Die Stadt des Zaren (eBook)
540 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1611-6 (ISBN)
Martina Sahler lässt sich bei der Gestaltung ihres eigenen Gartens am liebsten von den englischen Botanikern inspirieren und verbringt im Frühjahr, Sommer und Herbst viel Zeit mit der Recherche in England, bevorzugt in Sissinghurst und Kew Gardens. Mit ihren bisherigen historischen Serien hat sie eine begeisterte Leserschaft gewonnen. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Köln.
Martina Sahler erfüllt sich mit diesem Roman den persönlichen Traum, die Gründungsgeschichte ihrer Lieblingsstadt Sankt Petersburg zu erzählen. Mit ihren bisherigen historischen Serien hat sie viele begeisterte Leser gewonnen. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Köln.
Prolog
An der Newamündung, 16. Mai 1703
Seit Sonnenaufgang kreiste der Adler über Ingermanland. Er schwebte über den Sümpfen, den Birkenwäldern und dem Wasser der Newa.
Vielleicht wollte er auskundschaften, was sich die Menschen dabei dachten, dieses unwirtliche Gebiet zwischen dem Ladogasee und dem Finnischen Meerbusen zu betreten.
Vielleicht wollte er auskundschaften, ob sie sich anschickten, die Herrschaft über die Natur an sich zu reißen.
Zar Peter stand dicht am Flussufer, wo eine Fregatte und Ruderboote auf ihn und seine Gefolgschaft warteten. Den Blick hielt er nach oben gerichtet.
Das Morgenlicht schluckte alle Farben und gab der Landschaft einen silbernen Anstrich. Die Nebel, die früh über der Newa wallten, lösten sich auf. Ein frischer Wind von der Ostsee trieb den Schleier über Land und Moor hinweg, in die Birken und Föhren drüben auf finnischer Erde, wo sie zerfaserten.
Vor dem Himmelsblau hoben sich die Schwingen des Greifvogels klar umrissen ab. Vermutlich lauerte er auf einen der Feldhasen, die auf der Insel gegenüber herumsprangen und mit aufgerichteten Ohren lauschten.
Nun, sollte er sich eine letzte Fleischmahlzeit greifen, dachte der Zar. Die Hasen würden flüchten, sobald die Soldaten auf dem Eiland mit Hämmern und Kränen, Stein und Holz eine Festung errichteten. Ein Kirchturm sollte aufragen und Seefahrern aus allen Ländern der Welt signalisieren: Hier haben die Russen ihr Tor zum Westen.
Die Luft schmeckte noch nicht nach der Weichheit des Sommers, sie war wie Kristall, kühl und klar. Zar Peter nahm einen tiefen Atemzug. Stolz und Vorfreude erfüllten ihn.
Nach einer jahrhundertelangen Fehde um diesen uralten Wasserweg zur Ostsee und der Kriegserklärung des Zaren im August 1700 an den Schwedenkönig hatten die Nordmänner die russische Kriegsmacht in diesem Frühjahr unterschätzt, als sich die Regimenter des Zaren aufmachten, die baltischen Provinzen Ingermanland und Karelien an der Grenze zu Finnland zu erobern. Nicht irgendein Land, das anderen gehörte, sondern das Erbe ihrer Väter. Fürst Alexander Newski hatte das Gebiet vor fast fünfhundert Jahren von den Schweden errungen.
Ingermanland zog sich als schmaler Streifen an der Südküste des Finnischen Meerbusens von der Newa bis zur Festungsstadt Narwa. Karelien war ein viel größeres, von Wäldern und Seen bedecktes Landstück mit felsiger Küste zwischen der Ostseebucht und dem Ladogasee.
In den vergangenen Monaten hatte der Zar sein Heer aufgestockt und die Kirchenglocken zahlreicher Städte und Klöster einschmelzen lassen, um daraus Kanonen, Mörser und Haubitzen zu gießen. Dank dieser Aufrüstung hatten sie zunächst Nöteborg erobert und der strategisch wichtigen Zitadelle den deutschen Namen Schlüsselburg gegeben. Was für ein Triumph!
In Moskau ließen sie sich für diesen Kriegserfolg feiern, aber mehr noch als seine Landsleute bejubelten den Zaren die Ausländer in der Moskauer Vorstadt. Ihm zu Ehren schmückten sie Triumphbögen, legten die Gassen mit Teppichen aus und warfen aus den Fenstern Lorbeer- und Blumenkränze auf ihn und seine tapferen Krieger.
Zum nächsten Ziel hatten sie die Schanze von Nyen erklärt, die genau wie Schlüsselburg den Ausfluss der Newa aus dem Ladogasee beherrschte. Die Schweden kapitulierten nach achttägiger Belagerung und stundenlangem Beschuss. Vor zwei Tagen war Feldmarschall Scheremetew siegreich in die Festung eingezogen. Die feindlichen Kämpfer, die sie dabei gefangengenommen hatten, würden ihren Teil dazu beitragen, dass im Newadelta die größte und schönste Stadt entstand, die die Welt je gesehen hatte: die neue russische Hauptstadt. Mit Fug und Recht war er, Peter Alexejewitsch Romanow, zum Meister der Newa aufgestiegen.
Nach der Einnahme der Nyenschanz hatten sie darüber beratschlagt, ob sie diese Zitadelle ausbauen sollten. Doch sie war klein und marode und lag weit von der Ostsee entfernt. Die Haseninsel, von der Newa umrahmt, bot sich als der bessere Ort für eine Verteidigungsanlage an.
Zar Peter würde keine Zeit verlieren, genau hier den Grundstein für eine Stadt zu legen, in der die russische Seemacht erstarken konnte.
Der Krieg gegen die Schweden dauerte an, aber die Eroberung der schwedischen Festungen, die wie ein Ring das offene Meer versperrt hatten, öffnete ihnen den Zugang zur Ostsee – bis vor wenigen Tagen nur ein schwedischer Binnensee. Den Schweden gehörte alles: von Riga in Liefland über Reval in Estland bis zu den Weiten von Finnland, das an Ingermanland grenzte.
Nun würden die Russen das eroberte Newadelta sichern und nutzbar machen. Natürlich wusste Peter, welchen Kraftakt dies bedeutete, aber er zweifelte nicht am Erfolg seiner Pläne.
»Sankt Pieterburch? Hast du dir das sorgsam überlegt?«
Peter wandte sich Fürst Alexander Menschikow zu. Wie alle anderen Männer musste auch sein bester Freund den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzuschauen. Der Zar überragte sie alle.
Menschikows grüner Samtmantel im europäischen Stil betonte seine Schultern, die Kniehose und die weißen Strümpfe die schlanke Gestalt. Purpurne Adern von zu viel Wodka durchzogen sein Gesicht mit dem flachsblonden Schnurrbart. Das spöttische Lächeln, bei dem er nur einen Mundwinkel hob, hatte er sich aus seiner Jugend bewahrt. Es blitzte in seinen Augen, als er seinen Weggefährten angrinste.
Peter verpasste ihm einen Schlag auf die Schulter. »Wann habe ich mir jemals etwas nicht sorgsam überlegt?« Sein Lachen klang unbeschwert und erinnerte an eine Jugend, in der sich das Leben und das Regieren wie ein verrücktes Abenteuer angefühlt hatten.
»Willst du tatsächlich wissen, wie oft in deinem Leben du aus einer Laune heraus Entscheidungen getroffen hast? Das könnte eine längere Geschichte werden. Mach dich darauf gefasst, dass sich unsere Abfahrt zur Haseninsel um Stunden verzögert«, gab Menschikow zurück.
Nur wenige Menschen wagten es, in diesem Ton mit dem Zaren zu reden. Aber Peter Alexejewitsch schätzte einen Freund wie Menschikow, der kein Blatt vor den Mund nahm. Sicher, er war ein Gauner und stets auf seinen Vorteil bedacht, aber er erwies sich auch immer wieder als einer der Fleißigsten und der Klügsten. Ihn aus der Gefolgschaft zu werfen wäre ein Leichtes, ihn hinzurichten ebenso. Aber welche Männer blieben ihm dann? Talentlose, unfähige Halunken. Darüber hinaus würde Menschikow jederzeit für den Zaren seinen Kopf riskieren. Wog allein diese Eigenschaft nicht jede Form von Habsucht auf?
»Gib dir keine Mühe, mich zu erzürnen, mein Freund. Ich weiß, dass es vielleicht die größte Tat meines Lebens sein wird, Sankt Pieterburch zu erschaffen. Ein schönes blühendes Kind unter Europas Greisen, herausragend durch seine Pracht und die herrlichsten Anlagen.«
»Den Ruf der Stadt willst du in die Geschichte einschreiben, indem du ihr deinen Namen gibst? Warum dann auf Niederländisch? Verleugnest du dein russisches Vaterland?« Menschikow verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte den Zaren von der Seite an.
Der Regent runzelte die Stirn. »Es soll mir recht sein, wenn die Leute glauben, dass die Stadt nach mir benannt wird. Obwohl es nicht der Wahrheit entspricht.«
Schutzpatron der Stadt sollte, genau wie für Rom, der Apostel Petrus werden. Ihm wurde sie geweiht, in seinem Namen erschufen sie die Metropole.
»Pieterburch wird für die Ewigkeit gebaut werden«, fuhr der Zar fort. »Und ja, an die Niederlande darf unsere Stadt durchaus erinnern, von mir aus an Amsterdam. Es gibt schlechtere Vorbilder als die Holländer, die allein durch ihren Fortschrittsglauben ihr Land zur Blüte gebracht haben. Wir haben es selbst erlebt, mein Lieber. In Pieterburch wirst du als erster Generalgouverneur ein Auge darauf haben, dass sich die Architekten und Bauherren an die exakten Pläne halten. Sie sollen mit Sinn und Verstand Straßen anlegen und Gemäuer hochziehen. Ich will eine Ordnung, verstehst du?«
Menschikows Miene wirkte auf einmal ungewohnt ernst. »Ich frage mich nur, wie du das in diesem Sumpfgebiet schaffen willst. Quellwasser haben wir noch nicht entdeckt, das Wetter ist launisch, es gibt keine Verbindung zu bewohnten Landstrichen. Und wir müssen uns nach der Beschaffenheit des Bodens richten. Morast und Schlick werden uns an vielen Stellen einen Strich durch die Pläne machen.«
Die Newa machte hier eine Schleife nach Norden und floss dann nach Westen ins Meer. Auf der letzten Strecke teilte sie sich in vier Mündungsarme mit zahlreichen Querverbindungen, so dass sich die geplante Stadt aus einem Dutzend Inseln zusammensetzen würde. Die Haseninsel bildete den Mittelpunkt und Kern der Landschaft.
»Jammere nicht, das steht dir nicht«, widersprach der Zar. »Wir werden Herr über dieses Land werden. Wir werden Kanäle graben wie die Holländer in Amsterdam, und wir werden den Boden festigen, wo immer es nötig ist.«
Menschikow nickte ein paar Mal sinnend. »Wir werden gewaltige Anstrengungen unternehmen müssen. Wir und Tausende unserer Landsmänner.«
»Ich weiß, mein Freund, ich weiß.« Peter hob den Arm, um seiner Gefolgschaft, die sich hinter den beiden mächtigsten Männern des Landes versammelte, das Zeichen zum Aufbruch zu geben. »Unser Lohn wird eine Stadt sein, die dem Westen zugewandt ist. Eine Metropole, die in einer Buntheit von Gesichtern, Sprachen, Gewändern und Kulturen erstrahlen wird.«
Menschikow wiegte den Kopf und murmelte vor sich hin: »Vielleicht die erdachteste Stadt der Welt.«
Säbel klirrten, Stiefel stampften, als zweihundert Männer zum Ufer aufbrachen. Die Fregatte wartete auf den...
Erscheint lt. Verlag | 11.8.2017 |
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Reihe/Serie | Sankt-Petersburg-Roman |
Sankt-Petersburg-Roman | |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Buch 2017 • Coppenbrügge • Der Jahrhundertsturm • Der Kaffeedieb • deutsche Einwanderer • Deutsche in Russland • Edward Rutherfurd • Historischer Roman • Im Rausch der Freiheit • Jeffrey Archer • Ken Follett • Neu 2017 • Neuerscheinung 2017 • Neuerscheinungen 2017 • Petersburg • Rebecca Gablé • Richard Dübell • Sankt Petersburg • Schmöker • St. Petersburg • Zar Peter • Zar und Zimmermann |
ISBN-10 | 3-8437-1611-0 / 3843716110 |
ISBN-13 | 978-3-8437-1611-6 / 9783843716116 |
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