Revolution Noir (eBook)

Autoren der russischen »neuen Welle«

Julia Kissina (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
299 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75672-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Revolution Noir -
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Ein Mann geht durch Moskau, verirrt sich in die Welt der Engel, ohne seine Umgebung zu verlassen. Er wird ein Doppelagent der Wirklichkeit, der dem Schöpfer auf die Spur kommen will. Paracelsus und Alfred Jarry geistern durch die Texte und Franz Kafka, der noch in den dreißiger Jahren mit Frau, Sohn und Enkelkind ein glückliches, etwas ödes Leben in Prag führte, um sich eines Tages von seinem »Wiedergänger« zu verabschieden.

Hundert Jahre nach den Revolutionen des Jahres 1917 lässt Julia Kissina Autoren zu Wort kommen, die zum antirealistischen Unterstrom der russischen Literatur seit den 60er Jahren gehören. Ihre Lehrer sind Gogol und Charms; die heutigen Vertreter, wie Julia Kissina selbst, häufig Doppelbegabungen: Maler, Bildhauer, Philosophen. Wie alltägliche, scheinbar langweilige Ereignisse sich in etwas Rätselhaftes verwandeln, die Normalität aufgekündigt wird, Traum und Wahn überhand nehmen - Literatur als Wunder der Wahrnehmung ist der gemeinsame Nenner der Prosastücke.

Dieses Buch hat nichts zu tun mit unserer Vorstellung von der »russischen Seele«, dem slawischen Charakter, dem ewigen Wodka und überhaupt davon, wie man im Osten lebt und denkt. Es befreit uns von den Klischees, die am Sozialismus und an Dostojewski haften, und zeigt uns ein Russland ohne Putin und seine Helden - eine Gesellschaft, die längst Teil der globalen Kultur geworden ist.



<p>Julia Kissina, 1966 in Kiew geboren, gehörte in den 80er Jahren zum Kreis der Moskauer Konzeptualisten um Vladimir Sorokin und Pawel Pepperstein und machte sich mit spektakulären Kunstaktionen und als Fotokünstlerin auch international einen Namen. 2005 erschienen auf Deutsch <em>Vergiß Tarantino</em> sowie das Kinderbuch <em>Milin und die Zauberkreide</em>. Sie lebt in New York und Berlin.</p>

Julia Kissina, 1966 in Kiew geboren, gehörte in den 80er Jahren zum Kreis der Moskauer Konzeptualisten um Vladimir Sorokin und Pawel Pepperstein und machte sich mit spektakulären Kunstaktionen und als Fotokünstlerin auch international einen Namen. 2005 erschienen auf Deutsch Vergiß Tarantino sowie das Kinderbuch Milin und die Zauberkreide. Sie lebt in New York und Berlin.

