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Stadt ohne Gott (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
352 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490629-4 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
18,99 inkl. MwSt
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Eine Liebe im Schatten des Krieges Die Berlinerin Rosie reist in den Libanon, voller Hoffnung auf ein neues Leben. Sie verliebt sich in den Syrer Daoud, aber der hat Angst vor der Liebe. Rafik, der Modemacher werden will, liebt sie beide. Und Zahra, die Soziologin, hat die Liebe schon lange aufgegeben. Die vier treffen sich in Beirut, im »Paris des Ostens«. Es ist eine Stadt am Rand der Kriege dieser Welt. Sie suchen nach einem Ort, an dem sie ihre Träume leben können, und befinden sich doch eigentlich nur auf der Flucht vor der Hoffnungslosigkeit in Syrien und den leeren Versprechungen Berlins. Sie alle beherrschen die Verhaltensweisen der Kälte nicht. Werden sie trotzdem überleben?

Rainer Merkel, 1964 in Köln geboren, hat Psychologie und Kunstgeschichte studiert und lebt in Berlin. Von 2008 bis 2009 arbeitete er für Cap Anamur im einzigen psychiatrischen Krankenhaus Liberias. Es erschienen die Romane »Das Jahr der Wunder«, für den er den Preis der Jürgen Ponto-Stiftung erhielt, »Das Gefühl am Morgen«, »Lichtjahre entfernt«, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, »Bo«, »Stadt ohne Gott« und die Reportagen »Das Unglück der anderen. Kosovo, Liberia, Afghanistan« und »Go Ebola Go. Eine Reise nach Liberia«. 2013 wurde Rainer Merkel mit dem Erich Fried-Preis ausgezeichnet. Literaturpreise: Literaturförderpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2001 Erich Fried-Preis 2013

Rainer Merkel, 1964 in Köln geboren, hat Psychologie und Kunstgeschichte studiert und lebt in Berlin. Von 2008 bis 2009 arbeitete er für Cap Anamur im einzigen psychiatrischen Krankenhaus Liberias. Es erschienen die Romane »Das Jahr der Wunder«, für den er den Preis der Jürgen Ponto-Stiftung erhielt, »Das Gefühl am Morgen«, »Lichtjahre entfernt«, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, »Bo«, »Stadt ohne Gott« und die Reportagen »Das Unglück der anderen. Kosovo, Liberia, Afghanistan« und »Go Ebola Go. Eine Reise nach Liberia«. 2013 wurde Rainer Merkel mit dem Erich Fried-Preis ausgezeichnet. Literaturpreise: Literaturförderpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2001 Erich Fried-Preis 2013

Gekonnt versteht es Rainer Merkel, Gegenwart und Vergangenheit seiner Protagonisten zu vermischen.

›Stadt ohne Gott‹ ist ein komplex konstruierter Roman: Elegant lässt Merkel die Bewusstseinsebenen seiner Figuren ineinander fließen […]

Ein Roman, der einem den Blick weitet für andere Krisenregionen als unsre eigene und damit auch eminent politisch ist.

Gekonnt versteht es Merkel, die Gegenwart und die Vergangenheit seiner Protagonisten zu vermischen.

Merkel ist der Weltautor der deutschen Literatur […] kennt die Verführbarkeit in moralisch schweren Zeiten, die Sogkraft des großen Donnerschlags in der Epoche der großen Gereiztheit.

Teil I


30. August 2015


1


Zuerst fielen einem die Federn auf. Schon im Flur konnte man sie sehen, wo sie auf dem kalten Marmorfußboden lagen, der sich durch die gesamte Wohnung erstreckte. Im Wohnzimmer waren noch mehr Federn. Sie lagen auch verstreut neben dem Esszimmertisch, einige auch auf dem Teppich vor dem Fernseher. Als wäre ein Vogel aus dem Fernseher, aus einem misslungenen, außer Rand und Band geratenen Film ins Wohnzimmer gelangt und dort ganz plötzlich überrascht worden. Es war wie eine nicht zu Ende erzählte Geschichte. Ein Detail, das jemand übersehen hatte, der sonst sehr viel Sorgfalt auf Ordnung gelegt hatte. Es war sehr hell in der Wohnung. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, die Rollläden im Schlafzimmer nicht heruntergelassen. Im nackten Marmorboden spiegelte sich etwas. Es hatte etwas Beruhigendes. Wenn die Hitze nachließ, war der Boden wie ein riesiger kalter Stein.

