Lexikon der Liebe (eBook)
192 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-97768-5 (ISBN)
Annette Pehnt, geboren 1967 in Köln, studierte und arbeitete in Irland, Schottland, Australien und den USA. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Freiburg und Hildesheim, wo sie das Institut für Literarisches Schreiben & Literaturwissenschaft leitet. 2001 veröffentlichte sie ihren ersten Roman »Ich muß los«, für den sie unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. 2002 erhielt sie in Klagenfurt den Preis der Jury für einen Auszug aus dem Roman »Insel 34«, 2008 den Thaddäus-Troll-Preis sowie die Poetikdozentur der Fachhochschule Wiesbaden und 2009 den Italo Svevo-Preis. 2022 wurde sie mit dem Rheingauer Literaturpreis und 2023 mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet. 2011 erschien ihr Roman »Chronik der Nähe«, im selben Jahr erhielt sie den Solothurner Literaturpreis sowie den Hermann Hesse Preis. 2013 erschien der Prosaband »Lexikon der Angst«, 2014 war sie Mitherausgeberin der Anthologie »Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher«. Darüber hinaus schrieb sie mehrere Kinderbücher, unter anderen »Der Bärbeiß«. Zuletzt veröffentlichte sie den Roman »Die schmutzige Frau«.
Annette Pehnt, geboren 1967 in Köln, lebt sie als Dozentin und freie Autorin mit ihrer Familie in Freiburg. 2001 veröffentlichte sie ihren ersten Roman "Ich muß los", für den sie unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. 2002 erhielt sie in Klagenfurt den Preis der Jury, 2008 den Thaddäus-Troll-Preis sowie 2009 den Italo Svevo-Preis. 2011 erschien ihr Roman "Chronik der Nähe", im selben Jahr erhielt sie den Solothurner Literaturpreis sowie den Hermann Hesse Preis. 2013 erschien der Prosaband "Lexikon der Angst". Zuletzt veröffentlichte sie den Roman "Briefe an Charley".
B
Balkon Nachmittags im Hotel, so ist es ausgemacht. Sie kommen aus verschiedenen Richtungen, in hellen Sommermänteln und mit staubigen Schuhen, er mit einem hohen Ton im Ohr, sie mit einem Ziehen im Rücken, beide noch eingesponnen in ein Netz aus Ausreden und erfundenen Terminen. Schon während sie sich im Foyer umarmen, streifen sie die Anstrengungen ab, die sie dieser freie Nachmittag gekostet hat, es ist gleichgültig, wen sie belogen haben und wie lang die Fahrt war, später ist Zeit für Erschöpfung und Magenschmerzen. Die Umarmung genügt, um sie wieder zum Paar zu machen, und dass es sie nicht geben darf, ist ein Grund zum Feiern, denn es gibt sie ja. Hier stehen sie, hineingelehnt in einen Duft aus Zahnpasta und Limettenspray, rasch noch im Zug frisch geputzt und durchgekämmt, in der schwankenden Toilettenkabine sich die Achseln mit Papiertüchern abgetupft und die Zähne gebleckt, die Nasenlöcher und die Fingernägel geprüft, es gehört dazu, sich vorher nach Kräften herzurichten für diese wenigen Stunden, die sie nicht mit Duschen verbringen und nicht mit Reden, sondern im Bett, dem immer gleichen Bett mit der festen Matratze und einem Blick über fremde Dächer.
Auf einem der Balkone könnte jemand stehen und sie beobachten, sie schließen nie die Vorhänge und lassen immer den Fernseher laufen, so war es beim ersten Mal, und so soll es bleiben. Sie müssen zwar lügen, um sich zu sehen, aber ansonsten haben sie nichts zu verstecken, sie umarmen sich glühend in der hellen Luft, und wer ihnen dabei zuschauen will, ist eingeladen, sich an ihnen zu verbrennen. Sie decken sich nicht zu und verbergen nichts. Sie sind nicht mehr jung, etwas angeschlagen, von den Kleidern zwar elegant zusammengehalten, doch darunter die Bäuche überreif, ihre Brüste ausgehangen, seine Oberschenkel breit gesessen. Deswegen ziehen sie sich immer erst kurz vorher aus, wenn sie es kaum noch erwarten können und die Blicke so gierig sind wie die Hände und für Scham keine Zeit bleibt.
Danach liegen sie beieinander, der Nachmittag draußen noch immer in vollem Gange, man hört Verkehr und das Klirren einer Straßenbahn weit unten auf der Straße. Da unten sind die anderen, zu denen sie bald wieder stoßen werden, die, die keine Ahnung haben, mit ihren regelmäßigen Lieben und ihren offen geführten Tagen. Sie dagegen sind Verbündete, nicht nur im Bett, sie lachen leise, die Heimlichkeit tut ihnen gut, alle sollten so leben.