Ich heiße Elvira


Ich versprach einer Frau, deren beide Söhne im Tschetschenienkrieg umgekommen waren, mit ihr in ein Kloster in der Nähe von Moskau zu gehen und mir dort einen Dämon austreiben zu lassen. Sie schlief mit den Fotos ihrer Söhne. Jetzt wollte sie mich von unreinen Kräften befreien. Ich konnte es ihr nicht abschlagen. Weil ich die Fotos ihrer Söhne gesehen hatte. Der Exorzismus fand im Dreifaltigkeitskloster von Sergijew Possad statt. Man wollte mir einen Dämon namens Elvira austreiben. Es hatte damit begonnen, dass ich auf der Straße einen Tscheburek aß. Mir wurde übel, und ich übergab mich nicht weit von einer orthodoxen Kirche in der Pokrowka-Straße. Dabei bin ich dieser Frau aufgefallen. Sie kam zu mir und gab mir geweihtes Wasser aus einer Flasche zu trinken. Und sie sagte, in mir sei ein böser Geist. Als ich mich übergab, erschien ich ihr als Frau. Rein weibliche Bewegungen waren aus mir hervorgebrochen. Eine Frau war aus mir hervorgekrochen. Ich beschloss, die Wahrheit zu sagen: Es sei eine Prostituierte, die sich auf diese Art in mir zeige, immer wenn mir schlecht sei. Als wir zu ihr nach Hause kamen, sie wohnte in der Nähe der Kirche, gestand ich ihr, dass ich mich ständig als Prostituierte empfände und sogar ihren Namen kenne, sie heiße Elvira. Elvira wurde vergewaltigt und ermordet, ungefähr zu der Zeit, als ich anfing, meinen ersten Film zu drehen. Damals ist es mir gelungen, etwas Ungewöhnliches auf dem Filmstreifen zu fixieren, weil die getötete Prostituierte Elvira aus dem Jenseits durch meine Kamera schaute. Die orthodoxe Frau sagte, das sei ein Dämon. Ich erlaubte dieser Frau mit Namen Anastasija, Mutter zweier gefallener Helden Russlands, mich in das Kloster des heiligen Sergius von Radonesh zu bringen, damit man dort Elvira aus mir austreibe. Anastasija sagte, sie werde das Ritual bezahlen. Sie hat mich de facto angeheuert. Ich amüsierte mich, wie immer. Ich wollte den Dämon aus ihr hervorlocken. Ich wollte ihre rohe weibliche Impulsivität genießen. Aber sie erwies sich als schlauer. Mich reizte es als spontanes erotisches Spiel, aber für sie war es ernst. Sie nahm sich meiner an. Sie zwang mich, ihr die Worte eines Gebets nachzusprechen. Sie schaltete mein Gewissen ein, und ich konnte ihr nichts abschlagen. Ich schämte mich vor der einsamen frommen Frau, vor ihren Heldensöhnen. Ich konnte sie nicht enttäuschen. Mein Gewissen hieß mich, ihr zu folgen, mein nach Lob gierendes Gewissen willigte ein, die getötete Prostituierte Elvira aus mir austreiben zu lassen. Ich stellte mir vor, wie es sein würde, wenn man mir die getötete Prostituierte ausgetrieben hätte. Das Lesen der Beschwörungsformeln, das heilige Kreuz, das Weihwasser würden das ihre tun. Huren haben im Körper eines orthodoxen Mannes nichts zu suchen! Ich werde ein normaler Gläubiger sein. Ich werde aufhören, mich allen möglichen Perversitäten von Körper und Seele hinzugeben. Ich mache Gymnastik und schaue mir nur noch anständige Filme an, in denen das Gute das Böse besiegt. Ich musste mich einfach retten lassen. Die streng- und rechtgläubige Weiblichkeit stand in Kopftücher gehüllt da und wartete gespannt darauf, wann denn Elvira aus mir ausfahre, damit sie sie in Stücke reißen konnte. Elvira! Sie werden sie wahrhaftig vernichten. Sie sind bereit, die schon Getötete zu töten. Sie sind bereit, sie unzählige Male zu töten. Wie die Abgeordneten der Staatsduma Russlands, die Boris Nemzow auch nach seinem Tod noch unzählige Male töten wollen. Immer wieder töten. Die Prostituierte in mir sträubte sich, sie biss und schrie. Sie wollte partout nicht aus mir heraus. Sie wollte in mir leben, sie wollte mir helfen, sie wollte mir so viel zeigen. Aber ich hatte beschlossen, mich Gottes Willen zu fügen. Ich habe Elvira verraten. Ich gestattete der frommen Menge, meine Prostituierte mit Steinen zu bewerfen. Die Rechtgläubigen in der Kirche freuten sich und bejubelten ihren Sieg über den Teufel. Elvira konnte die Folter durch das Weihwasser nicht ertragen. Wenn ich mich heute an jenen Exorzismus erinnere, dann möchte ich euch warnen, für den Fall, dass man euch jemals mit Weihwasser foltern sollte: Folter mit Weihwasser ist für den Dämon keine Folter, nur für den Menschen. Wenn man Weihwasser versprengt, macht das dem Dämon nichts aus, er wäscht sich, lacht, spielt ein wenig, aber für den Menschen ist es eine wahre Folter. Man hat mir den Menschen ausgetrieben. Nach der Austreibung von Elvira fühlte ich mich zwar tatsächlich besser und gesünder. Ich erinnere mich, ich schaute mir Antonionis Der Schrei an. Und konnte nicht begreifen, wie man sich so einen depressiven Mist ansehen kann. Dann schaute ich mir Schreie und Flüstern von Bergman an — und hielt auch hier nicht bis zum Ende durch. Nur ein sehr kranker Mensch konnte so was drehen. Das hat ein kranker Mensch für kranke Menschen gedreht. Das Tagebuch eines Landpfarrers schaute ich etwa bis zur Mitte und fühlte mich krank. Um nicht wirklich krank zu werden, schaltete ich aus und warf den Film weg. Seit man mir die Prostituierte ausgetrieben hat, habe ich keinen einzigen Film mehr gedreht. Weil ich meine schöpferische Sehweise verloren habe. Als wäre jemand aus mir gefahren, dem meine Augen das Sehen verdankten. Mit meinen Augen sieht niemand mehr. Ich sehe so wie alle. Ich begann, in die Kirche zu gehen. Ich hatte eine schöne Braut. Ich kam zu Geld. Ich fand eine große Vierzimmerwohnung an den Tschistye Prudy. Ich stellte mir schon meine Kinder vor. Ich zeigte die Ferkel meinen Eltern, sie waren gerührt. Ich präsentierte die Ferkel der Welt, und alle waren glücklich. Die Ferkel waren sauber gewaschen, hatten rosa Unterhosen, Eimerchen und Schäufelchen. Kein Kinosaal für die Toten. Allein der Gedanke daran ist mir peinlich. Ich weiß, viele wollen meine Elvira besitzen, um sie auszubeuten, um mit den Augen eines Künstlers zu sehen. Denn das Sehen, wie ich schon sagte, kommt zum Künstler durch die getöteten Prostituierten.

Eine Prostituierte ist die Magie, mit der man die Wesenheiten anlockt. Sie halten sich verborgen, doch auf Prostituierte springen sie an. Und zerbrechen dann dem Menschen das Leben. Aber sie schenken Sehvermögen. Die Prostituierte sieht, was sich in der Welt ereignet. Was mit den Menschen geschieht. Ein normaler Familienvater kommt zu einer Prostituierten und macht Hackfleisch aus ihr, schneidet sie in Stücke. Die Prostituierte weiß wie niemand sonst, was in den Menschen steckt. Was sie aus den Menschen herausholt! Als sie noch in mir wohnte, zog es außergewöhnliche, ungewöhnliche Menschen zu der getöteten Prostituierten Elvira. Nach ihrer Austreibung verschwanden diese Menschen aus meiner Welt. Von da an zog es mich zu den Prostituierten, weil ich ohne Elvira erstickte. Ich hasste die Kirche, ich jagte meine Braut fort. Ich ließ alle möglichen Perversen mit mir tun, was sie tun wollten, damit ich meine innere Prostituierte spürte, damit meine Elvira zu mir zurückkehrte, die gesteinigt und unendlich viele Male getötet worden war. Toulouse-Lautrec, fiel mir ein, war ins Bordell gegangen und hatte sich dort, angekleidet, zu den Prostituierten gelegt, die sich auf ihren Diwanen ausruhten. Die Frauen saßen um ihn herum, rauchten, unterhielten sich, er aber lag einfach nur da. Er malte seine Bilder mit dem Körper, wie eine Prostituierte. Er lebte monatelang im Bordell, um eine Prostituierte im Inneren zu bekommen. Um seinen ungelenken, kurzbeinigen Körper für die Malerei aufzuerwecken. Eine Prostituierte arbeitet mit dem ganzen Körper, wie ein Pferd. Es gibt wenige, die mit ihrem ganzen Körper arbeiten. Die heiligen Gebeine des ehrwürdigen Sergius von Radonesh arbeiten nicht so viel, wie eine Prostituierte mit ihrem Körper arbeitet. Und sie geben nicht dieses Sehvermögen, das eine Prostituierte geben kann, umso mehr eine getötete, eine wie meine Elvira. Eigentlich arbeiten die Gebeine des ehrwürdigen Patriarchen Sergius schon seit Jahrhunderten wie eine getötete Prostituierte. Nur als getötete Prostituierte kann er dem Menschen ein Gefühl aus dem Jenseits übermitteln. Die Zuhälter der Kirche prostituieren seinen Körper immer noch, aber sie gestehen es sich selbst niemals ein. Sie haben die Gebeine der Heiligen immer ausgebeutet, genau wie die Körper der getöteten...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2017
Übersetzer Ingolf Hoppmann, Olga Kouvchinnikova, Annelore Nitschke
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Anthologien
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Absurde Literatur • Charms • Gogol • Gogol, Charms • inoffizielle Literatur • Neue Welle • Russisch • Russland • Russland, Russisch • Underground
ISBN-10 3-518-75672-9 / 3518756729
ISBN-13 978-3-518-75672-0 / 9783518756720
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