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Der Insulaner (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
960 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-21964-2 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
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'Der Insulaner' ist das eindrückliche Porträt eines bewegten Lebens, einer fast schon versunkenen Zeit, einer ganzen Welt. Und nicht zuletzt: eine einzigartige Liebeserklärung an die Kunst und an das Meer.

Als der Schriftsteller B. sich wegen eines Tumors am Gehirn operieren lassen muss, fürchtet er seine Erinnerung für immer zu verlieren. Doch dann wird die Operation für ihn zu einem langen Gang durch die verschlungenen Pfade seines Lebens: Von den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs über die Wirtschaftswunderjahre und die rebellischen 60er Jahre bis in die Gegenwart.

In seinem Narkosetraum erzählt er einem Analytiker die Geschichte seines Lebens. Er erzählt von der sensiblen Mutter, die ihre künstlerischen Ambitionen nie wirklich ausleben durfte, und von dem bewunderten, meist unnahbaren Vater, der einst als Offizier auf dem Luftschiff 'Hindenburg' die Katastrophe von Lakehurst. Und er erzählt von der Insel im Meer, auf der er aufwuchs und wo er sich doch stets als Außenseiter empfand... Bis er schließlich wieder aus der Narkose erwacht, ist sein ganzes Leben an ihm vorbeigezogen - und mehr als ein halbes Jahrhundert zugleich.



Henning Boëtius (1939-2022), wuchs auf Föhr und in Rendsburg auf und lebte zuletzt in Berlin. Er studierte Germanistik und Philosophie und promovierte 1967 mit einer Arbeit über Hans Henny Jahnn. Boëtius war Verfasser eines vielschichtigen Werkes, das Romane, Essays, Lyrik und Sachbücher umfasst. Sein Roman 'Phönix aus Asche' wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Bekannt wurde er außerdem durch seine Kriminalromane um den eigenwilligen niederländischen Kommissar Piet Hieronymus.

1

Das große Gebäude des Instituts war in einem guten Zustand. Schlicht und funktional, ein kühl wirkender Bau aus Glas und Beton. B. betrat die Drehtür, die sich automatisch in Gang setzte und ihn in einen langen Flur hineinschob. Wieder ging er kahle Wände entlang, wie schon so oft in seinem Leben. Und wie immer empfand er dies als unangenehm, als eine Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit: Irgendwo hinzumüssen, ohne Möglichkeit, zu einer Seite entkommen zu können. Er glaubte plötzlich Schritte zu hören, die ihm in einem gewissen Abstand folgten, als würde ihn jemand beschatten. Aber als er sich umdrehte, war niemand zu sehen. Dann stand er vor einer angelehnten Tür, an der ein Zettel mit seinem Namen hing.

Als B. eintrat, fiel sein Blick zuerst auf den Rücken eines Mannes am Fenster. Die Person musste ihn gehört haben, aber sie drehte sich nicht um. Ihr Schweigen füllte den ganzen Raum. Doch da war auch ein leises Geräusch. Ein fernes, leicht an- und abschwellendes Rauschen. War es der Verkehr? Kam es von der Zentralheizung? War es der Fluss, der ganz in der Nähe ins Meer mündete, oder war es das Meer selbst, das dort draußen Treibgut ans Ufer spülte, Botschaften, die nie jemand würde entziffern können?

Dann hörte er eine Stimme. Sie klang fremd und kühl und drang wie aus weiter Ferne an sein Ohr.

»Legen Sie doch bitte den Mantel ab und setzen Sie sich. Machen Sie es sich bequem. Gefällt es Ihnen bei uns? Es ist vielleicht ein wenig kalt, aber es ist noch zu früh, die Heizung anzustellen. Ich habe Sie erwartet. Aber ich habe auch meine Zweifel gehabt, ob Sie wirklich kommen würden. Erinnern kann wie eine unbarmherzige Sonne sein, die schonungslos ihr Licht auf die Vergangenheit wirft. Dabei kommt oft auch Unschönes zu Tage. Wenn ihre Strahlen auf eine glatte Fläche treffen, werden sie nur Langweiliges zu Tage fördern. Ist die Vergangenheit jedoch rau bewegt wie das Meer, kommt vielleicht ein Kunstwerk zum Vorschein. Wir werden herausfinden, wie es in Ihrem Fall ist. Fangen Sie an. Ich werde zuhören. Hin und wieder, vermutlich sehr selten, werde ich eine Frage stellen, die Sie übrigens nicht zu beantworten brauchen. Es genügt, wenn Sie sie in Ihrem Gedächtnis bewahren.«

B. nahm in dem schweren Ledersessel gegenüber dem Schreibtisch Platz und versuchte sich zu entspannen. Von hier aus konnte man von der Außenwelt nur ein Stück des Himmels hinter den beiden hohen Fenstern sehen. Der Sturm hatte sich inzwischen gelegt, aber die Wellen mussten sich immer noch an der Mole brechen. Die Wolkendecke war aufgerissen. Lücken zeigten sich am Himmel wie blaue Pfützen, deren Tiefe unendlich war. »Rückseitenwetter«, flüsterte B. Ein Fachbegriff aus der Meteorologie, der das wechselhafte Wetter mit Schauern, Sonne und Böen nach dem Durchzug einer Kaltfront bezeichnete. Es war eines seiner Lieblingswörter. Er hatte es zum ersten Mal von seinem Vater gehört.

B. dachte an die schattenhaften Gestalten, die er auf seinem Weg hierher gesehen hatte. Manche von ihnen hatten am Geländer der Flusspromenade gestanden und in die Strömung gestarrt. Sein Herz schlug kräftig. Vielleicht war er zu schnell gegangen.