Beim Anziehen glühen die Körper noch nach, sie wenden sich ab, streifen die Kleider über, Socken allein im Bad anziehen, diese Regeln halten sie immer ein. Dann erst kommen Gespräche auf, sie sind umstellt von ihren Familien, und es gibt weniges, worüber sie sprechen können, Bücher vielleicht, die Arbeit, Reisen, und doch hören sie sich gern zu, mehr den Stimmen als den Worten.
Darf ich dich etwas fragen, sagt er einmal.
Sie schüttelt den Kopf. Lächelnd blickt er auf ihre verschränkten Hände.
Schade.
Als es dann herauskommt, sind sie nicht überrascht. Sie sitzen mit gesenkten Köpfen in ihren Zügen, wie bestrafte Kinder, fest verzurrt in ihren Kleidern, um sich ein letztes Mal zu treffen. Endlos erschöpft halten sie sich die Tür auf, ziehen die Schuhe aus und liegen still in den Laken.
Jetzt darfst du mich fragen, sagt sie.
Er stützt sich auf die Ellbogen und starrt aus dem Fenster. Im Wohnblock gegenüber sieht er einen Mann an der Balkonbrüstung lehnen. Er raucht und schaut, unverwandt, direkt zu ihnen herüber.
Und, fragt sie nach, den Tränen nahe.
Er schließt die Augen und lässt sich zurückfallen.
Ich weiß nicht, murmelt er, ich habe es vergessen.
Band Als Kind fällt es ihr leicht, Gott zu lieben. Alle tun es, jedenfalls dann, wenn es darauf ankommt. Sonntags steht sie neben den Eltern und faltet die Hände zu einem fest geflochtenen Knoten. Jeder Tag endet mit Gott, die Mutter spricht mit ihr ein Nachtgebet, und die auswendig gelernten Wörter sind eine schöne Melodie, die sie für Gott singt, worauf sie meistens gut einschläft. Verhandlungen führt sie direkt mit Gott, und oft bekommt sie, was sie erbeten hat: den lockigen braunen Hasen aus der Zoohandlung, dass ihre beste Freundin auf die gleiche Schule kommt wie sie und dass der Vater nicht merkt, dass sie schon wieder ihren Sportbeutel verloren hat. Sie holt sich einfach neue Turnschuhe aus der Fundkiste, die passen genauso gut. Dafür bietet sie Gott eine ordentliche Gegenleistung, jede Menge Gebete und gute Taten. Sie schenkt einem Mädchen auf der Straße einen Tintenkiller, einfach so, sie jagt die anderen weg, wenn sie den Jungen mit den krummen Beinen mit Sand bewerfen, sie beerdigt das überfahrene Eichhörnchen, das starr am Straßenrand liegt, und auch sonst kämpft sie für die Schwachen. Sie hat sogar schon Geld auf den Altar gelegt, als es besonders dringend war, aber ob Gott damit etwas anfangen konnte, weiß sie nicht, jedenfalls war es am nächsten Sonntag weg. Immer wenn ihr etwas gelingt, bedankt sie sich bei Gott, und er sendet ihr Zeichen, Regenbögen, Sonnenstrahlen und den ersten Schnee, und so bleiben sie im Gespräch.
Die ersten Schwierigkeiten ergeben sich, als sie sich verliebt und Gottes Hand braucht, um dem Jungen die Augen zu öffnen. Sie weiß nicht, ob es an Gottes Hand liegt oder an der Verblendung des Jungen, der sich am Tag nach ihrem Gebet an ein Mädchen aus der Oberstufe schmiegt, aber seitdem beginnt sie zu zweifeln, ob Gott wirklich zuständig ist. Im Konfirmandenunterricht hört sie von der Ohnmacht Gottes und fragt sich, ob sie jemanden lieben soll, der nichts zu sagen hat. Aber als sie dann, edel gekleidet, wie auf dem Laufsteg durch den Mittelgang zum Altar läuft und die warme Hand des Pfarrers auf ihrem Kopf spürt, fühlt sie sich doch gesegnet.
Mit der Klasse besuchen sie ein Kloster, wo junge Nonnen ihnen von der Liebe erzählen, sie sind aufgekratzt wie Bräute und wollen den Kindern etwas erklären, das unbegreiflich ist. Sie erzählen von dem Band zwischen ihnen und Jesus, und wie er sie anspricht jeden Tag aufs Neue, und sie fragt sich, ob es einfacher wäre, Jesus zu lieben als Gott, oder ob es auf dasselbe hinausläuft. Den Nonnen wünscht sie die verschwitzte Umarmung eines Jungen, sie verpassen so viel, all die Haut und die Hitze, die Liebe zu Gott muss dagegen kühl sein und wie ein weit entfernter Stern, obwohl die Nonnen davon erzählen, als hätte Gott sie in der Nacht geküsst. Sie hat das Gefühl, sie müsse sich entscheiden, und ihre Wahl steht fest, Gott zieht den Kürzeren, und das sagt sie ihm auch, spöttisch faltet sie noch einmal die Hände wie früher und teilt ihm ihre Entscheidung mit.
Danach sorgt sie sich eine Weile, ob sie dafür zahlen muss oder ob sie das Glück verlässt, aber im Gegenteil trifft sie auf jeder Party neue Möglichkeiten, die Jungen drehen ihr Joints und erklären ihr den Abiturstoff, alles gelingt ihr.
Jahrelang vergisst sie Gott, nur bei den Prüfungen an der Uni schickt sie ihm Stoßgebete, gespickt mit Entschuldigungen, dass sie sich so selten meldet, und ob er sie nun erhört oder nicht, jedenfalls erntet sie gute Noten, und ihre Haare reichen bis zur Hüfte.
In ihrer Wohnung streicht sie die Wände dunkelrot und limettengrün. Manchmal steht sie abends nach der Arbeit am offenen Fenster und hört die Amsel in der Birke singen, oder sie geht mit Freunden rudern auf dem See und schaut über das Wasser, wo die Mückenschwärme zwischen dem Schilf zittern.
Als sie heiratet, führt der Pfarrer mit dem Paar ein Gespräch. Sie sollen sich Stellen aus der Bibel aussuchen, auf die Fragen des Pfarrers findet sie ungeschickte Worte, sie ist es nicht mehr gewöhnt, mit Gott zu tun zu haben, es ist sicher auch Übungssache.
Warum wollen Sie denn kirchlich heiraten, fragt der Pfarrer geduldig. Er sitzt leicht gekrümmt auf der sandfarbenen Sitzgarnitur im Gemeindebüro und sieht blass und sehr müde aus, und in ihrem Glück, mit ihrem schlaksigen, zärtlichen Freund an der Seite, würde sie ihm gern eine Freude machen mit einer guten Antwort, in ihrer Liebe ist ja Platz für andere, und wie das mit Gott zusammenhängt, weiß vielleicht der müde Pfarrer. Aber er sagt nicht viel, er nickt freundlich und schaut sie an, als wüsste er, dass vieles im Sande verläuft, wenn man nicht achtgibt.
Als sie dann vor dem Altar stehen, der Regen rauscht auf das Kirchendach und schlägt gegen die bunten Fenster, sieht der Pfarrer stattlich aus in seinem lackschwarzen Talar. Er hält sich gerade und spricht von Gottes Liebe, und während sie neben ihrem frischen Mann steht, im Rücken die gerührten Freunde, die Eltern mit Gesangbüchern und zwei Mädchen mit Körben voller Rosenblätter, gibt es einen Moment lang nichts, was sie sich mehr wünscht.
Boden Er liebt niemanden, und das ist auch gut so, denn man fängt sich nur Enttäuschungen ein, wenn man sein Herz verliert, und bekommt es nicht mehr zurück. Er spürt keinen Mangel, die Liebe wird ja maßlos überschätzt, und wenn im Fernsehen wieder nur Liebesfilme kommen, schaltet er ab. Am schlimmsten ist es im Frühjahr, wenn überall die Liebenden lehnen, Flieder im Knopfloch, mit frisch rasierten Beinen und frischem Atem, sie fingern aneinander herum und können den Blick nicht voneinander lassen, und wenn sie sich lange genug angestarrt haben, fallen sie entweder übereinander her und saugen sich die Spucke aus dem Leib, oder sie machen Fotos von sich, beides gleichermaßen sinnlos, wenn man ihn fragt. Aber in Liebesdingen fragt ihn niemand, sonst durchaus schon zu diesem und...
Erscheint lt. Verlag | 2.10.2017 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aufgabe • Buch • Bücher • Empfindung • Empfindungen • Facetten der Liebe • Glück • Hingabe • Lexikon der Angst • Liebe • Lust • Ritual • Schmerz • Ungewissheit • Verzweiflung • Zuneigung |
ISBN-10 | 3-492-97768-5 / 3492977685 |
ISBN-13 | 978-3-492-97768-5 / 9783492977685 |
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