Das eine sein, das andere lieben (eBook)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
175 Seiten
Refinery (Verlag)
978-3-96048-082-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das eine sein, das andere lieben -  Christine Brückner
Systemvoraussetzungen
3,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Auf einer Bahnreise lernt die Schriftstellerin P. einen jungen Mann kennen, der ebenfalls mit Literatur zu tun hat, jedoch weniger erfolgreich ist als sie. Auf der Rückreise sitzt ihr dieselbe Person gegenüber, aber diesmal als Frau. Jemand, der die Rollen wechselt! Dass ein solcher Wechsel möglich ist, fasziniert die Autorin. Der Zufall spielt ihr beides auf einmal zu, das Thema und die Hauptperson.

Christine Brückner (1921 - 1996) zählt zu den renommiertesten Schriftstellerinnen Deutschlands. Sie verfasste Romane, Erzählungen, Kommentare, Essays, Schauspiele, auch Jugend- und Bilderbücher. Besonders mit der Poenichen-Trilogie wurde sie einem großen Publikum bekannt.

Christine Brückner, am 10.12.1921 in einem waldeckischen Pfarrhaus geboren, am 21.12.1996 in Kassel gestorben. Nach Abitur, Kriegseinsatz, Studium, häufigem Berufs- und Ortswechsel wurde sie in Kassel seßhaft. 1954 erhielt sie für ihren ersten Roman einen ersten Preis und war seitdem eine hauptberufliche Schriftstellerin, schrieb Romane, Erzählungen, Kommentare, Essays, Schauspiele, auch Jugend- und Bilderbücher. Von 1980-1984 war sie Vizepräsidentin des deutschen PEN; 1982 wurde sie mit der Goethe-Plakette des Landes Hessen ausgezeichnet, 1990 mit dem Hessischen Verdienstorden, 1991 mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Christine Brückner war Ehrenbürgerin der Stadt Kassel und stiftete 1984, zusammen mit ihrem Ehemann Otto Heinrich Kühner, den "Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor". Christine Brückners Gesamtwerk ist im Ullstein Verlag erschienen.

1


Jedesmal wenn sie auf einem Bahnsteig den Ruf ›Zurückbleiben!‹ hörte und sich der Zug gleich darauf in Bewegung setzte, erschrak sie über die Unerbittlichkeit: Zurückbleiben! Der Befehl betraf sie dieses Mal nicht. Sie reiste allein.

Sie hatte gehofft, ein D-Zug-Abteil für sich allein zu haben, da sie sich für die Abendveranstaltung noch vorbereiten wollte. Unwillig über die Störung erwiderte sie daher den Gruß des Eintretenden flüchtig und ohne aufzublikken. Zunächst las sie die Feuilletonbeilagen der Wochenendausgaben, die sich bei ihr angesammelt hatten.

Nachdem der Mitreisende ihr zweimal die Zeitungen aufgehoben hatte, die ihr vom Schoß geglitten waren, sah sie ihn sich schließlich an, mußte dazu die Lesebrille abnehmen. Ein gutaussehender Mann von Anfang Dreißig, nachlässig, aber mit Eleganz gekleidet. Das frischgewaschene Haar trug er halblang; sobald es ihm ins Gesicht fiel, warf er es mit einer raschen Bewegung des Kopfes zurück. Keine Krawatte, statt dessen ein Halstuch, im Ton zu den Socken passend.

P. wandte sich wieder der Lektüre ihrer Zeitung zu. Draußen dämmerte es. – Sie kannte die Strecke, war sie zu allen Tages- und Jahreszeiten schon gefahren. Ein Blick durchs Fenster genügte, und sie wußte, wo man sich befand. Wenig Fahrgeräusche, die sich aber merklich änderten und lauter wurden, sobald der Zug über eine Brücke fuhr. P. nahm die Brille ab und sah zum Fenster hinaus. Ihr Gegenüber sagte: »Die Donau!«

Der Tonfall, in dem dies gesagt wurde, überraschte P. Es war hörbar Freude in der Stimme. Sie sah den Mitreisenden fragend an, und er erklärte in heiterem Selbstbewußtsein: »Mein Fluß!«

P. lachte.

Er lachte auch, aber wie er lachte! Das war kein dem Anlaß entsprechendes Lächeln, sondern ein Lachen mit weit geöffnetem Mund. P. sah zwei makellose Zahnreihen, sah rosiges Zahnfleisch. So lachten, nach ihren Erfahrungen, nur Sänger und Schauspieler mit Gesangoder Sprechausbildung, deren Lachen in den letzten Sitzreihen ankommen soll. Nachdem sie ihn zunächst der Modebranche zugeordnet hatte, mutmaßte sie jetzt: Theater. Er lachte noch, als sie längst damit aufgehört hatte. Sie nahm ihre Bücher aus der Tasche, um mit der Vorbereitung des Autoren-Abends zu beginnen.

Es fiel ihr, besonders auf Reisen, oft etwas zu Boden; diesmal glitt ihr eines ihrer Bücher vom Knie. Ihr Gegenüber hob es auf, hatte dabei wohl einen Blick auf den Titel geworfen. P. spürte, daß er sie von nun an aufmerksam beobachtete, reagierte aber nicht darauf.

Wenig später vertiefte er sich ebenfalls in ein Buch, machte Striche an den Rand, brachte Ausrufungszeichen an, blätterte, schrieb ganze Sätze auf das Vorsatzpapier. Das störte sie als Bücherschreiberin; ein Buch blieb schließlich immer das Buch des Autors, auch wenn der Leser es käuflich erworben hatte.

Sie notierte sich einige Sätze, die sie zur Einführung sagen wollte (falls der Veranstalter es nicht seinerseits tun würde), blätterte unschlüssig in dem vor wenigen Tagen erst erschienenen Erzählungsband. Nach ihren Erfahrungen wollten die Zuhörer immer das Neueste hören, am liebsten etwas, das noch nicht im Druck erschienen war – was sie aber strikt ablehnte. Sie zog das Bewährte dem Unerprobten vor und entschied sich für eine Geschichte, die ihr zum ›Anwärmen‹ des Publikums geeignet erschien, aber gekürzt werden mußte. Sie brachte ein paar Striche an, war in ihren Text vertieft, vergaß, daß sie nicht allein war, murmelte die Sätze vor sich hin, probte die Betonung, den Auftritt. Und erschrak, als sich ihr Gegenüber einmischte: »Den Satz sollten Sie nicht streichen!«

Ein Grund, die Lesebrille wieder abzunehmen.

»Der Absatz vorher, der bringt nicht viel«, fügte er hinzu.

Er hielt das gleiche Buch in der Hand, eines der Vorausexemplare, die von den Verlagen an die Redaktionen geschickt werden, betrachtete das Foto auf der Rückseite, dann wieder P. und sagte: »Sie sollten dem Verlag ein neues Foto schicken! Wie jetzt, angeregt, überrascht, neugierig! Ein subjektives Foto! Nicht so ein objektives! So fotografiert man Teekannen, aber keine Frau!«

Noch immer war sie nicht zu einer Unterhaltung bereit, beließ es bei einem Lächeln, setzte die Brille wieder auf, was heißen sollte: Kein Wort weiter!, und so wurde es auch verstanden. Beide lasen in dem gleichen Buch weiter. Sobald ihr Gegenüber auflachte, versuchte sie zu erraten, welche Stelle seine Heiterkeit ausgelöst hatte. Dieses schöne offene Lachen, dem man schwer widerstehen konnte, das so selten zu sehen ist. Sobald ihr ein Mann gefiel, der wesentlich jünger war als sie, pflegte sie zu sich zu sagen: ›Marschallin, es wird Abend!‹, rief sich mit diesem Satz aus dem ›Rosenkavalier‹ zur Ordnung.

Es verging eine weitere Stunde, dann schob er das Buch in seine Mappe und fragte: »Gehen wir zusammen in den Speisewagen?«

Warum hätte sie nein sagen sollen?

Der Speisewagen war nur mäßig besetzt, die Lämpchen auf den Tischen leuchteten. Sie saßen sich wieder gegenüber, jetzt durch einen Tisch getrennt.

»Nehmen Sie bitte die Brille ab«, sagte er, machte im übrigen keine Anstalten, sich ihr vorzustellen, obwohl er wußte, wer sie war. Da P. ihn vermutlich nie Wiedersehen würde, störte es sie nicht. Es entstand unter dieser Voraussetzung eine Atmosphäre der Ungezwungenheit. Sie vergaß ihre Abendveranstaltung; die Nervosität, die sonst unweigerlich einige Stunden vor Beginn einsetzte, kam nicht auf. Sie bestellte zwei Viertel ›Burgenländer‹, den er empfohlen hatte, und für jeden einen Imbiß. Mit dem Recht der Älteren und Erfolgreichen lud sie ihn ein, was er sich, ohne zu widersprechen, gefallen ließ.

Statt sich zu bedanken, sagte er: »Ich hatte damit gerechnet.«

Flüchtig stieg Unwille in ihr auf, als sie merkte, daß er sie auszunutzen gedachte. Andererseits gefiel ihr, daß es so unverblümt geschah.

»Kennen Sie jemanden bei –?«

Er nannte den Namen einer Wochenzeitung, nannte den Herausgeber der Zeitung. Sie mußte verneinen, was ihn jedoch nicht zu enttäuschen schien.

