Phantome (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
320 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1647-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Phantome -  Robert Prosser
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Das Panorama des Jugoslawienkriegs in Phantome spiegelt die Problematik der aktuellen Flüchtlingskrise Robert Prosser schildert intensiv ein fast vergessenes Kapitel der jüngeren Geschichte: Der Jugoslawienkrieg, der die letzte große innereuropäische Flüchtlingswelle in den 1990ern auslöste, dessen drastische Verbrechen bis heute nicht aufgearbeitet sind und weit in die Generation der Kinder der Geflüchteten nachwirken. Anisa flüchtet 1992 aus Sarajewo nach Wien. In den beginnenden ethnischen Säuberungen hat sie ihren Vater zurückgelassen - und wird ihn nie wiedersehen. Auch von ihrem Freund Jovan, einem bosnischen Serben, der zum Militärdienst eingezogen wurde, konnte sie sich nicht verabschieden. Jahrzehnte später reist Anisas Tochter Sara auf den Spuren ihrer Mutter nach Bosnien-Herzegowina.

b044 refname='BiographicalNote'>

Robert Prosser, geboren 1983 in Alpbach/Tirol, lebt dort und in Wien. Er studierte Komparatistik und Kultur- und Sozialanthropologie und verbrachte längere Zeit in Asien, in der arabischen Welt und in England. Er ist der österreichische Kurator von Babelsprech zur Förderung junger deutschsprachiger Dichtung. Robert Prosser wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet: Land-Niederösterreich-Literaturpreis und Publikumspreis Wartholz 2016, Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung 2014, Aufenthaltsstipendium am Literarischen Colloquium Berlin 2014, Reinhard-Priessnitz-Preis 2014. 2013 erschien sein Debüt Geister und Tattoos.

1. Der erste Feind


Außer diesem Schritt und dem nächsten zählt nicht viel, in der Bahnhofshalle vorbei an Trafik und Blumenladen, die mattweiß gefliesten Treppen hoch. Zürich Bukarest Berlin steht auf der großen Anzeigetafel. Mit einem Rasseln, das Anisa an Zähneklappern erinnert, lösen sich die Buchstaben und Zahlen in einen weißen Zeichenschleier, fügen sich zu neuen Orten und Zeiten. Sie geht hinaus zu den Bahnsteigen, in die flirrende, drückende Sommerhitze, und kann ein Grinsen nicht unterdrücken: Die Stadt, in der das Flüchtlingslager liegt, und Bécs, aus dem Geschichtsunterricht geläufig, sind ein und dasselbe. Beim Anblick eines Werbeplakats neben dem Kartenschalter ist es ihr schlagartig bewusst geworden: Das also ist Wien.

Draußen startbereit summende Garnituren, fremde Sprachen, Abschiedswinken. Unter einer Sitzbank liegt eine Nagelfeile. Anisa kniet sich hin, steckt sie schnell ein. Hinter Waggonfenstern Fahrgäste, die sich auf gepolsterten Sitzen ausstrecken, Bierdosen oder Wasserflaschen öffnen. Ein Schaffner vergleicht die Zeit an seinem Armgelenk mit jener der runden Uhren über den Köpfen. Anisa schlendert weiter bis zum Bahnsteigende, lehnt sich an das Schild, das vorm Weitergehen warnt. Entfernt die Umrisse von Gebäuden, Laternenpfählen. Überkreuzte Gleise. Die Rücklichter eines abfahrenden Zuges glimmen rot, fügen sich ein ins von Signalen punktierte Schienenfeld. Das schrille Bremsen rangierter Güterwaggons ist zu hören; ein Geräusch, das bis vor kurzem, während eines Spazierganges durch Sarajevo, etwas in ihr bewirkt hätte. Ein Weiterwollen, woandershin. Wenn die Arbeit im Café nebensächlich war, der Tag stattdessen erfüllt von Erwartung, der Lust auf Reisen, Abenteuer. Momente, deren ruhige, zugegeben langweilige Abfolge jetzt, im Nachhinein, eine Art von Glück ist. Eine Straßenbahnfahrt beispielsweise. Das träge Rattern, die Gesprächsfetzen und ruckelnd anvisierten Haltestellen, geöffnete Schiebetüren und Rufe, Gelächter. Jovans Hand auf ihrem Oberschenkel. Beide sahen durch die Hinterscheibe auf die zurückgelegte Allee. Die Fahrspur ein dunkelgrün flackernder Tunnel aus Blattwerk; der Himmel in den Fenstern naher Häuser wie Scherben aus Wolke und Blau.

Die Faszination lag im Eingeständnis, dass der Glaube, den anderen zu kennen, eine Täuschung ist. In Sarajevo fuhren sie mit der Straßenbahn zum Zoo, und während des Schlenderns von Gehege zu Gehege, von Affen zu Löwen, von Lamas und Bären zur Voliere, wurde Jovan fassbarer und rätselhafter zugleich.

In Arbeitspausen saß sie gern am Platz vor der orthodoxen Kirche und sah den alten Männern zu, die dort Schach spielten; ihr gefiel die Vorstellung, dass die Beziehung mit Jovan einem leeren Schachbrett ähnelte, für das sie mit jeder Beobachtung eine Spielfigur erhielt. Ein Ausflug in den Zoo beispielsweise könnte einen Turm einbringen, und einen Springer gab es für Kinobesuche, wenn Jovans Gesicht im Schein der Projektionen aufglomm. Sie mochte es zu beobachten, in wie viele Facetten er sich während der Filmvorführungen spaltete; sein unterdrücktes Kichern oder erstauntes Kopfschütteln bewiesen ihr, dass es Verborgenes in ihm gab, das sie gleichsam begreifen wollte. Im Zoo bestaunte sie die Fremdheit im Wesen Jovans, während er sich im Wundern über exotische Tiere verlor. In einem Käfig lungerte auf einem gefällten, das Gehege durchschneidenden Baumstamm ein Schneeleopard. Das Tier sah auf, da Jovan näher trat und die Hand durch das Gitter steckte. Anisa stand neugierig abseits, wie mit dem Schneeleoparden übereingekommen, ihrem Freund eine Falle zu stellen. Den langen Schweif durch die Luft geschwungen, spannte die Raubkatze ihren Leib und sprang gegen die Absperrung, welche unterm Aufprall erzitterte; gelbliche Fangzähne und Speichelfäden im geöffneten Maul, die linke Tatze erhoben, um Jovans Gesicht zu zerkratzen, der in einer Mischung aus Schreien und Lachen zurückwich, erregt, den Schneeleoparden provoziert zu haben.

Ein Pfiff lässt sie aufhorchen. Sie wendet sich um, erspäht neben einem Gepäckwagen eine hagere Gestalt, die ihr winkt, die Augen beschattend, erkennt sie Emir. Offenbar hat er die Frau gefunden, die am Bahngelände Memphis-Zigaretten aus einem Koffer verkauft, die billigsten Wiens, kursiert im Lager das Gerücht.

*

Auf den Sommer möchte Jovan fluchen und die Schaufel weit von sich schleudern, er will weg von diesem mit Stechmücken verseuchten, klebrig schwülen Landstrich im Norden Bosniens. Doch hört er hinter sich den knirschenden Schritt des Korporals, macht er dasselbe wie immer: Lippen fest aufeinander und den Ärger runterschlucken. Er sticht die Schaufel ins Gras, sticht in die Erde. Auch die Schaufeln neben ihm rammen tiefer, stoßen auf Steine, Wurzeln. Mit dem Fuß drückt er nach, stochert, rüttelt am Stiel. Schweiß brennt in den Augen. Zehn Mann wurden abkommandiert, einen Schützengraben aus­zuheben. Der Rhythmus von dumpf kratzenden Schaufelblättern und rieselnder Erde wirkt einschläfernd. Besser nicht zu viel denken, sich nicht um den Sonnenbrand scheren. Zehnmal Erde scheppernd in die Schubkarren geladen.

Der Korporal geht vor den hüfttief im Feld versunkenen Soldaten auf und ab und zwirbelt die Spitzen seines Schnauzers. Zu hypnotisierendem Klang mischen sich unterdrückte Flüche und das Zirpen vom Wald her. Holunder, Laubbäume, bis ans Ufer der Save. Von dort ist es nicht weit, weiß Jovan, nicht nach Kroatien, nicht zu den Soldaten auf der anderen Flussseite. Ob es den erneuten Versuch wert ist, dem Fahrer eines Lastwagens, der unterwegs ist in Richtung Südosten, einen Brief zuzustecken? Wieder ein Kuvert, das vielleicht Anisa erreicht oder zumindest ihr Dorf oder eins in der Nachbarschaft und dort den nächsten Boten.

*

Im zum Lager umfunktionierten Turnsaal drückt Anisa sich vorm Putzdienst. Sie isst dreimal täglich die Fertiggerichte, immer in Gruppe eins, die Kinder und Frauen umfasst. Dreimal täglich geht sie raus zum weißen Baucontainer, nimmt das Tablett entgegen, kehrt zurück zu ihrem Bett oder hockt sich an die Mauer, zieht die Alufolie vom Plastikbehälter und stochert in Nudeln oder Reis.

Den Alltag organisieren die Flüchtlinge größtenteils selbst: Eine Germanistikstudentin aus Sarajevo hat für nächste Woche einen Sprachkurs geplant, der allen Interessenten, egal welchen Alters, offensteht. Aus der Lagerkassa sollen Farben und Pinsel bezahlt werden, um mit den Kindern ein Stück der Außenwand zu bemalen; Arielle die Meerjungfrau und Mickey Mouse stehen auf der Wunschliste weit oben. Die Lagerkassa speist sich aus verschiedenen Aufträgen, ein Unternehmen in der Nachbarschaft bestellte etwa für eine Betriebsfeier ein Dutzend Kilo Ćevapi und spendete einige Küchenutensilien gleich mit. Die Unterkunft kann zu jeder Tages- und Nachtzeit verlassen werden, wer rein möchte, muss dem Wachmann am Tor den rosaroten Ausweis der Fremdenpolizei vorzeigen. Es gibt zwei Fußballmannschaften, gespielt wird draußen auf dem Parkplatz, an dessen Rand frühmorgens Österreicher warten, die Tagelöhner suchen. Frauen für die Reinigungsfirmen, Männer für den Bau und alle zusammen für die Weinberge außerhalb Wiens.

Meist beginnen die Tage ähnlich. Anisa zählt ihren Besitz: Zahnbürste, Zahnpaste, Nivea-Creme. Blaues T-Shirt, ein roter Anorak. Eine Jeans, Anfang des Jahres in Sarajevo gekauft. Die Turnschuhe mit Klettverschluss, was bescheuert aussieht, aber trotzdem: neue Schuhe; aus einem Caritas-Sack geholt wie die Bluse mit aufgedruckten violetten Blüten und die schwarze Jogginghose. Ein Heft, ein Kugelschreiber, ein Bleistift. Unterwäsche. Das rosa Ausweiskärtchen, das sie von der Fremdenpolizei erhalten hat. Ein Stadtplan, am Westbahnhof aus einer Ablage mit Info-Material gezogen. Der Haarreif, ein Geschenk einer Sozialarbeiterin. Brauchst sicher bald, meinte sie und strich Anisa über die schwarzen Stoppeln, die auf ihrem glattrasierten Schädel zu wachsen begannen. Ein Plastiksack, darin Taschenspiegel, Postkarten, Zündhölzer und, als neuester Fund, die Nagelfeile. Wieder und wieder sortiert Anisa ihre Habseligkeiten, ordnet und zählt sie. Faltet den Stadtplan auseinander, fährt mit der Fingerspitze Straßenverläufe nach.

Sie meidet die rechte Hallenwand. Die über Klettersprossen gehängten Hosen und Röcke riechen nach Heu, als wären ihre Besitzer direkt von der Feldarbeit vertrieben worden, ein Geruch, der in Anisa, muss sie daran vorbei, die Wiese hinterm Elternhaus wachruft.

Links von ihr schläft Azra, neben ihr Rahim, Azras siebzehnjähriger Sohn. Mit diesen beiden ist Anisa nach Wien geflohen. Azra stürzt sich auf die neuen Aufgaben, die in der Turnhalle warten, gerade versucht sie, eine funktionierende Gemeinschaftsküche auf die Beine zu stellen. Anisa bewundert den Elan der zierlichen Frau, deren Gesicht zu einer auffälligen Härte verzogen wird, wenn sie von ihrem Mann Mahir erzählt, der noch in Bosnien festsitzt, oder von Nenad, ihrem ältesten Sohn, der in der Jugoslawischen Volksarmee dient und von dem seit Kriegsbeginn jegliche Spur fehlt. Es ist eine willkommene Ablenkung für Anisa, Azra und Rahim zu beobachten, wie sie nicht ohne einander können und bei jeder Gelegenheit aneinandergeraten. Azra schilt ihren Jungen, nicht so viel Zeit in der Dusche zu verbringen: Deine Pickel gehen schon von alleine weg, wasch dich nicht so oft, das macht die Haut spröde. Rahim verdreht die Augen, zieht demonstrativ einen Schokoriegel hervor, und sogleich springt Azra darauf an: Wie willst du endlich abnehmen, Junge, wie, wenn du die ganze Zeit Süßes isst?

Das Bett rechts von Anisa gehört der neunzehnjährigen Jasmin, die mitsamt Eltern und Geschwistern aus einem Dorf nahe der Drina...

Erscheint lt. Verlag 15.8.2017
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Außer sich • Belgrad • Bosniaken • Bosnien • Bosnienkrieg • Buch 2017 • Buchpreis • Clemens Meyer • Das Floß der Medusa • der Club • Deserteur • Deutscher Buchpreis • Die Hauptstadt • evangelio • Feridun Zaimoglu • Flüchtling • Flüchtlinge • Franzobel • Gott ist nicht schüchtern • graff • Graffiti • Immigrant • Immigration • Jakob Nolte • Jonas Lüscher • Jugoslawien • Jugoslawienkrieg • Kraft • Lichter als der Tag • Liebe • Longlist • Longlist Deutscher Buchpreis 2017 • Massaker von Srebrenica • Migrant • Migration • Militärdienst • Mirko Bonné • Muslime • Natascha Wodin • Neu 2017 • Neuerscheinung 2017 • Neuerscheinungen 2017 • Neues Leben • Nominiert • Nominierung • Olga Grjasnowa • Österreich • Robert Menasse • Sarajevo • Sasa Stanisic • Sasha Marianna Salzmann • Schlafende Sonne • Schreckliche Gewalten • Serben • Sie kam aus Mariupol • sprayen • Sprayer • Srebrenica • Subkultur • Sven Regener • Takis Würger • Thomas Lehr • Tod • Verrat • Vertreibung • Vertriebene • Wien • Wiener Straße
ISBN-10 3-8437-1647-1 / 3843716471
ISBN-13 978-3-8437-1647-5 / 9783843716475
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 631 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Anne Freytag

eBook Download (2023)
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
14,99
Roman. Aus den Memoiren der Herbjörg María Björnsson

von Hallgrímur Helgason

eBook Download (2011)
Tropen (Verlag)
9,99
Band 1: Lebe den Moment

von Elenay Christine van Lind

eBook Download (2023)
Buchschmiede von Dataform Media GmbH (Verlag)
9,49