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Einladung zur Enthauptung (eBook)

(Autor)

Dieter E. Zimmer (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
272 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00070-4 (ISBN)
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«In Übereinstimmung mit dem Gesetz wurde Cincinnatus C. das Todesurteil im Flüsterton mitgeteilt.» Ein Mann sitzt im Gefängnis, auf die Hinrichtung wartend; er träumt, phantasiert, erinnert sich, schreibt und hat Angst. Das Verbrechen, das er auf dem Schafott büßen soll, ist seine Existenz als Einzelgänger. Der große Erzähler Vladimir Nabokov hat mit diesem frühen Roman eine der bittersten Satiren der Weltliteratur geschrieben.

Vladimir Nabokov wird am 22. April 1899 in St. Petersburg geboren. Nach der Oktoberrevolution flieht die Familie 1919 nach Westeuropa. 1919-1922 in Cambridge Studium der russischen und französischen Literatur. 1922-1937 in Berlin, erste Veröffentlichungen, meist unter dem Pseudonym W. Sirin. 1937-1940 nach der Flucht aus Nazideutschland in Südfrankreich und in Paris, seit 1940 in den USA. 1961-1977 wohnt Nabokov im Palace Hotel in Montreux. Er stirbt am 2. Juli 1977.

Vladimir Nabokov wird am 22. April 1899 in St. Petersburg geboren. Nach der Oktoberrevolution flieht die Familie 1919 nach Westeuropa. 1919-1922 in Cambridge Studium der russischen und französischen Literatur. 1922-1937 in Berlin, erste Veröffentlichungen, meist unter dem Pseudonym W. Sirin. 1937-1940 nach der Flucht aus Nazideutschland in Südfrankreich und in Paris, seit 1940 in den USA. 1961-1977 wohnt Nabokov im Palace Hotel in Montreux. Er stirbt am 2. Juli 1977. Dieter E. Zimmer, geb. 1934, war freier Autor und Übersetzer. Von 1959–1999 war er Redakteur bei DIE ZEIT, davon 1973–1977 Leiter des Feuilletons, danach als Wissenschaftsjournalist mit den Schwerpunkten Psychologie, Biologie, Medizin und Linguistik. Neben zahlreichen weiteren Auszeichnungen erhielt er den Preis für Wissenschaftspublizistik der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Bei Rowohlt war er u. a. als Herausgeber und Übersetzer für die Nabokov-Gesamtausgabe verantwortlich.  Dieter E. Zimmer starb 2020 in Berlin. Dieter E. Zimmer, geb. 1934, war freier Autor und Übersetzer. Von 1959–1999 war er Redakteur bei DIE ZEIT, davon 1973–1977 Leiter des Feuilletons, danach als Wissenschaftsjournalist mit den Schwerpunkten Psychologie, Biologie, Medizin und Linguistik. Neben zahlreichen weiteren Auszeichnungen erhielt er den Preis für Wissenschaftspublizistik der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Bei Rowohlt war er u. a. als Herausgeber und Übersetzer für die Nabokov-Gesamtausgabe verantwortlich.  Dieter E. Zimmer starb 2020 in Berlin.

Kapitel 1


Wie das Gesetz es vorschrieb, wurde Cincinnatus C. das Todesurteil im Flüsterton mitgeteilt. Alle erhoben sich und lächelten einander zu. Der weißhaarige Richter hielt den Mund dicht an sein Ohr, schnaufte einen Augenblick lang, verkündete das Urteil und machte sich langsam los, als wäre er festgeklebt gewesen. Dann wurde Cincinnatus in die Festung zurückgebracht. Die Straße ringelte sich um ihren Felsensockel und verschwand unter dem Tor wie eine Schlange in einem Spalt. Er war ruhig; während der Wanderung durch die langen Gänge jedoch musste er gestützt werden, da er die Füße unsicher setzte wie ein Kind, das gerade laufen gelernt hat, oder als würde er gleich versinken wie jemand, der geträumt hat, er wandele über das Wasser, und dem plötzlich Zweifel kommen: Ist das denn überhaupt möglich? Rodion, der Wärter, brauchte lange, die Tür zu Cincinnatus’ Zelle aufzuschließen – es war der falsche Schlüssel –, und es fand das übliche Hin und Her statt. Schließlich gab die Tür nach. Drinnen wartete schon der Anwalt. Bis zur Schulter in Gedanken und ohne sein Frackjackett (das er auf einem Stuhl im Gerichtssaal vergessen hatte – es war ein heißer Tag, ein durch und durch blauer Tag) saß er auf der Pritsche; als der Häftling hereingeführt wurde, sprang er ungeduldig auf. Doch Cincinnatus war es nicht nach Gesprächen zumute. Selbst wenn die Alternative die Einsamkeit dieser Zelle mit ihrem Guckloch wie ein Bootsleck war – ihm war es gleich, und er bat darum, allein gelassen zu werden; alle verneigten sie sich zu ihm hin und gingen.