»Man sucht dort jemanden fürs Feuilleton. Halten Sie mich für ›aufgeschlossen gegenüber dem Leben im allgemeinen und der Kultur im besonderen‹? Meinen Sie, daß ich ›das richtige Gespür für das habe, was heute ankommt‹? ›Eigenwillig, aber fähig, im Team zu arbeiten‹? ›Lebens- und Schreiberfahrung erwünscht‹.«

Sie sah ihn sich gründlich an und faßte das Ergebnis in dem Satz zusammen: »Ich würde Sie einstellen!«

»Geben Sie mir das schriftlich?«

Warum hätte sie es ihm nicht schriftlich geben sollen? Es konnte ihm in keinem Falle schaden, möglicherweise nutzen, keiner würde sie zur Rechenschaft ziehen, Gerüchte wären immerhin möglich, im Sinne von ›Marschallin, es wird Abend‹, aber diese Vorstellung erheiterte sie, wie sie überhaupt während ihres Zusammenseins sehr heiter war. Sie schrieb zwei Sätze auf ihre Visitenkarte, reichte sie ihm und sagte, daß er hoffentlich außer dieser noch weitere Referenzen besäße.

»Referenzen!« sagte er im Tonfall von: Was nutzen Referenzen! »Auf mich selber wird es ankommen.«

»Aber Zeugnisse werden Sie doch vorlegen können?« fragte sie in gespielt lehrerhaftem Ton.

»Keine lückenlosen«, sagte er in ebenfalls gespieltem Bedauern. »Mein Leben weist erhebliche Lücken auf.«

Mehr sagte er über sein privates Leben nicht, und sie war keine von denen, die einen anderen ausfragten. Was jemand ihr freiwillig erzählte, hörte sie sich an, ermunterte aber niemanden dazu.

Im Lauf des Gesprächs machte P. den Vorschlag, daß er sich einen Bart stehen lassen solle, da ihr sein Gesicht zu weich erschiene. Schließlich wurde es höchste Zeit, ins Abteil zurückzukehren. Sie ließ sich vom Zählkellner eine Quittung ausstellen und schob sie in ihre Brieftasche zu den übrigen Spesenbelegen.

Ihr Gegenüber beobachtete sie und sagte: »Sie müssen auf der Rückseite eintragen, mit wem Sie das Vergnügen hatten, diese Spesen zu machen!«, verschwieg aber weiterhin seinen Namen, und P. fragte auch jetzt nicht danach.

Sie war am Ziel. Er mußte noch einige Stationen weiter fahren. Bevor sie ausstieg, half er ihr in den Mantel und reichte ihr den Handkoffer. Sie wünschten sich gegenseitig guten Erfolg.

Am nächsten Tag fuhr P. mit dem Gegenzug zurück. In jedem Abteil der ersten Klasse saß ein einzelner Reisender, auch in dem, das sie sich schließlich aus wählte: eine junge Frau, die Zeitung las. Durch Zufall war sie in dasselbe Abteil wie am Vortag geraten; sie erkannte es an dem Reklame-Foto, das über ihrem Sitz angebracht war. P. hatte die Frau flüchtig gegrüßt und richtete sich für die mehrstündige Fahrt ein. Da sie am Abend zuvor spät zu Bett gegangen war und die Diskussion, die sich der Lesung anschloß, heftiger verlaufen war als sonst, fühlte sie sich müde und abgespannt; sie schloß die Augen und schlief für kurze Zeit ein. Erst ein Wechsel im Fahrgeräusch ließ sie aufschrecken. Sie blickte aus dem Fenster. Sie fuhren über eine Brücke.

In diesem Augenblick sagte die junge Frau in einem Tonfall, den P. bereits kannte: »Die Donau!« Und gleich darauf: »Mein Fluß!«

Dasselbe, ihr bereits bekannte Lachen mit weit geöffnetem Mund!

Die Frau genoß P.s Verblüffung sichtlich, machte sich einen Spaß daraus, warf das Haar diesmal nicht zurück, sondern strich es mit der Hand aus dem Gesicht, wie Frauen es zu tun pflegen. Es bestand kein Zweifel: Diesmal saß ihr eine junge Frau gegenüber, obwohl sie sich in...

Erscheint lt. Verlag 2.10.2017
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • belletristisch • Bestseller • Bestsellerautorin • Christian Dupont • Christine Dupont • Deutsche Autorin • Deutsche Klassiker • Deutsche Literatur • Deutsche Literatur 20. Jahrhundert • deutsche Schriftstellerin • Dr. Christian Xadow • E-Book Klassiker • E-Book literarisch • E-Book neu 2017 • E-Books • E-Reader lesen • E-Reader Neuauflage • E-Reader Neuausgabe • Geschlechter • große Autorin • Kindle Buch • Kindle E-Book • Kindle Klassiker • Kindle lesen • Kindle Neuauflage • Kindle Neuausgabe • Klassiker • Klassiker als E-Book • Klassiker Autorin • literarisches E-Book • Literatur • Literatur 20. Jahrhundert • Literatur E-Book • Neuauflage E-Book • Neuausgabe E-Book • Neuausgabe Kindle • Neu E-Book • Neues E-Book • Rollenwechsel • Roman • Schriftsteller • Schriftstellerin • Sprachkunst • wichtige Autorin
ISBN-10 3-96048-082-2 / 3960480822
ISBN-13 978-3-96048-082-2 / 9783960480822
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,4 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99