 

Das Schlafzimmer bot ein anderes Bild. Aufeinandergestapelte Handtücher, hellblaue Oberhemden, aufgereiht auf Kleiderbügeln in einem offen stehenden Schrank, in dem sich die Schmutzwäsche angesammelt hatte, so dass sich die Schranktüren nicht ganz schließen ließen. Eine Sammlung von teuren Armbanduhren, die nebeneinander unter dem schräg stehenden Spiegel auf der Kommode lagen. Eine Parmigiani mit einem fein guillochierten Zifferblatt, eine Omega-Seamaster und eine Taucheruhr, die über einen Glasboden verfügte, der den Blick auf das Uhrwerk freigab. Neben der Kommode stand ein Stuhl, über dessen Lehne zwei Ledergürtel hingen. In der obersten offen stehenden Schublade der Kommode lagen Kabel, Ladegeräte, unzählige Adapter und zusätzliche Akkus und Batterien. Die Lampe im zweiten Schlafzimmer war defekt, und das dritte Zimmer, das als Abstellraum diente, hatte keine Glühbirne. Wenn der Strom ausfiel, konnten einem nur Kerzen oder Taschenlampen weiterhelfen, aber erstaunlicherweise fanden sich nirgendwo Streichhölzer. Selbst in der Küche nicht, die so vollständig eingerichtet war, dass hier das Fehlen von persönlichen Gegenständen kaum auffiel.

 

In ihrer Anonymität hatte die Wohnung trotzdem etwas Einladendes. Sie löste bei jedem Besucher automatisch den Impuls aus, etwas hinzufügen zu wollen. Der Vogel, der sich hierher verirrt hatte, war wahrscheinlich wieder rausgekommen, denn es tauchten keine weiteren Spuren organischen Lebens auf. Die Wohnung war makellos sauber. Außer dem Doppelbett im Schlafzimmer lag jeweils eine Matratze in den beiden anderen Zimmern. Im Raum, der als Abstellkammer genutzt wurde und der der kleinste in der Wohnung war, lehnte eine zusätzliche Matratze an der Wand. In dem immer verdunkelten Raum am Ende des Flures lag sie auf einem wackeligen Bettgestell. Aber in diesem Zimmer war für gewöhnlich der Baulärm vom benachbarten Grundstück am lautesten. Außerdem diente es als Rückzugsort für unerwartete Gäste und musste deswegen immer frei bleiben. Wenn man von einer längeren Reise zurückkehrte, war die Leere der Wohnung wohltuend. Der karamellfarbene Marmorfußboden begrüßte einen mit dem angedeuteten Spiegelbild seiner selbst, und die Schritte hallten durch die Wohnung, als sei sie ein in einer Seitenstraße Beiruts versteckter Palast.

2


Rosie stand manchmal in dem kleinen, fensterlosen Raum neben der Küche. Hier hätte eine Maid leben und sie bedienen können. Zwei Schritte genügten, um den Raum in seiner ganzen Größe zu durchmessen, und größer als 1,60 Meter durfte die Person nicht sein, die hier untergebracht war, wo jetzt Waschmaschine und Trockner nebeneinander standen. Rosie stellte sich ein junges Mädchen aus Sri Lanka oder Äthiopien vor. Die Öffnung der Kammer mündete in die Küche, so dass die Maid schon am frühen Morgen Kaffee kochen oder die Wäsche waschen konnte. Eine Maid würde es auch sein, die an einem solchen Tag, an dem der Wassertank leer war, Hilfe holen würde. Sie hätte auch die Telefonnummer der Wasserverkäufer gewusst. Rosie hatte den Nachbarn gefragt. »Wie findet man diese Leute? Bringen sie einem das Wasser direkt vorbei?« Sie versuchte es in mehreren Sprachen, aber der Nachbar hatte sofort verstanden, worum es ging. Er hatte lange in Kanada gelebt und war viel herumgekommen. Sie hätte ihn gerne gefragt, ob er selbst seine Maid auch so unterbrachte, in einer Kammer ohne Tageslicht mit einer Matratze, die fast den ganzen Raum ausfüllte. Er erklärte sich sofort bereit, sie nach oben aufs Dach zu begleiten. Der Fahrstuhl fuhr nur bis zum siebten Stock und die letzten Meter musste man zu Fuß zurücklegen.

»Sie sollten sich einen Wasservorrat zulegen«, sagte er. »Aber es könnte auch sein, dass Ihre Pumpe defekt ist.« Er trug einen dunkelblauen Morgenmantel mit einem aufgestickten goldenen Monogramm. Später, als sie wieder herunterfuhren, sah sie, dass der Mantel aus einem Hotel stammen musste, und sie stellte sich vor, wie seine Frau ihn, den grundanständigen libanesischen Geschäftsmann, dazu angestiftet hatte, den Morgenmantel aus dem Hotel mitzunehmen. Und natürlich war es ein kanadisches Hotel gewesen, in Montreal, in Ontario oder vielleicht in Quebec. Dort, wo jetzt seine Kinder lebten und den Vorstellungen ihres Vaters gemäß Reichtümer aufhäuften. In der winterlichen Kälte Kanadas, wo das Gesundheitssystem, wie er behauptete, so schlecht war, dass man bei größeren Operationen ins Nachbarland fahren musste. Seine Kinder aber waren allesamt kerngesund.

»Ich zeige Ihnen, wo der Tank ist«, hatte er gesagt, und dann waren sie mit dem Fahrstuhl nach oben gefahren. Sie bemühte sich ein bisschen um ihn. Sie sagte, dass sie es beeindruckend fände, wenn ein Mann in seinem Alter, wo die Kinder eigentlich schon aus dem Haus waren, noch immer so jugendlich und frisch aussah.

»Wollen Sie lieber Treppen steigen?«, fragte er. »Das können Sie gern haben.« Er lachte etwas zu laut, und sie ahnte, dass er auch ganz anderes sein konnte, wenn es die Umstände ergaben.

 

Auf dem Dach waren gut ein Dutzend Tanks, und es war unmöglich, den zu identifizieren, der zu der Wohnung gehörte, in der sie jetzt Unterschlupf gefunden hatte. Kaum jemand wusste, dass sie hier war. Ob wohl jemand nach ihr suchte? Ob man sie vermisste? Ob Daoud sie vermisste? »Sie sollten sich merken, wo der Tank ist. Dann sind Sie beim nächsten Mal vorbereitet«, sagte der Kanadier. Sie hatte sich ein weißes T-Shirt übergestreift und trug Flipflops. Während sie im Fahrstuhl standen, schaute er, der selbst im Morgenmantel noch distinguiert aussah, ununterbrochen auf seine Hausschlüssel. Ihre Kopfschmerzen waren so stark, dass sie dachte, dass sie schon nicht mehr klar denken konnte. Als sie im Nachbarhaus die Schlüssel bei dem Juwelier abgeholt und die Wohnung aufgeschlossen hatte, war die so leer und sauber, dass sie kurz dachte: Die Beklemmung ist weg. Sie hatte auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen, sich den Wecker auf sechs Uhr gestellt, war schon um halb sechs wach geworden, aber dann wieder eingeschlafen. »Warum kannst du es nicht annehmen, dass eine Frau mit dir über ihre Gefühle sprechen will?«, hatte sie zu Daoud gesagt. Es war ein Satz, der vielleicht zu viel gewesen und mit dem sie zu weit gegangen war. Alles, was in Baalbek passiert war, war zu viel gewesen, war ein Exzess, eine Grenzüberschreitung. Mitten in der Nacht hatte sie das Hotel verlassen und war allein zurückgefahren. Sie hatte noch nicht mal eine Nachricht hinterlassen. Ohne jede Erklärung war sie einfach so verschwunden.

 

»Wir sind gleich oben«, sagte der Kanadier. In den Fahrstuhl passten allenfalls drei oder vier Leute. Sie hatte ihn seit ihrer Ankunft nur wenige Male genutzt. Er war ihr nicht geheuer in seiner Altertümlichkeit. Auf der Rückseite des Hauses befand sich der Sicherungskasten. Wenn er stecken blieb und wie tot vor einem hing, weil der Strom ausgefallen war, musste man um den ganzen Block herum zum hinteren Gebäudeteil gehen, um den Schalter umzulegen, damit der Generator neuen Strom liefern konnte. Der Sicherungskasten war ein einfaches, unscheinbares Plastikgehäuse, das draußen an der Wand hing. Als sie das erste Mal nach unten gegangen war, um die Sicherung wieder einzuschalten, war sie so nervös gewesen, dass sie am ganzen Körper gezittert hatte.

»Da sind wir«, sagte der Kanadier, nachdem er eine rostige Stahltür aufgeschlossen hatte. Sie traten auf das Dach. Ihr wurde fast schwindelig, so hell war es.

»Kommen Sie«, hörte sie den Kanadier sagen. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie die Situation falsch eingeschätzt hatte. Sie hätte hier nicht herkommen sollen, nicht bis nach ganz oben. Über ihr war der libanesische Himmel, das Licht blendete. Sie sah, wie der Kanadier sich immer mehr entfernte.

3


Ob die Männer, die das Wasser brachten, später allein aufs Dach finden würden? Oder würde sie noch ein zweites Mal nach oben gehen müssen? Als sie dem Kanadier gefolgt war, hatte sie sich selbst ausgetrickst und ihn mit seinem gestohlenen Morgenmantel vorausgehen lassen. Sie stellte sich vor, wie der Vogel aus der Wohnung hier oben wieder in Freiheit gelangt war. Sie glaubte fest daran, dass er sich retten konnte. Der Tank war nicht in der Mitte, sondern am Rand des Daches. Es war einer der Behälter, die direkt an der Straßenseite standen, und wenn man ihn erreichen wollte, musste man am äußersten Rand des Daches entlangbalancieren.

»Wollen Sie mal reinschauen?«, fragte er.

»Nein. Ist schon gut.« Sie nickte...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2018
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Baalbek • Beirut • Beirut, Naher Osten • Berlin • Flucht • Krieg • Libanon • Liebe • Naher Osten • Träume
ISBN-10 3-10-490629-7 / 3104906297
ISBN-13 978-3-10-490629-4 / 9783104906294
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