So nähern wir uns also dem Ende. Der rechte, noch ungekostete Teil des Romans, den wir während unserer ergötzlichen Lektüre leicht betasteten, um mechanisch festzustellen, ob noch genug da war (und immer freuten sich die Finger an der gleichmütigen treuen Dicke), ist plötzlich ohne Grund mager geworden: ein paar Minuten schnellen Lesens, bergab bereits, und – O grässlich! Der Haufen Kirschen, eben für uns noch eine Masse von rötlichem und glänzendem Schwarz, ist plötzlich zu ein paar vereinzelten Steinfrüchten geschrumpft: Die Narbige dort ist ein wenig faulig, und jene ist verschrumpelt und um ihren Kern herum vertrocknet (und die allerletzte ist unweigerlich hart und unreif) – O grässlich! Cincinnatus legte sein Seidenwams ab, zog den Schlafrock über, begann fest auftretend in der Zelle herumzulaufen, um dem Zittern ein Ende zu machen. Auf dem Tisch leuchtete ein sauberes Blatt Papier, und von dieser Weiße hob sich deutlich ein wundervoll spitzer Bleistift ab, lang wie das Leben jedes Menschen mit Ausnahme von Cincinnatus und mit einem ebenholzschwarzen Schimmer auf jeder seiner sechs Facetten. Ein aufgeklärter Nachkomme des Zeigefingers. Cincinnatus schrieb: «Trotz allem bin ich verhältnismäßig. Schließlich habe ich es geahnt, habe ich dieses Finale geahnt.» Rodion stand auf der anderen Seite der Tür und spähte mit der unnachgiebigen Aufmerksamkeit eines Kapitäns durch das Guckloch. Cincinnatus spürte eine Kälte auf seinem Hinterkopf. Er strich aus, was er geschrieben hatte, und begann, behutsam zu schattieren; ein embryonaler Schnörkel erschien langsam und bog sich zu einem Widderhorn. O grässlich! Rodion starrte durch das blaue Bullauge auf den Horizont, der sich bald hob, bald senkte. Wer wurde seekrank? Cincinnatus. Der Schweiß brach ihm aus, alles wurde dunkel, und er konnte die Wurzel jedes Haares fühlen. Eine Uhr schlug – vier- oder fünfmal – mit dem einem Gefängnis eigentümlichen Hall und Widerhall und Nachhall. Mit strampelnden Beinen ließ sich eine Spinne – offizieller Freund des Gefangenen – an einem Faden von der Decke herab. Niemand indessen klopfte an die Wand, da Cincinnatus bisher der einzige Häftling (in einer so riesigen Festung!) war.

Etwas später kam Rodion der Wärter herein und erbot sich, einen Walzer mit ihm zu tanzen. Cincinnatus willigte ein. Sie begannen, sich zu drehen. Die Schlüssel an Rodions Ledergürtel klirrten; er roch nach Schweiß, Tabak und Knoblauch; summte schnaufend in seinen roten Bart; und seine rostigen Gelenke knackten (er war nicht mehr so in Form wie früher, leider – jetzt, da er fett war und kurzatmig). Der Tanz trug sie auf den Gang. Cincinnatus war viel kleiner als sein Partner. Cincinnatus war leicht wie ein Blatt. Der Walzerwind ließ die Spitzen seines langen, aber schütteren Schnurrbarts flattern, und seine großen, klaren Augen blickten schräg zur Seite, wie es die Augen ängstlicher Tänzer immer tun. Er war in der Tat sehr klein für einen erwachsenen Mann. Marthe hatte immer gesagt, dass ihr seine Schuhe zu eng seien. An der Biegung des Ganges stand ein anderer – namenloser – Wärter mit einem Gewehr, der eine hundeartige Maske mit einem Stück Gaze über dem Mund trug. Sie beschrieben in seiner Nähe einen Kreis und glitten in die Zelle zurück, und jetzt bedauerte Cincinnatus, dass die freundliche Umarmung der Ohnmacht nur so kurz gewährt hatte.

Mit banaler Trostlosigkeit schlug die Uhr von neuem. Die Zeit rückte in arithmetischer Progression vor: Jetzt war es acht. Das hässliche kleine Fenster erwies sich als dem Sonnenuntergang zugänglich; ein feuriges Parallelogramm erschien auf der Seitenwand. Die Zelle war bis an die Decke mit den Ölfarben des Zwielichts gefüllt, die ungewöhnliche Pigmente enthielten. So fragte man sich, ob das da rechts von der Tür das Gemälde eines verwegenen Malers war oder ein zweites Fenster, ein verziertes, wie es sie nicht mehr gibt. (In Wirklichkeit war das, was da an der Wand hing, ein Pergamentblatt mit zwei Spalten detaillierter «Häftlingsregeln»; die geknickte Ecke, die roten Lettern der Überschrift, die Vignetten, das alte Stadtsiegel – nämlich ein Hochofen mit Flügeln – lieferten der Abendbeleuchtung das notwendige Material.) Das Möbelkontingent der Zelle bestand aus einem Tisch, einem Stuhl und der Pritsche. Das Abendessen (die zum Tode Verurteilten hatten Anrecht auf die gleichen Mahlzeiten wie die Wärter) stand schon lange da und wurde auf seinem Zinktablett kalt. Es wurde völlig dunkel. Plötzlich war der Raum voll von goldenem, hochkonzentriertem elektrischem Licht. Cincinnatus ließ die Füße von der Pritsche herab. Eine Kegelkugel rollte diagonal vom Nacken zur Schläfe durch seinen Kopf; sie kam zum Stillstand und rollte dann zurück. Inzwischen war die Tür aufgegangen, und der Gefängnisdirektor trat ein.

Wie immer trug er einen Gehrock und hielt sich tadellos gerade, die Brust heraus, die eine Hand in seinem Busen, die andere hinter dem Rücken. Ein hervorragendes Toupet, pechschwarz und mit einem wächsernen Scheitel, bedeckte glatt seinen Kopf. Seinem lieblos gewählten Gesicht mit den dicken, fahlen Wangen und einem leicht veralteten Faltensystem liehen in gewisser Weise zwei, und nur zwei, hervortretende Augen Leben. In seinen Hosenschäften ging er gleichmäßigen Schritts von der Wand zum Tisch, fast bis zur Pritsche – doch trotz seiner majestätischen Festigkeit verschwand er lautlos, löste er sich auf in Luft. Eine Minute später jedoch ging die Tür noch einmal auf, diesmal mit dem vertrauten Knarren, und wie immer in einem Gehrock trat, die Brust heraus, die gleiche Person ein.

«Aus vertrauenswürdiger Quelle dahingehend unterrichtet, dass Ihr Schicksal sozusagen besiegelt ist», begann er in salbungsvollem Bass, «erachte ich es als meine Pflicht, werter Herr …»

Cincinnatus sagte: «Liebenswürdig. Sie. Sehr.» (Dies musste noch geordnet werden.)

«Sie sind sehr liebenswürdig», sagte ein zusätzlicher Cincinnatus, nachdem er sich geräuspert hatte.

«Vergebung!», rief der Direktor, ohne die Taktlosigkeit dieses Wortes zu bemerken. «Vergebung! Machen Sie sich nichts draus. Die Pflicht. Ich immer. Aber warum, wenn ich mich erkühnen darf, das zu fragen, warum haben Sie Ihr Essen nicht angerührt?»

Der Direktor nahm den Deckel ab und hob eine Schüssel geronnenen Eintopfs an seine sensible Nase. Mit zwei Fingern griff er sich eine Kartoffel und begann sie kraftvoll zu zerkauen, während er mit seiner Augenbraue schon auf einem anderen Teller etwas aussuchte.

«Ein besseres Essen können Sie sich doch wohl kaum wünschen», sagte er mit Missfallen, ließ seine Manschetten herausschießen und setzte sich an den Tisch, um es beim Essen des Reispuddings bequemer zu haben.

Cincinnatus sagte: «Ich wüsste gern, ob es noch lange sein wird bis dahin!»

«Ein vorzüglicher Zabaione! Wüsste doch gern, ob es noch lange sein wird bis dahin. Unglücklicherweise weiß ich das selber nicht. Ich werde immer erst im letzten Augenblick unterrichtet; ich habe mich viele Male beschwert und kann Ihnen die ganze Korrespondenz über dieses Thema zeigen, wenn es Sie interessiert.»

«Es kann also morgen früh sein?», fragte Cincinnatus.

«Wenn es Sie interessiert», sagte der Direktor. «… Ja, einfach köstlich und sehr sättigend, sage ich Ihnen. Und jetzt erlauben Sie mir, Ihnen pour la digestion eine Zigarette anzubieten. Keine Angst, das ist höchstens die vorletzte», fügte er witzig hinzu.

«Ich frage nicht aus Neugier», sagte Cincinnatus. «Es stimmt, Feiglinge sind immer wissbegierig. Aber ich versichere Ihnen … Selbst wenn ich mein Zittern nicht beherrschen kann und so weiter – das hat nichts zu sagen. Ein Reiter ist nicht verantwortlich für das Zittern seines Pferdes. Ich möchte aus folgendem Grund erfahren, wann: Die Kompensation für ein Todesurteil ist, dass man...

Erscheint lt. Verlag 22.9.2017
Reihe/Serie Nabokov: Gesammelte Werke
Nabokov: Gesammelte Werke
Übersetzer Dieter E. Zimmer
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 4 • Einzelgänger • Gefängnis • Hinrichtung • Kafka • Lolita • Mann • Schafott • Träume
ISBN-10 3-644-00070-0 / 3644000700
ISBN-13 978-3-644-00070-4 / 9783644000704
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