Der blinde Mörder (eBook)

Roman
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2017 | 1. Auflage
704 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-97744-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der blinde Mörder -  Margaret Atwood
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Kanada, in den 1930er Jahren: Laura, fünfzehnjährige Tochter eines Fabrikanten, verfällt einem Gewerkschaftsagitator. Doch auch für ihre Schwester Iris verkörpert er das romantische Ideal eines Mannes. Als Laura von seinem Tod erfährt, begeht sie Selbstmord. Zurück bleibt ein Manuskript mit dem Titel »Der blinde Mörder«, das Laura postum berühmt macht. Aber ist sie wirklich die Autorin? Iris versucht Jahre später, sich rückblickend Klarheit über die Geschehnisse zu verschaffen.

Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Autorinnen unserer Zeit. Ihr »Report der Magd« wurde für inzwischen mehrere Generationen zum Kultbuch. Zudem stellt sie immer wieder ihr waches politisches Gespür unter Beweis, ihre Hellhörigkeit für gefährliche Entwicklungen und Strömungen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Man Booker Prize, dem Nelly-Sachs-Preis, dem Pen-Pinter-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Margaret Atwood lebt in Toronto. Auf Deutsch erschien zuletzt ihr Lyrikband »Innigst«.

Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit. Ihr "Report der Magd" wurde zum Kultbuch einer ganzen Generation. Bis heute stellt sie immer wieder ihr waches politisches Gespür unter Beweis, ihre Hellhörigkeit für gefährliche Entwicklungen und Strömungen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Man Booker Prize, dem Nelly-Sachs-Preis, dem Pen-Pinter-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Margaret Atwood lebt in Toronto.

Der blinde Mörder: Das hart gekochte Ei


Also dann, was soll es sein? sagt er. Abendkleider und Romanzen, oder gestrandete Schiffe an unwirtlichen Gestaden? Du kannst es dir aussuchen: Urwälder, tropische Inseln, Berge. Oder eine andere Dimension, eine andere Dimension des Raums – darin bin ich am besten.

Eine andere Dimension? Was du nicht sagst!

Spotte nicht, andere Dimensionen können sehr nützlich sein. Alles ist dort möglich. Raumschiffe und hautenge Uniformen, Strahlenwaffen, Marsbewohner, die wie gigantische Tintenfische aussehen, solche Sachen.

Entscheide du, sagt sie. Du bist der Fachmann. Wie wäre es mit einer Wüste? Ich wollte schon immer mal eine sehen. Mit einer Oase natürlich. Ein paar Dattelpalmen wären nett. Sie reißt die Kruste von ihrem Sandwich ab. Sie mag keine Krusten.

Wüsten lassen einem keinen großen Spielraum. Nicht genug Unterscheidungsmerkmale, außer man tut noch ein paar Gräber dazu. Dann könnte man eine Horde nackter Frauen haben, seit dreitausend Jahren tot, mit üppigen Figuren, rubinroten Lippen, azurblauen Haaren, die sich in einem Geschäum wallender Locken ergießen, und Augen wie Schlangengruben. Aber ich glaube nicht, dass ich dir diese Frauen zumuten kann. Zu wild. Das ist nicht dein Stil.

Das kann man nie wissen. Vielleicht würden sie mir gefallen.

Das bezweifle ich. Sie sind mehr was für die elenden Massen. Aber sehr beliebt auf den Titelseiten – machen sich an jeden Kerl ran, man muss sie sich mit dem Gewehrkolben vom Leib halten.

Könnte ich die andere Dimension haben, und dazu die Gräber und die toten Frauen? Bitte?

Du bist ganz schön anspruchsvoll, aber ich will sehen, was sich machen lässt. Ich könnte noch ein paar Jungfrauen drauflegen, die als Opfer dargebracht werden, mit metallenen Brustplatten und silbernen Fußkettchen und halb durchsichtigen Gewändern. Und ein Rudel räuberischer Wölfe, als kostenlose Dreingabe.

Wie ich sehe, schreckst du wirklich vor nichts zurück.

Wären die Abendkleider dir lieber? Kreuzfahrtschiffe, weiße Tischdecken, Handküsse und heuchlerisches Gesäusel?

Nein. Ist gut. Tu, was du nicht lassen kannst.

Zigarette?

Sie schüttelt den Kopf. Er steckt sich eine an, reißt das Streichholz mit dem Daumennagel an.

Irgendwann wirst du dich noch selbst in Brand stecken, sagt sie. Bis jetzt habe ich es noch nie getan.

Sie betrachtet seinen aufgerollten Hemdsärmel, weiß oder hellblau, dann sein Handgelenk, die braunere Haut seiner Hand. Ein Strahlen geht von ihm aus, es muss der Abglanz der Sonne sein. Wie kommt es, dass die Leute nicht alle starren? Er fällt viel zu sehr auf, um hier zu sein – hier draußen im Freien. Um sie herum sind andere Menschen, die im Gras sitzen oder liegen, auf einen Ellbogen gestützt, und picknicken, in hellen Sommerkleidern. Alles sehr schicklich. Trotzdem hat sie das Gefühl, dass sie beide allein sind; als wäre der Apfelbaum, unter dem sie sitzen, kein Baum, sondern ein Zelt; als wäre ein Kreidekreis um sie herum gezogen. Innerhalb dieses Kreises sind sie unsichtbar.

Der Weltraum also, sagt er. Mit Gräbern und Jungfrauen und Wölfen – aber auf Raten, einverstanden?

Auf Raten?

Du weißt schon, so wie man Möbel kauft.

Sie lacht.

Nein, ich meine es ernst. Man muss sich bei so was Zeit lassen. Es könnte Tage dauern. Wir werden uns wiedersehen müssen.

Sie zögert. In Ordnung, sagt sie. Wenn ich kann. Wenn ich es einrichten kann.

Gut, sagt er. Jetzt muss ich nachdenken. Er achtet darauf, dass seine Stimme beiläufig klingt. Zu viel Dringlichkeit könnte sie verschrecken.

Auf dem Planeten – lass mich überlegen. Nicht Saturn, der ist zu nah. Auf dem Planeten Zykron, der in einer anderen Dimension als der unseren angesiedelt ist, gibt es eine von Geröll übersäte Ebene. Nördlich davon liegt der Ozean, der eine violette Farbe hat. Westlich liegt eine Bergkette, von der es heißt, dass sie nach Sonnenuntergang von den untoten, räuberischen Bewohnerinnen der zerfallenen Gräber unsicher gemacht wird, die sich dort befinden. Du siehst, ich hab die Gräber gleich auf Anhieb eingebaut.

Sehr gewissenhaft von dir, sagt sie.

Ich halte mich immer an meine Abmachungen. Im Süden liegt eine sengende Einöde und im Osten gibt es mehrere tiefe Täler, die einst vielleicht Flussläufe waren.

Gibt es auch Kanäle, wie auf dem Mars?

Natürlich. Kanäle und alle möglichen Sachen. Zahlreiche Spuren einer alten und einst hoch entwickelten Zivilisation, obwohl die Region jetzt nur noch spärlich von herumstreifenden Gruppen primitiver Nomaden bevölkert ist. In der Mitte der Ebene erhebt sich ein großer Steinhügel. Das Land ist trocken und nur mit ein paar kümmerlichen Sträuchern bewachsen. Es ist nicht direkt eine Wüste, aber doch annähernd. Ist noch ein Käsesandwich da?

Sie kramt in der Papiertüte. Nein, sagt sie, nur noch ein hart gekochtes Ei. Sie war noch nie so glücklich. Alles ist wieder neu, alles wartet darauf, neu inszeniert zu werden.

Herz, was begehrst du mehr? sagt er. Eine Flasche Limonade, ein hart gekochtes Ei und du. Er rollt das Ei zwischen den Handflächen, zerbricht die Schale und pellt sie ab. Sie beobachtet seinen Mund, seinen Kiefer, seine Zähne.

An meiner Seite, singend im Park, sagt sie. Hier ist Salz. Danke. Du hast wirklich an alles gedacht.

Niemand erhebt Anspruch auf die ausgedörrte Ebene, fährt er fort. Oder vielmehr, fünf verschiedene Stämme tun es, aber keiner von ihnen ist stark genug, die anderen zu vernichten. Alle ziehen sie von Zeit zu Zeit an diesem Steinhügel vorbei, entweder um ihre Thulks zu weiden – blaue, schafähnliche, bösartige Kreaturen – oder um auf ihren Packtieren, einer Art dreiäugigem Kamel, Waren von nur geringem Wert zu transportieren.

