Stille Nacht (eBook)
160 Seiten
adeo (Verlag)
978-3-86334-752-9 (ISBN)
Titus Müller studierte in Berlin Literatur, Mittelalterliche Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift 'Federwelt'. Seine Ratgeber und historischen Romane begeistern viele Leser. Titus Müller ist Mitglied des PEN-Club und wurde u.a. mit dem 'C. S. Lewis-Preis' und dem 'Sir Walter Scott-Preis' ausgezeichnet.
Titus Müller studierte in Berlin Literatur, Mittelalterliche Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift "Federwelt". Seine Ratgeber und historischen Romane begeistern viele Leser. Titus Müller ist Mitglied des PEN-Club und wurde u.a. mit dem "C. S. Lewis-Preis" und dem "Sir Walter Scott-Preis" ausgezeichnet.
Der Innenraum der Keusche war sauber gefegt. Es gab keine Stühle, nur eine Sitzbank, die mit der hölzernen Hauswand verschraubt war, und davor einen wackeligen Tisch. Der Alte bat ihn, Platz zu nehmen. Er machte Feuer, stellte den Wasserkessel auf den Kochofen und holte aus einer kleinen Nebenkammer einen Schemel, um sich darauf zu setzen, Joseph gegenüber. „Sie sind also Priester.“
„Wie gesagt, ich hatte einen Förderer, sonst wäre das nie was geworden.“
Der Greis schwieg. Ihm schien die Stille nichts auszumachen. Sein Atem ging ruhig und die faltige Hand lag still auf dem Tisch. Er sah in die Ferne, als würde er nachdenken. Seine Augen schimmerten von Tränenflüssigkeit, wie es die Augen der Alten zu tun pflegen.
Joseph fragte: „Hat er hier gelebt? In diesem Haus, meine ich.“
„Franz? Nein. Damals wohnten wir in Stranach unten.“
„Geschwister hatte er nicht?“
„Keine Geschwister.“
Der Teekessel begann zu singen. Ein schwacher Ton, der sich in die Höhe schraubte und dabei lauter wurde, bis er zum dringlichen Pfeifen geworden war. Der Alte stand auf, ging zum Ofen und nahm den Kessel herunter. Er schippte mit einem Löffel Kräuter in ein eisernes Sieb. Das hängte er in einen Krug und überbrühte es mit dem kochenden Wasser.
„Wie war er?“, fragte Joseph.
Der Alte blies Luft durch die Lippen, als habe man ihm eine schwere Rechenaufgabe gestellt. „Groß. Schlank. Ein feiner Kerl.“ Er brachte Tassen.
„Haben Sie ihn oft gesehen? Hat er Sie besucht?“
Der Alte verschwand in der kleinen Kammer nebenan. Er kehrte mit einem Blatt Papier zurück und legte es vor Joseph auf den Tisch. Es zeigte eine Kinderzeichnung, ein Baum war zu erkennen und Wolken und Vögel. „Das hat er gemalt, als er zehn war, glaube ich.“
Seltsam, ein Relikt aus der Kindheit des Vaters zu sehen. Auch Franz Mohr war einmal jung und verletzlich gewesen. „War er gut in der Schule?“
„Es geht.“
Besonders gesprächig war der Alte nicht. Joseph sagte: „Wie kommt es, dass er Musketier geworden ist?“
„Das haben wir uns auch gefragt. Er hätte hier im Lungau bleiben können. Aber plötzlich hatte er diese Idee, nach Salzburg zu gehen.“
Wer weiß, was er sich von der großen Stadt erträumt hat, dachte Joseph. Immerhin hat er Arbeit gefunden. Und meine Mutter, eine Frau, die ihn geliebt hat. Wahrscheinlich hat sie ihn mehr geliebt, als ihm bewusst war. Nachdem er gegangen war, hat sie es mit keinem Mann mehr lange ausgehalten.
„Es wird dunkel“, sagte der Alte. „Trinken Sie Ihren Tee. Wenn Sie noch bei Tageslicht ins Tal kommen wollen, sollten Sie sich auf den Weg machen.“
Er blies Luft auf den heißen Kräutertee, um ihn abzukühlen. „Darf ich Sie wieder besuchen?“
„Wozu?“
„Ich würde gern mehr über meinen Vater erfahren.“
Der Alte musterte ihn. „Ich habe keine Zeit, herumzusitzen und zu plaudern.“
„Dann helfe ich Ihnen bei der Arbeit.“
Mit einem Kopfschütteln stand der Alte auf. „Wenn Sie es nicht lassen können.“
Wann immer er konnte, ging Joseph zur Keusche. Meist hackten sie gemeinsam Holz. Er trug es für den Alten hinunter nach Stranach oder nach Mariapfarr auf den Markt.
War sein Vater wie der Großvater gewesen, ein schweigsamer, fleißiger Anpacker?
„Kann schon sein“, sagte der Großvater zwischen zwei Beilhieben, eine Antwort, die alles und nichts bedeuten konnte.
Wenn Vater so gewesen war, dann hatte er sich deutlich von Mutter unterschieden. Sie redete gern und viel. Wie hatten die beiden sich verstanden? Oder war gerade daran die Beziehung zerbrochen, an ihrer Verschiedenartigkeit?
Mutter sagte immer, Franz sei einfach verschwunden, ohne Abschied. Sie habe bei der Kommandantur des Fürsterzbischofs nachgefragt und erfahren, dass er fahnenflüchtig sei. Er war untergetaucht. Dass sie schwanger war, wusste er. War er aus Angst vor der Schande gegangen? Oder hatte er schon länger vorgehabt, die Muskete an den Nagel zu hängen, und Mutters ungewollte Schwangerschaft hatte ihm den Anstoß gegeben?
Joseph hob ein Aststück auf den Hackklotz und holte aus. Er spaltete es mit einem Hieb entzwei, die Hälften fielen rechts und links vom Klotz hinunter. „Hatte mein Vater ein besonderes Interesse? Eine Sache, die ihm Freude gemacht hat neben den Wachdiensten beim Fürsterzbischof?“
Der Großvater lud die Holzscheite in die Kiepe. „Musik. Er hat Musik geliebt.“
Joseph erstarrte. Als habe er es gewusst, als habe er all die Jahre geahnt, dass die Musik ihn mit dem Vater verband.
„Das war der Moment, in dem ich angefangen habe, dir zu glauben“, sagte der Alte und las kleine Splitter vom Boden auf. „Als du von deinem Geigeüben erzählt hast. Dein Vater hatte zwar keine Geige, aber er besaß eine Gitarre. In jeder freien Minute spielte er darauf, schon als Junge von kaum zwölf Jahren. Furchtbar war es. Er konnte nie Ruhe geben.“
Stumm sank Joseph auf den Hackklotz nieder. Sie hätten zusammen musizieren können, der Vater und er. Hätte er ihn nur etwas früher gesucht, oder hätte Vater sich einmal bei Mutter nach ihm erkundigt! Dann hätten sie Lieder spielen können, er hätte auf der Geige die Melodie gespielt, und Vater hätte ihn begleitet.
In die Enttäuschung mischte sich eine bittere Süße. Der Vater hatte ihm doch etwas mitgegeben, ein Geschenk. Er hatte ihm seine Musikalität vererbt. „Was mochte er für Musik? Gab es Stücke oder Lieder, die er besonders gern gespielt hat?“
„Hab’s vergessen. Von Musik verstehe ich nichts.“
Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass der Großvater ihn gerade geduzt hatte, zum ersten Mal. Er fängt an, dachte er, in mir seinen Enkel zu sehen. Endlich kam er in seiner Familie an. Es war, als wäre er im Säuglingsalter auf einen fernen Kontinent gebracht worden und kehrte jetzt zurück in eine Heimat, die er nicht kannte, nach der er sich aber immer gesehnt hatte.
Als er an diesem Abend in den Pfarrhof zurückkehrte, ließ er das Abendessen ausfallen. Er holte seine Geige heraus und spielte den Anfang von Haydns Violinkonzert A-Dur, sehr langsam. Das hätte ich dir gern vorgespielt, Vater, dachte er.
Zehn Tage später besuchte er die Keusche erneut. Er fragte den Großvater, während sie den Zaun reparierten: „Habe ich Verwandte?“ Womöglich liefen da draußen eine ganze Reihe von Onkeln und Tanten und Vettern herum und wussten gar nicht, dass er existierte.
„Du hast welche“, sagte der Großvater, „aber ich habe keinen Kontakt mehr zu ihnen. Dein Vater mochte sie auch nicht. Geschwätzige Leute. Sie leben in der Nähe von Graz. Lohnt nicht, sie aufzusuchen.“
Bei Taufen und Beerdigungen hielt er sich zurück, aber die Hausbesuche nutzte Joseph, um weitere Erkundigungen über seine Familie einzuziehen. Kein noch so anstrengender Fußmarsch durch das weite Tal konnte ihn abhalten. War das harte Urteil über die Grazer Verwandten berechtigt? Und was erzählte man sich über den Großvater?
Man sagte ihm, sein Großvater sei arbeitsam und zuverlässig, habe es aber nie zu etwas gebracht. Und Franz sei wegen seiner Musik bei den Mädchen beliebt gewesen. Mehrere von ihnen hätten Tränen vergossen, als er nach Salzburg abgehauen war.
Die Älteren schimpften auf die bayrischen Soldaten. Bei ihrem Abzug hätten sie das kostbarste Buch der ganzen Gegend gestohlen, eine große, auf Pergament geschriebene Bibel aus dem 15. Jahrhundert.
Immer wieder wanderte Joseph zur Keusche. Der Großvater akzeptierte ihn – auf seine eigene, ruppige Art – als Teil der Familie, zur Begrüßung sagte er jetzt nicht mehr: „Du schon wieder?“ Stattdessen empfing er Joseph mit den Worten: „Du kannst die Axt holen. Wir haben einen Baum zu fällen.“ Oder: „Die Brombeeren sind reif, es wartet Arbeit auf uns.“
Abends aßen sie dann gemeinsam eine Suppe. Der Großvater löffelte schweigend, und er, Joseph, erzählte von seinem Leben in Salzburg, von Domvikar Hiernle oder vom Streit mit dem Stiftschor in St. Peter, dem er als Sängerknabe und Violinist für sechshundert Auftritte im Jahr zur Verfügung gestanden hatte, um sich Mittagstisch und Abendbrot zu verdienen, und dessen Leiter ihm übelgenommen hatte, dass er zusätzlich Zeit fand, im Studentenchor zu singen.
Großvater gab ab und an einen Knurrlaut von sich, der wohl aussagen sollte, dass er zugehört hatte. Nach dem Essen stopfte er sich eine Pfeife, das war das Zeichen, dass er wünschte, allein zu sein.
Ein einziges Mal wagte Joseph, ihn zu berühren. Er legte ihm zum Abschied die Hand auf die Schulter und sagte: „Danke, Großvater, dass du heute wieder Zeit für mich hattest.“
Der Großvater zog ein kariertes Taschentuch hervor und schnäuzte sich. „Ja, Junge“, murmelte er, „ist schon gut.“
Der Winter kam und mit ihm der Schnee. Er häufte sich in märchenhaften Formen auf. In Mariapfarr stäubte er von den Dächern und trieb in weißen Schwaden durch die Straßen. Wer konnte, verkroch sich in seine warme Stube, stopfte die Ritzen, um den kalten Wind draußen zu halten, und setzte sich auf die Ofenbank. Der Lungau wirkte einsam und doch friedlich.
Mitte Januar fand Joseph endlich wieder Zeit, zur Keusche hinaufzusteigen. Es schneite kräftig, der Weg kam ihm doppelt so weit vor wie sonst. Bis zu den Knien sank er ein, als er die letzten Schritte zur Keusche machte. Seltsam: Rings um das Haus lag der Schnee unberührt. Er reichte in sanften Hügeln bis an...
Erscheint lt. Verlag | 31.8.2015 |
---|---|
Verlagsort | Asslar |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | 1818 • erstaufführung • Geschenktipp • Heiligabend • Heilige Nacht • Komponist • Stille Nacht • Weihnachten |
ISBN-10 | 3-86334-752-8 / 3863347528 |
ISBN-13 | 978-3-86334-752-9 / 9783863347529 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 937 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich