Der große Wahn (eBook)
432 Seiten
mareverlag
978-3-86648-335-4 (ISBN)
Sebastian Faulks, geboren 1953 in Newbury, studierte Literatur- und Geschichtswissenschaft in Cambridge und war viele Jahre als Journalist tätig, bevor er sich ganz auf das literarische Schreiben verlegte. 'Der große Wahn' ist sein dreizehnter Roman und der erste, der bei mare erscheint. Faulks lebt in London.
Sebastian Faulks, geboren 1953 in Newbury, studierte Literatur- und Geschichtswissenschaft in Cambridge und war viele Jahre als Journalist tätig, bevor er sich ganz auf das literarische Schreiben verlegte. "Der große Wahn" ist sein dreizehnter Roman und der erste, der bei mare erscheint. Faulks lebt in London.
ERSTES KAPITEL
Normalerweise fühle ich mich in Flughafenlounges, mit ihren Gratiserdnüssen und ihrer Anonymität, wie zu Hause, aber diesmal war ich vollkommen neben der Spur und konnte der Aufgeblasenheit nichts abgewinnen. Es war schwierig genug gewesen, bis hierher zu kommen. Die Schlangen auf dem Kennedy Airport zogen sich bis zu den Eingängen der Terminals; die Reisenden, die ihre Schrankkoffer zu den Check-in-Schaltern wuchteten, ließen eher an Lagos als an New York denken.
Ich hatte etwas Schlimmes getan und wollte raus aus der Stadt. Ich hatte ein paar Tage auf der Upper West Side verbracht, im Apartment meines Freundes Jonas Hoffman, und dorthin hatte ich auch das Callgirl kommen lassen. Die Nummer stammte aus einer Telefonzelle am Columbus Circle. Irgendwie wollte ich den Geschlechtsakt ins rechte Licht rücken, mich selbst verspotten, wie man andere Leute wegen ihrer Partnerwahl verspottet. Ein ehrlicher Blick auf mich selbst und meine Kümmernisse: Genau den hatte ich gesucht.
Ich darf mich durchaus einen Lüstling nennen und habe im Leben schon alles gesehen, aber als der Portier anrief, um mir zu sagen, dass eine junge Dame auf dem Weg zu mir nach oben sei, war ich doch ziemlich nervös. Die Klingel an der Wohnungstür schnarrte. Ich nahm einen Schluck vom Gin auf Eis und ging öffnen. Es war elf Uhr vormittags. Sie trug einen olivgrünen Mantel und hatte eine praktische Handtasche mit Spangenverschluss bei sich; einen Augenblick lang glaubte ich, dass sie Hoffmans Putzfrau sei. Nur die High Heels und der Lippenstift deuteten auf etwas Vergnüglicheres hin. Ich bot ihr einen Drink an.
»Nein, danke, Mister. Vielleicht ein Glas Wasser.«
Als ich mir vorgestellt hatte, wie sie aussehen würde, hatte ich an ein Pin-up gedacht – oder eine Nutte mit platinblondem Haar und Rouge. Diese Frau aber war von unbestimmter Nationalität, vielleicht puerto-ricanisch. Sie war in keiner Weise hässlich, aber schön war sie auch nicht. Sie sah aus wie die achtunddreißigjährige Schwester von irgendjemandem, wie die Frau, die die Aufsicht über den Waschsalon führt, oder eine, die in Midtown Manhattan hinterm Pult eines Reisebüros sitzt.
Ich holte das Wasser und setzte mich dann in Hoffmans großem, von Bücherregalen eingefasstem Wohnzimmer neben sie. Sie hatte ihren Mantel ausgezogen und trug darunter unpassenderweise ein Cocktailkleid. Ich musste unweigerlich an ihre Familie denken: Bruder, Eltern … Kinder. Ich legte meine Hand auf ihr Knie und spürte das grobe Nylon. Musste ich sie küssen? Das erschien mir zu intim, wir hatten uns doch gerade erst kennengelernt … Ich versuchte es trotzdem und spürte den unendlichen Überdruss in ihrer Reaktion.