Der Steinhügel hat, in ihren verschiedenen Sprachen, verschiedene Namen: Reich der fliegenden Schlangen, Berg aus Geröll, Wohnstatt der heulenden Mütter, Pforte des Vergessens, Grube der abgenagten Knochen. Jeder Stamm erzählt eine ähnliche Geschichte darüber. Unter den Steinen, sagen sie, liegt ein König begraben – ein König ohne Namen. Und nicht nur der König, sondern auch die Überreste der prachtvollen Stadt, über die er einst herrschte. Die Stadt wurde in einer Schlacht zerstört, und der König wurde gefangen genommen und zum Zeichen des Triumphs an einer Dattelpalme aufgehängt. Bei Mondaufgang wurde er abgeschnitten und begraben, und die Steine wurden aufgehäuft, um die Stelle zu markieren. Was die anderen Bewohner der Stadt angeht, so wurden sie allesamt abgeschlachtet. Massakriert – Männer, Frauen, Kinder, Babys, sogar die Tiere. Enthauptet, in Stücke gehackt. Nichts Lebendiges wurde verschont.

Das ist ja schrecklich.

Wenn du egal wo eine Schaufel in die Erde stößt, kommt fast überall irgendeine Schrecklichkeit zu Tage. Gut für mein Metier. Gebeine sind unser Lebenselixier: ohne sie gäbe es keine Geschichten. Ist noch Limonade da?

Nein, sagt sie. Wir haben alles ausgetrunken. Erzähl weiter.

Der wirkliche Name der Stadt wurde von den Eroberern aus der Erinnerung gelöscht, und deshalb – sagen die Geschichtenerzähler – ist der Ort nur unter dem Namen seiner eigenen Vernichtung bekannt. Der Steinhügel verkörpert folglich sowohl einen Akt der bewussten Erinnerung als auch einen Akt des bewussten Vergessens. In jener Region liebt man alles, was paradox ist. Jeder der fünf Stämme behauptet, der siegreiche Angreifer gewesen zu sein. Jeder erinnert sich mit Vergnügen an das Gemetzel. Jeder glaubt, es sei von ihrem jeweiligen Gott als gerechte Strafe angeordnet worden, wegen der unheiligen Praktiken, die in der Stadt gang und gäbe waren. Alles Böse muss mit Blut reingewaschen werden, sagen sie. An jenem Tag floss das Blut in Strömen, also muss hinterher alles sehr sauber gewesen sein.

Jeder Hirte oder Händler, der vorbeikommt, legt einen weiteren Stein auf den Hügel. Es ist ein alter Brauch. Man tut es zur Erinnerung an die Toten, die eigenen Toten; aber da niemand mit Bestimmtheit weiß, wer die Toten unter dem Steinhügel sind, hinterlegen alle ihre Steine – für alle Fälle. Sie sagen, dass was immer sich dort abgespielt habe, der Wille Gottes gewesen sein müsse. Indem sie einen Stein ablegen, ehren sie seinen Willen.

Es gibt aber noch eine andere Version der Geschichte, derzufolge die Stadt keineswegs wirklich zerstört wurde. Stattdessen sei sie durch einen Zauber, der nur dem König bekannt war, mitsamt ihren Bewohnern hinwegtransportiert und durch Phantome ersetzt worden, und nur diese Phantome seien verbrannt und abgeschlachtet worden. Die wirkliche Stadt wurde winzig klein geschrumpft und in eine Höhle unter dem großen Steinhügel verlagert. Alles, was sich einst in ihr befand, ist immer noch da, einschließlich der Paläste und der Gärten voller Bäume und Blumen; einschließlich der Menschen, die jetzt nicht größer sind als Ameisen, aber wie zuvor ihr Leben leben – ihre winzigen Kleider tragen, ihre winzigen Bankette feiern, ihre winzigen Geschichten erzählen und ihre winzigen Lieder singen.

Der König weiß, was geschah, und es bereitet ihm Albträume, aber die anderen sind völlig ahnungslos. Sie wissen nicht, dass sie so klein geworden sind. Sie wissen nicht, dass sie angeblich tot sind. Sie wissen nicht einmal, dass sie gerettet wurden. Für sie sieht die Decke aus Steinen wie ein Himmel aus: Licht fällt durch ein winziges Loch zwischen den Steinen, und sie denken, dass es die...

Erscheint lt. Verlag 3.7.2017
Übersetzer Brigitte Walitzek
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Autorschaft • Depression • Dreißigerjahre • Familiensaga • Friedenspreis des Deutschen Buchhandels • Kanada • Knopffabrik • Liebe • Manuskript • Schwestern • Selbstmord
ISBN-10 3-492-97744-8 / 3492977448
ISBN-13 978-3-492-97744-9 / 9783492977449
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