Die Verlassenen (eBook)
140 Seiten
Wieser Verlag
978-3-99047-073-2 (ISBN)
Stanislav Struhar, 1964 in Gottwaldov (heute Zlín) geboren, versagte sich dem Anpassungsdruck des tschechoslowakischen Regimes in den 1980er Jahren. 1988 floh er schließlich mit seiner Frau nach Österreich. Sein bisheriges literarisches Schaffen wurde durch Stipendien unterstützt, und er erhielt zahlreiche Anerkennungen. Stanislav Struhar lebt heute in Wien. Zuletzt bei Wieser: Fremde Frauen (zwei Erzählungen, 2013), Das Gewicht des Lichts (Roman, 2014), Die vertrauten Sterne der Heimat (Roman, 2015), Farben der Vergangenheit (Erzählungen, 2016, erschien soeben auch auf Tschechisch).
Stanislav Struhar, 1964 in Gottwaldov (heute Zlín) geboren, versagte sich dem Anpassungsdruck des tschechoslowakischen Regimes in den 1980er Jahren. 1988 floh er schließlich mit seiner Frau nach Österreich. Sein bisheriges literarisches Schaffen wurde durch Stipendien unterstützt, und er erhielt zahlreiche Anerkennungen. Stanislav Struhar lebt heute in Wien. Zuletzt bei Wieser: Fremde Frauen (zwei Erzählungen, 2013), Das Gewicht des Lichts (Roman, 2014), Die vertrauten Sterne der Heimat (Roman, 2015), Farben der Vergangenheit (Erzählungen, 2016, erschien soeben auch auf Tschechisch).
1
Rein und tiefblau strahlte der Himmel, schon war der Frühling warm, sonnendurchflutet jeder Tag, und die Farben der Blüten schmückten das ganze Land. Langsam öffnete Gabriel das Fenster, sah hinaus.
»Wann wirst du endlich gehen?«, fragte Anja. Gleich, antwortete er, und sie trat ins Badezimmer. Er wartete, bis sie die Tür schloss, dann nahm er die alte Fotografie aus seiner Geldbörse. Ein Lächeln glitt über seine Lippen, als er sah, wie er neben seinem Vater stand, klein und zart, die blonden Haare wirr, Augen voll Freude. Es war ein Weihnachtstag gewesen, jener Tag, an dem sein Vater ihn das letzte Mal besucht hatte. Nach vier Monaten war sein Vater damals gekommen, ganz unerwartet und überraschend war er erschienen, verabschiedete sich jedoch bald und ging, kam nicht mehr.
Er steckte die Fotografie zurück in die Geldbörse, schloss das Fenster und machte sich auf den Weg. Schnell kam er aus dem Haus, verließ dann die Gasse, und vor einem Haus an der Hauptstraße verlangsamte er seine Schritte, blieb stehen. Die Haustür stand offen, das mangelhaft beschriftete Klingeltableau hing schief nur an ein paar Drähten, auch der Name seines Vaters fehlte. Das Treppenhaus war verlassen, kühl und schattenreich, in sanfte Dunkelheit getaucht, so seltsam still.
Sein Herz schlug hoch, als er die Treppe hinaufstieg, langsam an die Wohnungstür trat. Überrascht las er den Namen, den italienischen Namen, der an der Tür stand, dann steckte er die Hand in die Hosentasche, nahm den Zettel mit Vaters Adresse heraus. Leise klopfte er an, klopfte dann mit Nachdruck, trat einen Schritt zurück und sah auf den Boden, als er plötzlich Geräusche vernahm. Die Tür ging auf, und ein dunkelhaariger Mann erschien. Es sei wohl ein Irrtum, sagte Gabriel, auf Italienisch, und sogleich fügte er die Erklärung hinzu, er habe gehofft, seinen Vater hier anzutreffen, habe geglaubt, sein Vater würde hier wohnen. Er reichte dem Mann den Zettel mit Vaters Adresse, und eine Frau kam zur Tür, schlank und hübsch, mit schwarzen lockigen Haaren, deutlich jünger als der Mann.
»Es ist schon lange her, dass meine Mutter diese Adresse bekommen hat«, bemerkte er noch.
»Also ich weiß nur«, sagte die Frau, »dass früher hier eine junge Dame gewohnt hat.«
»Das ist er«, sagte Gabriel, die alte Fotografie in der Hand.
»Den habe ich nie gesehen«, murmelte der Mann.
»Ich auch nicht«, sagte die Frau. »Sind Sie das Kind?«
»Ja.«
»Wo kommen Sie her?«
»Aus Österreich. Aus Wien.«
»Wir könnten doch Raffaello fragen«, sagte die Frau zu dem Mann, und dann ging sie mit Gabriel einen Stock tiefer, klopfte an eine Tür.
»Aber ja«, antwortete Raffaello, den Blick auf die Fotografie, und vor Unruhe zitterten seine alten Hände, als er Gabriel bestätigte, dass sein Vater die Wohnung oben einmal gemietet und tatsächlich dort gewohnt hatte, aber nur für kurze Zeit. Vermutlich sei er in eine größere Stadt gezogen, eines Jobs wegen aus Ventimiglia fortgegangen, denn in Ventimiglia finde man keine Arbeit, zu klein sei die Stadt, zu hoch die Arbeitslosigkeit.
»Ich verstehe«, sagte Gabriel nur.
»Er hat kaum jemanden in der Stadt gekannt, es wird schwierig sein, ihn zu finden, ich habe keine Ahnung, wen du noch fragen könntest.«
So schnell Gabriel hinauskam, überquerte er auch die Straße, und als er ins Hotel zurückkehrte, war Anja immer noch im Badezimmer, sie stand vor dem Spiegel und bürstete ihr Haar, das nun gelöst war, feurig rot ihr Gesicht umsäumte. Sie überzeugte sich mit einem Blick davon, dass er allein war, dann erst trat sie heraus, und angespannt fragte sie, ob er seinen Vater gesprochen habe. Leider nicht, er lebe wohl nicht mehr in Ventimiglia.
»Dann habe ich doch recht gehabt.«
»Nein, er ist mit keiner Frau durchgebrannt. Er lebte allein.«
»Ein schrecklicher Mensch.«
»Wieso? Er wollte neu anfangen.«
»Mir reicht’s«, sagte sie und griff nach ihrem Rucksack, fing an, ihre Sachen zusammenzupacken, und er setzte sich an den Tisch, sah ihr schweigend zu. Nur eine Weile dauerte es, bis die Tür hinter ihr zufiel, sie fort war, und er stand auf, trat ans Fenster.
Als er nach draußen kam, blickte er zum Bahnhof, schlenderte gemächlich los, und schon in der nächsten Gasse, kurz vor der großen Brücke über die Roya, dachte er wieder an sie; wie sie bei ihrem gemeinsamen Spaziergang den Fluss betrachtet hatte, und wie das Finstere in ihrem Gesicht einem Lächeln gewichen war, als sie junge Enten bemerkt hatte, die, so herrlich verspielt, ihrer Mutter gefolgt waren.
Wieder blieb er auf der Brücke stehen, und leicht beugte er sich übers Geländer, um nach Fischen zu suchen, dann blickte er zur Flussmündung, wo das Süßwasser zum ersten Mal das Salzwasser berührte, sah, wie wunderbar hell es schimmerte, unaufhaltsam in das rauschende Meer strömte, für immer verschwand.
In dem Gastgarten am anderen Flussufer nahm er Platz, und als die Kellnerin kam, sah er in ihren Augen, dass sie sich an ihn noch erinnerte. Am nächsten Tisch saßen Männer, alle drei jung, außer ihm die einzigen Gäste im Gastgarten. Einer von ihnen schaute ihn plötzlich an und fragte, wo er herkomme.
»Aus Österreich. Aus Wien.«
»Ich dachte, du bist ein Deutscher oder ein Schweizer«, sagte der Mann überrascht, und die anderen drehten sich um. Auch sie hatten dunkle Augen, waren schmächtig, auch sie lächelten freundlich, ihre tiefschwarzen Haare glänzten im Sonnenlicht.
»Nein, ich bin Österreicher.«
»Ich bin Enrico, und das sind Michelangelo und Luciano.«
Er setzte sich auf und sah sich um, sein Blick wanderte über die Möbel, die an den Wänden standen. Die Tür öffnete sich, und Enrico kam herein.
»Ich habe die Wohnungsschlüssel schon geholt.«
»Es ist mir so peinlich.«
»Simonetta braucht die Wohnung nicht, und du wirst doch nicht fürs Hotel zahlen, komm, wir müssen uns beeilen, ich habe dann einen Termin«, sagte Enrico, und schon verließ er wieder das Zimmer. Draußen auf der Straße beschleunigte er noch seine Schritte, und sie schlugen die Richtung zur Altstadt ein. Eilig überquerten sie die zweite, kleinere Brücke über die Roya, gingen den Strand entlang, dann betraten sie ein altes Haus, und im ersten Stock öffnete sich ihren Augen eine kleine Wohnung. Renoviert und sauber, war der erste Eindruck, und bis auf eine Matratze, die zusammen mit einem Polster und einer Decke unter einem Fenster lag, standen die beiden Zimmer leer.
»Schade, dass du kein Handy hast«, sagte Enrico in der Küche.
»Ich muss es im Zug vergessen haben«, murmelte Gabriel und blickte auf die Küchenzeile. Enrico nahm aus einer Schublade einen Kugelschreiber und einen Zettel heraus, schrieb ihm seine Handynummer auf und verabschiedete sich mit den Worten, er werde übermorgen abends vorbeischauen. Danke, sagte Gabriel noch, ehe er die Wohnungstür schloss, dann machte er alle Fensterläden auf. In dem größeren Zimmer, das offenbar als Wohnzimmer diente und wo die Matratze lag, ließ er das Fenster offen stehen, und reglos sah er hinaus, starrte aufs Meer.
Eine fast unheimliche Stille umgab ihn, als er wenig später aus der Wohnung kam, das Treppenhaus betrat. Und in dieser Stille, beim Anblick verschlossener Türen, beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Nun stand er da, einsam und unsicher, wie manche der Flüchtlinge in Wien, deren Sprache er nicht verstand, die so fremd waren. Nun stand er selbst da, weit in der Fremde und auf sich allein gestellt, Menschen ausgesetzt, die ihn vielleicht nicht willkommen heißen werden.
Schon war er fest entschlossen, auf den Hügel über Ventimiglia zu steigen, doch vermochte er nicht mehr, die Altstadt zu betreten; zu düster muteten ihre uralten Gassen ihn an, zu fremd, noch fremder als die Neustadt war sie in seinen Augen. So nahm er die Straße, die an der Altstadt vorbeiführte, und still betrachtete er den Meeresglanz in der Tiefe, sah in die dunstige Ferne, ließ seinen Blick über das herrliche Panorama des Hinterlandes schweifen. So viele Farben stellte die Landschaft zur Schau, als er auf dem Hügel innehielt, so schön war sie und bezaubernd, wie das Sonnenlicht warm. Auch das Innere der Gärten sah er, an denen er vorbeigeschritten war, sah noch mehr Häuser, noch mehr Früchte, noch mehr Leben.
Er setzte sich zwischen zwei Bäume, in deren Schatten das Gras weich und sattgrün war, und der Gesang einer Frau, von zarten Tönen einer Gitarre begleitet, kam aus dem Glashaus des nächsten...
Erscheint lt. Verlag | 24.5.2017 |
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Verlagsort | Klagenfurt |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Emigration • Vater • Ventimiglia |
ISBN-10 | 3-99047-073-6 / 3990470736 |
ISBN-13 | 978-3-99047-073-2 / 9783990470732 |
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