Landläufiger Tod (eBook)
976 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490352-1 (ISBN)
Gerhard Roth, geboren 1942 in Graz und gestorben im Februar 2022, war einer der wichtigsten österreichischen Autoren. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus »Die Archive des Schweigens« und den nachfolgenden Zyklus »Orkus«. Zuletzt erschienen die drei Venedig-Romane »Die Irrfahrt des Michael Aldrian«, »Die Hölle ist leer - die Teufel sind alle hier« und »Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe«. Sein nun letzter Roman »Die Imker« ist im Mai 2022 erschienen. Literaturpreise (Auswahl): Preis der »SWF-Bestenliste« Alfred-Döblin-Preis Marie-Luise-Kaschnitz-Preis Preis des Österreichischen Buchhandels Bruno-Kreisky-Preis 2003 Großes Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien 2003 Jakob-Wassermann-Preis 2012 Jeanette-Schocken-Preis 2015 Jean-Paul-Preis 2015 Großer Österreichischer Staatspreis 2016 Hoffmann-von-Fallersleben-Preis 2016
Gerhard Roth, geboren 1942 in Graz und gestorben im Februar 2022, war einer der wichtigsten österreichischen Autoren. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus »Die Archive des Schweigens« und den nachfolgenden Zyklus »Orkus«. Zuletzt erschienen die drei Venedig-Romane »Die Irrfahrt des Michael Aldrian«, »Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier« und »Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe«. Sein nun letzter Roman »Die Imker« ist im Mai 2022 erschienen. Literaturpreise (Auswahl): Preis der »SWF-Bestenliste« Alfred-Döblin-Preis Marie-Luise-Kaschnitz-Preis Preis des Österreichischen Buchhandels Bruno-Kreisky-Preis 2003 Großes Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien 2003 Jakob-Wassermann-Preis 2012 Jeanette-Schocken-Preis 2015 Jean-Paul-Preis 2015 Großer Österreichischer Staatspreis 2016 Hoffmann-von-Fallersleben-Preis 2016
Dass das Romanmonumentalwerk ›Landläufiger Tod‹ nun in seiner vollständigen Fassungvorliegt, ist mehr als ein Geschenk an uns Leser. […]
Circus Saluti
1
Wenn der Zirkus kommt, fahre ich zur Abendvorstellung nach Wies. Natürlich versuche ich, in Begleitung meines Freundes zu sein, ohne den ein Gespräch nicht zustande käme, da ich stumm bin. Mein Freund ist so alt wie ich, studiert in Graz Jus und ist wegen der langen Semesterferien und der zahlreichen kirchlichen Feiertage häufig bei uns.
Wir trinken im kleinen und schäbigen Café an der Bundesstraße Bier, und mein Freund unterhält sich mit einem Zirkusarbeiter, der uns beim Abschied verspricht, vor dem Eingang auf uns zu warten.
Das Zelt ist hinter dem neuen Rüsthaus der Feuerwehr neben der Friedhofsmauer aufgestellt. Noch bevor ich es sehe, erblicke ich es in den Pfützen, denn ich bin mit gesenktem Kopf gegangen.
»Du kannst sicher sein«, sagt mein Freund, »wir werden uns amüsieren. Amüsiert uns nicht die Großartigkeit, dann amüsiert uns die Armseligkeit. So oder so ist es dasselbe.« Er erwartet nicht, dass ich ihm antworte. Nur wenn ich auf ihn zornig bin oder meine Meinung allzu sehr von seiner abweicht, stoße ich einen Laut aus oder schüttle heftig den Kopf und schreibe auf ein Stück Papier (das ich immer bei mir habe), was mich bewegt.
Die meisten Zuschauer kommen mit Traktoren, in deren Anhängern Frauen, Kinder, Verwandte und Nachbarn hocken, die kleinen Berge und Hügel herunter, fahren stumm durch die Ortschaft bis zum Zirkus und treten dort flüsternd oder raunend in das große Zelt oder gehen mit Verwunderungsrufen von einem zum anderen Käfig der Tierschau.
Wir müssen häufig an den Straßenrand treten, um den Fahrzeugen auszuweichen.
Entlang der Straße, die schwarz und von Reifenspuren durchfurcht ist, wuchert Unkraut. Über die Gräber im Friedhof schauen wir auf den gelben Kirchturm mit der runden Uhr und dem zwiebelförmigen Dach.
Nach der Vorstellung erzählt uns der Zirkusdirektor, dass er durch Begräbnisse, die gleichzeitig mit der Nachmittagsvorstellung stattfänden, des Öfteren gestört würde. Er ist ein kleiner, untersetzter Mann mit einer gebrochenen Nase, einem dunklen Schnurrbart, langen, nach hinten gekämmten Haaren und einem breiten Gesicht. Besonders das Glockenläuten vom Kirchturm und die Trauermärsche der Musikkapellen seien ärgerlich, manchmal aber auch die Grabrede eines Vereinsobmannes oder Pfarrers und das laute Gebet der Trauergäste. Er wiederum könne sich denken, fährt er fort, dass seine über Lautsprecher verstärkte, von Schallplatten kommende Zirkusmusik oder seine eigenen Ansagen über das Mikrophon und das darauf folgende Gelächter, aber auch der Applaus des Publikums bei einem Begräbnis beanstandet würden. Solche Zusammentreffen ließen sich jedoch nicht vermeiden. Er könne wegen eines Begräbnisses nicht die Nachmittagsvorstellung absagen, und die Angehörigen des Toten könnten wegen des Zirkus nicht die Beerdigung verschieben. Er sei ohnedies geschickt und nehme auf alle Zwischenfälle, soweit es ihm möglich sei, Rücksicht.
(Da ich dem Ablauf der Ereignisse vorgegriffen habe, möchte ich gleich auf die Eigenart, mit der der Zirkusdirektor seine Gedanken vorbrachte, eingehen.)
Der Schankraum im Wirtshaus ist dunkel, und wir sind mit den Tierwärtern die letzten Gäste. Stets blickt der Zirkusdirektor zuerst meinen Freund und dann mich an und richtet nach unserem Gesichtsausdruck seine Erzählweise ein; er wird eindringlicher, wenn unser Interesse nachlässt, gelingt es ihm trotzdem nicht, uns zu fesseln, wechselt er das Thema. Andererseits wiederholt er Sätze oder lässt sich mit dem Fortführen der Geschichte Zeit, sobald er bemerkt, dass wir ihm aufmerksam folgen; er lehnt sich zurück, stellt eine Frage und wischt sich mit dem Handrücken über den Schnurrbart. Nie verliert er die Beherrschung, weder wird er von Erinnerungen gerührt, noch überkommen ihn Nachdenklichkeit oder Freude. Er lacht nur aus Lust, uns mit seinen Geschichten im Ungewissen zu lassen, während er das Ende längst kennt. Zumeist beginnt er mit einer Frage:
»Der Bauer, auf dessen Wiese ich mein Zelt aufstellen wollte«, fragt er, »ist vor meinem Eintreffen plötzlich gestorben. Was habe ich gemacht?«
Oder: »Meine Pythonschlange ist, weil die elektrische Wärmelampe ausfiel, verendet – raten Sie, was ich getan habe.«
Oder: »Die Gendarmen haben mir das Aufstellen von Zirkusplakaten ohne behördliche Genehmigung verboten, was war zu tun?«
Eine andere Frage: »Zwei Zirkusarbeiter sind plötzlich verschwunden, wie sollte ich rechtzeitig das Zelt aufstellen?«
Und: »Jemand aus dem Publikum will meine Zauberkunststücke stören, da er meine Tricks durchschaut hat, und meldet sich als Versuchsperson. Was hätten Sie an meiner Stelle gemacht?«
Schließlich: »Die Fliege, wie in der Sprache der Schausteller ein Zuschauer genannt wird, der einem Artisten nach vorheriger Abmachung bei einem Kunststück behilflich ist, meldet sich bei der betreffenden Nummer nicht – und jetzt?«
Für die Antworten meines Freundes (mir wäre ohnedies nichts eingefallen), die der Zirkusdirektor jedes Mal abwartet, indem er seitlich zu Boden blickt, hat er nur ein kurzes Kopfschütteln übrig, dann erklärt er rasch, was er unternommen hat, um meinem Freund nicht die Möglichkeit einer zweiten Antwort zu geben (denn er würde es nicht ertragen, wenn jemand anderer auf dieselben Gedanken käme wie er). Übrigens machte er jedes Mal das Einfachste und Naheliegendste, während mein Freund stets an das Entfernteste und Komplizierteste dachte.
Der Frau des verstorbenen Bauern, auf dessen Anwesen er sein Zelt aufstellen wollte, habe er mit einem Kranz einen Besuch abgestattet, worauf sie ihm die Wiese für die gewünschte Zeit »um ein Spottgeld« vermietet habe.
Die erfrorene Pythonschlange wiederum habe er im Gebüsch hinter dem Zirkuszelt versteckt und in der nächsten Vorstellung bekanntgegeben, dass sie entflohen sei. Auch habe er die Zuschauer gebeten, ihm bei der Suche behilflich zu sein, was diese mit großem Eifer getan hätten. Nachdem das Reptil gefunden worden sei, habe er erklärt, es sei erfroren, weil es aus dem geheizten Käfig entwichen sei. Das habe ihm – wie er es nannte – »Propaganda« eingebracht. Auf die Frage eines »Provinzjournalisten« – hier gebe es eine Reihe merkwürdiger, aber von den Bewohnern häufig gelesener Zeitungen wie die »Weststeirische Rundschau«, das »Neue Land«, die »Sonntagspost«, den »Fortschrittlichen Landwirt«, die »Landwirtschaftlichen Mitteilungen« sowie Fachzeitschriften für Jäger, Fischer und Bienenzüchter (die auch mein Vater bezieht) und natürlich verschiedene Pfarrblätter, Kirchenzeitungen und Gemeindenachrichten, über die er nicht lächle, sondern die er zu benutzen trachte (die meisten, so behauptet er, ohne dabei ein Triumphgefühl verbergen zu können, seien stolz darauf, dass er sie verständige oder ihnen Eintrittskarten mit der Bitte um eine Ankündigung schicke) – auf die Frage eines »Provinzjournalisten« also, welchen Wert die Schlange gehabt habe (»Was glauben Sie, habe ich zur Antwort gegeben, als er mich gefragt hat, welchen Wert eine Pythonschlange besitzt?«) –, habe er erwidert: Für ihn sei das Tier mehr wert als ein »Mercedes«, dadurch hätte er die Phantasie des späteren Lesers angeregt, sich vorzustellen, welchen tatsächlichen Wert eine Pythonschlange habe. Es sei allgemein bekannt, was ein »Mercedes« koste, also könne man sich leicht ausrechnen, welcher Preis für das Reptil bezahlt werden müsse. (Natürlich koste es nicht so viel wie ein »Mercedes«, er habe jedoch ohnedies nur behauptet, dass es für ihn denselben Wert darstellte.)
Den Gendarmen wiederum, die ihm das Plakatieren verbieten wollten, habe er eine größere Anzahl von Eintrittskarten geschenkt, worauf die Tafeln hätten stehenbleiben dürfen. Und was die verschwundenen Zirkusarbeiter betreffe, so nehme er auf der Fahrt zum nächsten Ort, in dem Vorstellungen geplant seien, stets Anhalter mit. Den Anhaltern gebe er Geld mit der Aufforderung, zum Friseur zu gehen, denn zumeist seien Autostopper, die von einem Zirkus mitgenommen werden wollten, verkommen und ungepflegt. Er kümmere sich jedoch nicht darum, ob die Betreffenden wirklich einen Friseur aufsuchten. Dieses Verhalten leuchte ihnen gleichzeitig ein und verblüffe sie. Sie glaubten, Dankbarkeit zeigen zu müssen, und böten – als Nächstliegendes – an, ihm beim Aufstellen des Zeltes behilflich zu sein. So komme ihn, den Zirkusdirektor, die Arbeit billiger, als wenn er Hilfskräfte bezahlen müsse. Auch fragte er absichtlich nie nach der Vergangenheit der Gelegenheitsarbeiter, denn Herumstreunende, die zum Zirkus wollten, seien zumeist Irre oder Vorbestrafte.
Den Zuschauer schließlich, der »auf meine Kosten«, wie er sich ausdrückte, beabsichtigte, seine Zauberkunststücke zu stören, und dem seine Tricks und versteckten Handgriffe durch mehrmaligen Besuch der Vorstellungen bekannt seien, beschimpfe er mit zwar flüsternder, aber scharfer Stimme; er scheue auch nicht davor zurück, ihm ins Ohr zu spucken, und gebe ihm sodann Befehle. Eine »Versuchsperson« sei – um ein Beispiel anzuführen – zu seiner Taschendiebnummer mit leeren Hosensäcken und ohne Uhr in die Manege gekommen, so dass es nichts zu stehlen gegeben hätte. Dies habe er sofort erkannt, sie auf einem Stuhl Platz nehmen lassen und beschimpft. Im Scheinwerferlicht, wenn plötzlich das Publikum um sie sitze, gehorchten die Menschen aufgrund der neuen Situation automatisch. Auch die Übelsten hätten schließlich widerspruchslos seine Anweisungen befolgt. Da es nichts zu entwenden gegeben habe, habe er...
Erscheint lt. Verlag | 24.5.2017 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anspruchsvolle Literatur • Dorf • Elend • Gemeinschaft • Hellsichtigkeit • Märchen • Österreich • Schizophrenie • Stummheit • Traum • Verrückheit |
ISBN-10 | 3-10-490352-2 / 3104903522 |
ISBN-13 | 978-3-10-490352-1 / 9783104903521 |
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