Anschlag von rechts (eBook)

Nach einer wahren Begebenheit
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
192 Seiten
cbj Kinder- & Jugendbücher (Verlag)
978-3-641-20689-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Anschlag von rechts -  Reiner Engelmann
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Mitten unter uns: Rechtsextremismus heute
Irgendwo in einer Kleinstadt mitten in Deutschland treffen sich drei Freunde auf ein Feierabendbier. In den sozialen Netzwerken haben sie sich schon an ausländerfeindlichen Pöbeleien beteiligt. Nun werden sie zu Verbrechern, denn wenige Stunden später werfen sie einen Molotowcocktail in eine Flüchtlingsunterkunft. Die Bewohner, darunter auch Kinder, entkommen nur knapp.

Reiner Engelmann recherchiert die Hintergründe dieser schrecklichen Tat. Er analysiert die Beweggründe und er befragt die Opfer, die sich in Deutschland endlich sicher gefühlt hatten. Dabei wird deutlich: rechtes Gedankengut und Fremdenfeindlichkeit sind in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen und viel zu lange unbeachtet geblieben.

Reiner Engelmann wurde 1952 in Völkenroth geboren. Nach dem Studium der Sozialpädagogik war er im Schuldienst tätig, wo er sich besonders in den Bereichen der Leseförderung, der Gewaltprävention und der Kinder- und Menschenrechtsbildung starkmachte. Für Schulklassen und Erwachsene organisiert Reiner Engelmann regelmäßig Studienfahrten nach Auschwitz. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Anthologien und Bücher zu gesellschaftlichen Brennpunktthemen. Für sein engagiertes Wirken in der Gedenk- und Erinnerungsarbeit wurde Reiner Engelmann mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.

… Afghanistan

Nacht für Nacht wacht Frozan auf. Schweißgebadet sitzt sie in ihrem Bett. Es ist immer der gleiche Traum, der ihr den Schlaf raubt. Gut, dass ihre ältere Schwester Zarah noch mit im Zimmer ist. Zu ihr kriecht sie unter die Decke und findet etwas Ruhe. Was könnte sie tun, damit das aufhört? Diese Frage beschäftigt sie. Wie gerne möchte sie sich abends wieder ins Bett legen können und die ganze Nacht durchschlafen. Seit Monaten ist das schon nicht mehr möglich.

Anfangs fragte ihre Schwester noch, was sie geträumt habe.

»Von früher«, hatte sie nur knapp geantwortet, »von früher.«

»Aber wir sind jetzt in Deutschland«, versuchte ihre Schwester sie dann zu beruhigen, »hier sind wir in Sicherheit, hier passiert dir nichts!«

Frozan weiß das. Sie ist froh, in Deutschland zu sein. Wegen der Sicherheit. Aber ihre Heimat, ihre Heimatstadt Masar-e Sharif, in der sie geboren wurde, in der sie die ersten Jahre ihres Lebens verbracht hatte, sie vermisst sie. Trotz allem. Wenn sie darüber nachdenkt, kommt sie sich manchmal vor wie eine Blume, die man auf einer bunten Wiese gepflückt hat und in eine Vase stellt. Sie blüht noch einige Zeit, aber ohne Wurzeln würde sie schnell verwelken.

Nach irgendeiner dieser Nächte, in der ihr Albtraum sie wieder aus dem Schlaf gerissen hatte, konnte sie morgens nicht aufstehen. Sie war erschöpft. Ihre Gedanken waren nicht im Hier und Jetzt, sie lagen weit zurück. In der Zeit vor ihrer Flucht. Dieser Zeit hatte Frozan einen Namen gegeben. Es war die Angstzeit. Von früh bis spät hatte sie Angst gehabt. Wenn sie manchmal rausgehen wollte, um ihre Freundin zu treffen. Die gierigen Blicke der Männer konnte sie kaum ertragen. In solchen Augenblicken verstand sie ihre Mutter, dass sie nur mit einer Burka vor die Tür ging. Am liebsten hätte sie sich auch verschleiert. Diese Blicke – was sagten sie? Blicke alter Männer, mit langen Bärten, viele schon zahnlos. Du bist sicher schon elf Jahre alt und könntest heiraten!

Die Blicke der Männer waren die kleinere Angst. Die große Angst war die vor den Taliban. Sie konnten plötzlich auftauchen und Menschen ermorden. Einfach so. Sie hatte es schon gesehen.

Aber um die Freundin zu sehen, musste sie raus, musste einige Hundert Meter bis zu ihrem Haus die Straße entlanglaufen. Eine gefährliche Strecke! Und wenn die Freundin zu ihr kam, musste sie diese Strecke zurücklegen. Einmal kam sie nicht. Obwohl sie sich fest verabredet hatten. Auf ihre Freundin konnte man sich immer verlassen. Sie kam auch am nächsten und am übernächsten Tag nicht. Frozan hatte Angst um sie. Sollte sie zu ihrem Haus gehen und nach ihr sehen? Vielleicht war sie ja krank! Sie wagte es und machte sich auf den Weg. Die Mutter der Freundin öffnete ihr die Tür.

»Wo ist …?« Weiter kam Frozan nicht. Die Mutter nahm sie in die Arme, drückte sie fest an sich und schluchzte.

»Einer der Männer hat sie …«, sagte sie nach einiger Zeit. Weiter kam sie nicht, wieder fing sie an zu weinen.

»Aber … aber …«, stotterte Frozan, »aber sie ist doch noch ein Kind, genau wie ich!« Frozan war fassungslos.

»Ja, sie ist noch ein Kind«, sagte die Mutter, »und ich lasse sie jetzt nicht mehr vor die Tür. Das ist einfach zu gefährlich.«

Dies war eine von Frozans großen Ängsten. Konnte sie es riskieren, noch mal raus auf die Straße zu gehen, um ihre Freundin zu besuchen?

Die zweite Angst war die um ihre Mutter. Obwohl fast alle Frauen in Masar-e Sharif sich nur verschleiert vor die Tür wagten, kam es oft vor, dass sie vergewaltigt wurden. Oder, wenn sie nicht ordentlich verschleiert waren, mussten sie damit rechnen, dass ihre Gesichter mit einer ätzenden Flüssigkeit begossen wurden. Und ihre Mutter musste raus, fast jeden Tag. Sie musste arbeiten, Geld verdienen. Obwohl nach Ansicht der Taliban Frauen nicht arbeiten sollen. Als sie an einem Abend nach Hause kam, war sie verletzt. Sie hatte eine Stichwunde im Oberschenkel. Blut tropfte auf den Boden, markierte ihren Weg in den Waschraum. Die Mutter wollte nicht darüber reden, nicht erklären, was passiert war. Frozans Fantasie trieb wilde Blüten.

Die größte Angst war aber die um ihren Vater. Er betrieb eine kleine Autowerkstatt, in der er immer viel zu tun hatte. Über die Jahre hin hatte er sich einen festen Kundenstamm erarbeitet. Doch in den letzten Monaten kamen neue Kunden hinzu, Kunden, die darauf bestanden, bevorzugt bedient zu werden. Wenn er ihre Autos repariert hatte, fuhren sie einfach weg, ohne zu bezahlen. Wenn er von ihnen Geld forderte, wurde er bedroht. »Du wirst der Nächste sein!«, kündigten sie an.

An solchen Tagen fehlte ihnen das Geld, um etwas zu essen zu kaufen. Das war aber nicht das Schlimmste. Wie sollten sie mit der Bedrohung umgehen? Konnten sie das einfach so hinnehmen? Würden diese Männer ihren Ankündigungen Taten folgen lassen? Sie wussten keine Lösung, wenn sie abends im Zimmer zusammensaßen und darüber redeten.

Die Bedrohungen wurden schlimmer. An einem Abend kam Vater nach Hause, und auf den ersten Blick sah Frozan schon, dass etwas passiert war. Seine Augen waren zugeschwollen, seine Nase blutete.

Drei Tage konnte er nicht arbeiten, drei Tage waren sie ohne Geld, drei Tage ohne etwas zu essen.

Am Abend des vierten Tages, als er aus seiner Werkstatt nach Hause kam, wirkte er verändert. Irgendwie entschlossen. Gesagt hatte er nichts, zumindest nicht, als sie alle zusammensaßen. In der Nacht unterhielt er sich aber noch lange mit Mutter. Worüber sie redeten, konnte Frozan nicht verstehen, sie hörte nur ihre Stimmen.

In den folgenden Tagen und Wochen bemerkte sie Veränderungen zu Hause. Irgendwelches Geschirr, das sie immer zum Kochen oder Essen benutzt hatten, war auf einmal nicht mehr da. Dann fehlte ein Teppich, dann ein Tuch, dann eine Schlafmatte. Sie hatte keine Erklärung dafür. Hatten ihre Eltern diese Dinge weggeworfen? Wollten sie das Haus neu einrichten? Doch dafür gab es keine Anzeichen.

Als sie nur noch über das Notwendigste verfügten, wurden ihre Schwester und sie in die Pläne der Eltern eingeweiht.

Sie weiß nicht mehr, wie sie sich in diesem Augenblick fühlte. Einerseits war sie froh, endlich hier wegzukönnen, nicht mehr Tag für Tag ans Haus gebunden zu sein. Denn raus wagte sie sich nach dem Vorfall mit ihrer Freundin nur noch ganz selten. Andererseits dachte sie aber auch gerade an sie. Würden sie sich je wiedersehen? Und sie dachte an ihre Onkel und Tanten und an ihre Großeltern, die noch hier in der Stadt lebten. Auch von ihnen würden sie sich trennen müssen. Das alles ging ihr nicht aus dem Kopf. Ein Abschied für immer? Eine Trennung von allem, was ihr in ihrem bisherigen Leben wichtig war? Und wird das Neue, das auf sie zukommen würde, das Gewohnte ersetzen können? Nach Europa würden sie gehen, hatte ihr Vater ihnen gesagt. Europa. So weit weg, so fremd. Von Europa hatte Frozan schon gehört. Früher konnte sie noch zur Schule gehen, abends, heimlich, in eine Mädchenschule. Ihre Mutter hatte sie zweimal in der Woche dorthin gebracht. Für Mädchen gab es keine Schulpflicht, weil sie ja nur Mädchen waren und früh heiraten sollten. Welcher Mann brauchte schon eine gebildete Frau? Männer brauchten Frauen, die ihnen den Haushalt führten und Kinder gebaren.

In dieser Schule hatte ihnen die Lehrerin von Europa erzählt, über die Länder, die verschiedenen Sprachen und davon, dass die meisten Menschen dort reicher waren als hier in Afghanistan. Weil es dort eben Schulen gibt für alle Menschen, gerade auch für Mädchen.

Die letzten Tage zu Hause waren hektisch. Alles, was sie auf die Reise mitnehmen mussten, packten sie in Taschen. Viel durfte das nicht sein, denn sie mussten ja alles selbst tragen.

An einem Abend ging ihr Vater aus dem Haus. Das machte er sonst nie. Frozan sah, wie er einen Bündel Geldscheine einsteckte.

»Woher hat er das viele Geld?«, fragte sie ihre Mutter.

»Wir haben alles verkauft, was wir nicht mitnehmen können.«

»Und die paar Dinge, die wir jetzt weniger in unserem Haus haben, haben so viel Geld eingebracht?« Sie konnte es kaum glauben.

»Nein«, sagte ihre Mutter. Ihre Stimme klang gedämpft. »Für die Werkstatt und das Haus haben wir das meiste Geld bekommen.«

Frozan war schockiert! Sie hatten alles verkauft? Das bedeutete, dass sie nie mehr zurückkehren würden! Zumindest nicht in ihr vertrautes Zuhause! Konnte das sein? War das ein Abschied für immer?

Nach dem nächtlichen Ausflug kam ihr Vater zufrieden zurück. »Es hat alles geklappt«, sagte er freudestrahlend. Andere Pässe hatte er besorgt und auch die Fahrkarten für die erste Strecke gekauft. Außerdem hatte er die Flüge bezahlt und die Tickets dafür in der Tasche. Wo hatte er das alles her? Doch die Antwort interessierte Frozan in dem Augenblick nicht, dafür war alles viel zu aufregend. Das Wort »Fahrkarte« verband sie mit einer Busreise. Wann war sie zuletzt mit einem Bus gefahren? Sie hatte fast keine Erinnerung mehr daran. Doch mit der Vorstellung an eine Busfahrt sollte sie sich gewaltig irren.

Zwei Tage später machte sich die ganze Familie im Morgengrauen auf den Weg. Von ihren Verwandten hatten sie sich am Vortag verabschiedet. Es waren viele Tränen geflossen, sogar bei ihrem Vater und ihrem Opa, die sie noch nie hatte weinen sehen. Und Oma sagte zu ihr: »Ich werde euch nie wiedersehen, meine Kinder!« Ihr ganzer schwerer Körper wurde vom Weinen geschüttelt.

Mit ihren Taschen mussten sie nur ein kurzes Stück laufen. Aber es war schon warm an diesem Morgen, und Frozan bereute es, dass sie noch eine...

Erscheint lt. Verlag 22.5.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch Sachbücher
Schlagworte ab 12 • ab 13 • Anschlag • Antolin • Asyl • eBooks • Flüchtlinge • Gewalt • Heimat • Menschenwürde • Rechtsextremismus • Selbstwert • Sicherheit • Toleranz
ISBN-10 3-641-20689-8 / 3641206898
ISBN-13 978-3-641-20689-5 / 9783641206895
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