Eine Erinnerung an Paula Wood blitzte auf, ein sechzehn Jahre altes Mädchen, das ich vor einer Ewigkeit in einem Gemeindezentrum geküsst hatte, noch bevor ich den ganzen Schrecken des Begehrens entdeckte. Diese Hure zu küssen, war, wie ein Mannequin zu küssen. Wie eine Wiederholung oder eine Erinnerung, jedenfalls nicht wie ein Kuss. Ich ging in die Küche und goss mir noch ein halbes Glas Gin ein, mit Eiswürfeln und zwei Scheibchen Zitrone dazu.
»Hier lang«, sagte ich und zeigte auf das Extrazimmer – mein Zimmer – am Ende des Flurs. Hoffman hatte es für seine Mutter vorgesehen, wenn sie zu Besuch aus Chicago kam, und als wir es betraten, fühlte ich mich einen Moment lang unbehaglich. Ich zog meine Schuhe aus und legte mich aufs Bett.
»Du solltest dich vielleicht ausziehen.«
»Sie sollten mich vielleicht erst mal bezahlen.«
Ich kramte Geld hervor und gab es ihr. Mit einem gewissen Widerstreben zog sie sich aus. Als sie fertig war, stellte sie sich neben mich. Sie nahm meine Hand und führte sie über ihr Abdomen und ihre Brüste. Der Bauch war rundlich, und an den Hüften gab es kleine Fettpolster, den Nabel hatte der Arzt bei der Geburt verpfuscht. Ihre Haut war sanft, und in ihren Augen sah ich so etwas wie Konzentration – nicht Zuneigung oder Interesse, eher das angestrengte Bemühen einer Nachwuchskraft. Ich fühlte mich äußerst müde und hätte am liebsten die Augen zugemacht. Zugleich empfand ich eine Verpflichtung dieser Frau gegenüber; wir waren nun mal beide in diese Sache verstrickt, auf Gedeih und Verderb.
Nach den Brüsten berührte ich das flache, knochige Sternum und das Klavikel. Ich fragte mich, wie sich meine Finger für sie anfühlen mochten. Wenn man seine Hand über die Haut eines anderen gleiten lässt, ist es dann wirklich nur die eigene Absicht, die die Hitze des Liebhabers von der Fürsorge des Arztes unterscheidet?
Dieses Mädchen fühlte vermutlich keins von beidem, sondern nur eine Reibung von Haut an Haut. Ich stand auf und zog meine Sachen aus und legte sie auf einen Stuhl. Bei Annalisa und mir passierte das in buchstäblich rasendem Tempo. Ich hatte immer panische Angst, meine Begierde an ihr niemals stillen zu können; ich fürchtete, dass sie gehen könnte, bevor wir überhaupt angefangen hatten, denn ich wusste, sobald die Tür hinter ihr zufiel, hätte ich schon wieder ein verzweifeltes Verlangen nach ihr. Und dieses Gefühl – diese rasende Angst – konnte nicht richtig und nicht echt sein, das wusste ich. Ich musste dringend eine gesündere Einstellung dazu gewinnen.
In Hoffmans Extrazimmer gab es einen Spiegel, der mir einen alternden Mann bei der Paarung mit einer Fremden zeigte: Das war endlich die zoologische Komödie, die ich haben wollte, die Kollision weißer Haut mit brauner, mein hässliches Gesicht rot angelaufen, ihr Kopf gesenkt und der Rücken durchgedrückt. Das war die Schmierenkomödie, die ich im Leben anderer Leute sah, und ich klatschte ihr voller Genugtuung auf den Hintern.
Hinterher drängte ich sie, auf einen Tee oder ein Bier zu bleiben, um unser Tauschgeschäft in zivilisierter Manier abzurunden. Sie erzählte mir, dass sie in Queens wohnte und in einem Schuhgeschäft aushalf. Ich hatte mir vage vorgestellt, es sei ein vollgültiger Job, eine New Yorker Hure zu sein, nicht gerade mit »Perspektiven« und Gewerkschaft, aber vielleicht mit einem beschützenden Luden unter der Straßenlaterne. Mehr wollte sie mir anscheinend nicht erzählen, vielleicht fürchtete sie, dann könnte der Lack ab sein. Ich schätze, sie wollte nicht, dass ich sie mir als Frau vorstellte, die ins Lager ging, um einen Herrenschuh Größe 7 zu holen.
Ein paar Minuten später lag sie ausgestreckt auf dem Teppich vor Hoffmans Kamin und wartete auf eine Wiederholung. Ich hatte wenig Lust auf ein zweites Mal, aber ich wollte ihr nicht die Chance nehmen, noch ein bisschen was zu verdienen. Mein Motiv unterschied sich nicht so sehr von damals, an dem Abend im Gemeindehaus, als ich ganz am Schluss Paula Woods Mutter zum Tanzen aufforderte. Höflichkeit, oder einfach eine Unkenntnis dessen, was Frauen wollen.
Als wir fertig waren, gab ich dem Mädchen noch einmal zwanzig Dollar, die es mit einem Dankesnicken zusammenfaltete und in seinem Portemonnaie verstaute.
»Was ist das für eine Narbe auf deiner Schulter?«, fragte sie.
»Eine Schusswunde. Eine Pistole.«
»Wie –«
»Das willst du nicht wissen.«
Ich holte ihren Mantel und hielt ihn ihr hin; als sie sich verabschiedete, gab es einen Moment der Verlegenheit. Musste ich sie küssen, und wenn ja, wie? Sie tippte mir auf die Wange und drückte dann ihre Lippen flüchtig auf die Stelle, wo die Finger gewesen waren. Auf seine Art war dies der erotischste Moment, den es zwischen uns gegeben hatte.
Als ich wieder allein war, ließ ich mich in den großen Armsessel fallen und sah über den Central Park hinweg. Ein paar einzelne Frauen liefen dort, jede vermutlich mit einer Pfefferspraydose in der Tasche ihrer Jogginghose; Mütter mit Kindern waren selbst zu dieser helllichten Tageszeit nicht zu sehen. Auch einige Männer mit Walkman-Kopfhörern trabten die Wege entlang – Gewalttäter oder Mitglieder einer Bürgerwehr, das war schwer zu sagen, jedenfalls sahen sie nicht wie Sportler aus. Die ganzen Mayor-Koch-Autoaufkleber hin oder her – niemand liebte das New York von 1980. Was sollte man an einer Stadt auch lieben, in der der Türsteher darauf bestand, dass man beim Verlassen der Stammkneipe wartete, bis das Taxi mit schon geöffneter Tür hart am Bordstein stand, abfahrbereit. Es waren nur drei Blocks bis zur Wohnung, aber man hatte mir eingeschärft, niemals zu Fuß zu gehen.
Nachdem ich im Badezimmer von Hoffmans Mutter geduscht hatte, goss ich mir noch einen Gin ein, ging zurück ins Wohnzimmer und dachte über die Hure nach. Es heißt, wenn man mit einer Frau schläft, sind alle ihre früheren Partner mit im Bett, aber ich habe das nie so empfunden. Und auf jeden Fall hätte es ein Bett sein müssen, das zum Repertoire einer Professionellen gepasst hätte. Dagegen habe ich immer schwach die Gegenwart meiner eigenen früheren...
Erscheint lt. Verlag | 29.8.2017 |
---|---|
Übersetzer | Jochen Schimmang |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • England • Erinnern • Freundschaft • Italien • Krieg • Liebe • Mittelmeer • Psychologie • Vater Sohn • Vergessen • Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-86648-335-X / 386648335X |
ISBN-13 | 978-3-86648-335-4 / 9783866483354 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 1,2 MB
Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopierschutz. Eine Weitergabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persönlichen Nutzung erwerben.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich