufgebrochen, rote Sonnenflecken liegen auf den Feldern, Hügeln, Baumstümpfen. Die Weite draußen tut gut, da kann ich atmen. Ein und aus. Der Zug legt sich sanft in die Kurve, fährt immer weiter weg von Hamburg, vom ewigen Regen, von meiner durchgedrehten Mutter.

Eine Tankstelle rast vorbei.

Ich denke an kalten Zitroneneistee und an den Tag, an dem wir nach Italien aufgebrochen sind. Da wussten wir noch nicht, dass wir dort Toni und Karl finden würden. Und mit ihnen zum allerersten Mal so etwas wie ein richtiges Zuhause.

Es war ein Sommertag, und ich war gerade neun geworden. Wir hatten es nicht gefeiert. Geburtstage waren etwas für Leute, die Angst vor der Zeit hatten. Nichts für uns. Doch die Neun bedeutete mir mehr als jede Zahl zuvor, ich zeichnete sie ständig irgendwohin, auf Kassenbons, Bonbonpapier, Klowände, Hefte, Bücher.

»Hör auf mit dem Scheiß, Zahlen bedeuten nichts«, sagte meine Mutter.

Da malte ich die Neun erst recht überallhin. Mit Kugelschreiber auf meine Hände, wie einen magischen Code. Neun war das beste Alter, das man haben konnte, ich fühlte mich zum ersten Mal erwachsen. Acht war dunkelblau und schüchtern, neun war strahlend gelb und mutig. Ich wollte für immer neun sein.

Wir waren gerade aus Stuttgart abgehauen. Und manövrierten unser röchelndes Auto nun auf das Gelände einer Tankstelle. Meine Mutter hatte während der ganzen Fahrt das Armaturenbrett gestreichelt und dem Wagen wie einem kranken Pferd gut zugeredet. Geholfen hatte es nichts.

Ich blieb im Wagen, meine Mutter machte sich Richtung Werkstatt auf. Ich kletterte auf den Fahrersitz, legte meine Beine auf das Lenkrad, klappte den Sitz ganz nach hinten und schloss die Augen. Ich musste nicht hinsehen, ich wusste auch so, was draußen vor sich ging. Langsam zählte ich bis zwölf und ließ die Szene vor meinem inneren Auge ablaufen: Eins, meine Mutter geht auf die Werkstatt zu, zwei, ein Träger ihres dünnen Oberteils rutscht ihr wie beiläufig von der Schulter, drei, sie streicht sich eine Strähne aus der Stirn, vier, spricht einen Mechaniker an, fünf, deutet auf das Auto und, sechs, erklärt ihm das Problem. Sieben, zwei weitere Männer kommen dazu, acht, sie sagt, sie bete, es möge nichts Größeres sein, nicht ausgerechnet jetzt, es sei nicht einmal unser Auto, nur von einem Freund geliehen, sie wisse wirklich nicht, wie sie das jetzt regeln solle. Neun, sie atmet tief ein, zehn, atmet aus, elf, fährt sich erschöpft durchs Haar, sieht sich um und sagt, sie liebe den Duft von Werkstätten. Ihr Großvater habe eine Autowerkstatt besessen. Zwölf, sie dreht sich um und gibt mir ein Zeichen, das Auto vorzufahren.

Ich öffnete die Augen und zog mich am Steuerrad hoch. Umringt von drei Mechanikern stand sie da und winkte mich heran.

Ich nahm die Beine vom Lenkrad, rückte den Sitz so weit nach vorn wie möglich und streckte die Füße zu Gaspedal und Kupplung aus. Seit ein paar Monaten konnte ich Auto fahren, meine Mutter fand das wichtig. Auch das, war ich mir sicher, verdankte ich der Neun. Ich fuhr bisher nur auf verlassenen Landwegen, Parkplätzen oder in unbedeutenden Situationen wie dieser. Ich ließ den Motor an und die Kupplung kommen und steuerte den Wagen in die Werkstatt. Die Typen sahen zu mir, dann zu ihr, wieder zu mir und zurück zu ihr. Aber meine Mutter grinste nur und steckte sich eine Kippe an.

Sie hielt sie mit den Zähnen fest, wie jemand aus einem Film. Das machte sie immer, wenn sie beim Rauchen beobachtet wurde. Wenn wir allein waren, klemmte sie die Zigarette zwischen die Lippen wie andere Leute auch.

Kurz erwiderte sie den Blick der Männer, zuckte mit den Achseln, sagte irgendwas und lachte. Die Typen sahen wieder zu mir und nickten anerkennend.

Ich stellte den Wagen ab, stieg aus und stellte mich dazu. Unter meinen nackten Füßen brannte der Asphalt. Ich trat von einem Fuß auf den anderen.

»Wer braucht den?«, fragte ich und hielt den Autoschlüssel hoch.

Eine große, schwarz verschmierte Mechanikerhand nahm ihn mir ab und klopfte mir auf die Schulter. Meine Mutter warf mir einen verbrüdernden Blick zu. Dann machten sich die Männer an den Wagen.

Wir gingen zum Tankstellenshop, um Getränke und Zigaretten zu kaufen. Meine Mutter lief ein Stück vor mir. Ich schwitzte und bekam kaum Luft. An meinen Füßen Millionen heiße Nadeln. An Tankstellen war es im Sommer tausend Grad heißer als überall sonst. Komisch, dass sie nicht explodierten. Über dem Asphalt waberte und flirrte die Luft, und es sah aus, als würde die Welt vom Boden her eingeschmolzen. Ich hatte auf einmal das Gefühl, zu verschwinden. Ich sah alles in der Erde versinken, die Tanke, das dürre Sträuchlein auf dem Grünstreifen. Der Boden unter meinen Füßen wurde immer weicher, ich schmeckte Erde und Gras, roch den scharfen Geruch von Benzin, wir sanken ein. Wir alle verschwanden in einer erdballfarbenen Wachspfütze, die Mechaniker, die Autos, meine Mutter und ich. Ich blickte ihr hinterher. Unbeirrt steuerte sie auf den Laden zu. Ich drehte mich um. Bei der Waschanlage gab es einen Wasserhahn, davor Eimer fürs Scheibenwischen. Ich lief hin und spritzte mir Wasser ins Gesicht, dann auf die Füße. Die Rohre waren so aufgeheizt von der Sonne, dass das Wasser lange warm blieb. Ein Tankstellenmann kam vorbei und zwinkerte mir zu. Ich drehte den Wasserhahn ab.

Der Asphalt trug wieder.

Im Tankstellenshop schlug mir die Kälte der Klimaanlage entgegen. Hinter meiner Stirn vibrierte etwas. Ich hielt mich an einem Kartenständer fest und hoffte, nicht doch noch sterben zu müssen. Man konnte auf tausendmillionen Arten von einem Augenblick auf den anderen sterben. Der Bruder eines Mannes, bei dem wir eine Zeit lang gewohnt hatten, war mit neunzehn an einer Hirnblutung gestorben. Er hatte auf den Zug gewartet und war plötzlich umgefallen, einfach so, am Mittag. Irgendwo hatte währenddessen ein Vogel gezwitschert, hatte grad jemand in einem Wohnhaus auf dem Klo gesessen, hatte an einer Kreuzung eine Ampel von Gelb auf Grün geschaltet, als wär nichts.

Kurze Zeit später lag meine Mutter mit einer Grippe im Bett. Ich fragte sie, ob sie jetzt dran sei mit Sterben. »Kann sein«, sagte sie, »es kann immer alles sein, Blanca, daran musst du dich gewöhnen.« Sie sah mich mit dramatischem Ernst an und strich mir über den Kopf.

»Auch, dass ich heute Nacht eine Gehirnblutung kriege?«, fragte ich.

»Ja, auch das«, sagte sie. »Die Menschen sterben an dem, was sie am meisten fürchten. Das nennt man Intuition, Blanca.«

Ich lag die ganze Nacht wach, bewachte mein Gehirn und ihre Atemzüge.

Nun stand sie am Kühlregal. Nahm sich eine Coladose heraus, klemmte sie unter den Arm, griff nach einem Eiskaffee und einer Sprite. Biss sich nervös auf der Unterlippe herum, tauschte die Sprite gegen eine Erdbeermilch und den Kaffee gegen eine Apfelschorle. Stellte plötzlich alle Getränke ins Erdbeermilch-Fach und nahm sich stattdessen nur eine einzige Flasche Wasser, ließ die Tür des Kühlregals zufallen und machte sich auf zur Kasse. Nach einigen Schritten blieb sie stehen, machte kehrt, stellte das Wasser zurück und nahm sich doch die Coladose. Dann ging sie endgültig zur Kasse. Ich nahm mir einen Zitroneneistee aus dem Kühlregal und folgte ihr. Die Kassiererin scannte beide Artikel, nannte die Summe und sah zu meiner Mutter, die durch das Zigarettenregal hindurch in eine Ferne starrte, die es nicht gab. Zumindest nicht für Außenstehende. Ich hätte gern gewusst, was sie dort sah. Wohin sie verschwand.

Ich kannte diesen glasigen Blick von Momenten, in denen ich ihr etwas erzählte. Es gibt kaum etwas Deprimierenderes, als mitten im Erzählen festzustellen, dass einem keiner zuhört. Je aufgeregter man etwas erzählt, desto schlimmer ist es. Wie im Comic, wenn jemand über eine Klippe rennt und in der Luft enthusiastisch weiterrennt, bis er plötzlich feststellt, dass da kein Boden mehr ist, sondern eine Schlucht, und dann – wumms.

Weil meine Mutter...

Erscheint lt. Verlag 18.5.2018
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Coming of Age • Deutsche Literatur • Italien • Meer • Mutter • Roadtrip • Roman • Sommer • Tochter • Wolfgang Herrndorf
ISBN-10 3-8412-1462-2 / 3841214622
ISBN-13 978-3-8412-1462-1 / 9783841214621
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