Der Mann am Fenster ließ sich noch einmal vernehmen. Er sprach gegen die Fensterscheibe, die dabei beschlug. »Wollen Sie eine bestimmte Reihenfolge einhalten?«

»Ja, wenigstens soweit es mir möglich ist. Ich werde versuchen, mich an die Chronologie zu halten, obwohl ich manchmal den Eindruck habe, dass Zeit zu den eher vagen Kategorien meines Lebens zählte. Erinnerungen stehen offenbar keineswegs ordentlich Schlange vor dem Schalter unseres Gedächtnisses. Meistens irren sie ziellos herum wie über einen großen, leeren Platz. Man muss Glück haben, um einer von ihnen zu begegnen. Aber es gibt noch einen anderen, vielleicht besseren Weg zurück in die Vergangenheit. Ich habe während meines Lebens an vielen verschiedenen und sehr unterschiedlichen Orten gewohnt, die mich geprägt haben. Daraus könnte sich eine Art Landkarte meines Lebens ergeben, so etwas wie seine Topographie. Sie würde ich als zweite Koordinate neben dem bloßen Nacheinander der Jahre hinzuziehen. Ich war nie ein Zeitmensch, ein Denk- oder Gefühlsmensch oder gar ein Menschenmensch. Ich war eher so etwas wie ein Ortsmensch.«

»Wie meinen Sie das?«

Der Mann am Fenster drehte sich um und sah ihn vermutlich an. Aber im Gegenlicht war sein Gesicht nicht zu erkennen, sonst hätte er in ihm vielleicht lesen können. Doch wahrscheinlich hätte das alles verdorben. Er war nicht hier, um sich auszusprechen, um Verständnis zu finden bei einem Freund, sondern um selbst etwas zu verstehen, etwas, was ihm bislang ein Rätsel geblieben war: die Summe seines Lebens. Teilbar nur durch sich selbst, wie er hoffte. Eine Primzahl also. Die Quintessenz. Das waren große Worte, aber B. hielt sich an ihnen fest wie ein Ertrinkender an einer Planke.

»Es gab immer Orte, an denen ich mich unwohl gefühlt habe, manchmal sogar alt, krank und gehetzt. Flure zum Beispiel oder Treppenhäuser, Parkplätze, Büroräume, Wartezimmer, selbst manche Wohn- und Schlafzimmer gehören dazu. Aber es gab auch Orte, an denen ich mich jünger fühlte, als ich in Wirklichkeit war. Zugabteile zum Beispiel, wenn sie sich durch die Landschaft bewegten. Und es gab sogar Orte, an denen ich mir einbildete, ganz ohne Alter zu sein. Am Meer oder an einsam gelegenen Seen konnte ich das Zeitgefühl fast völlig verlieren. Ortsmenschen wie ich reagieren meistens nur schwach auf ihre Mitmenschen. Alles, was sie interessiert, ist jenes Theaterstück, das sie ihr Leben nennen, das Stück, in dem Kulissen die Hauptrolle spielen, während die Menschen nur Statisten sind.«

B. hielt inne, denn er hatte das Gefühl, etwas zu zerreden, das sich hinter dem wehenden Vorhang seiner Gedanken verbarg. Der Mann am Fenster reagierte nicht. Sein Schweigen wirkte auffordernd wie das eines Priesters im Beichtstuhl. B. räusperte sich und fuhr fort:

»Es gibt Menschen, die sich am wohlsten in Wohnzimmern fühlen. Zu ihnen gehöre ich nicht. Andere mögen besonders Dachstuben, wegen des weiten Ausblicks. Es gibt auch Menschen, die ein Souterrain oder das Dämmerlicht eines Halbkellers bevorzugen. Wieder andere finden ihr Schlafzimmer am schönsten und richten es wohnlich ein. Es gibt Küchenmenschen oder Personen, denen ihr Arbeitszimmer über alles geht. Manche sind am liebsten in einer Werkstatt, wieder andere lieben die Kargheit einer Mönchszelle über alles oder den Trubel eines vollen Restaurants. Mein Lieblingsraum in einem Haus war immer schon der Wintergarten, die Veranda, diese Zwischenwelt zwischen Drinnen und Draußen. Man ist der Natur nahe und hat dennoch die Verbindung zum Inneren des Hauses nicht verloren. Ein Raum zwischen Winter und Sommer. Im Winter meistens zu kalt, im Sommer oft zu heiß, hat er seine beste Zeit im Frühjahr und im Herbst. Er hat gewöhnlich große Fenster. Auf den Fensterbrettern liegen tote Fliegen. Es gibt dort mehr schöne, sinnlose Dinge als sonst im Haus. Eine undichte Vase mit Strohblumen oder einen staubigen Gummibaum, eine verbeulte türkische Mokkakanne aus Kupfer, ein Glas mit unpolierten Bernsteinen, ein Flaschenschiff, von Seepocken bedeckte Muschelschalen, einen versteinerten Seeigel, das vergilbte Foto im Standrahmen, das einen im Krieg gefallenen Onkel zeigt. Fensterbretter von Veranden sind wie Tangstreifen des Lebens, an denen manches Strandgut angetrieben ist. Es gibt wichtige Veranden in meinem Leben. In ihnen konnte ich immer schon besser nachdenken als anderswo.«

Der Vorhang am Fenster bauschte sich in diesem Moment wie von einem Luftzug. B. merkte, dass er zu viel und zu schnell redete. Im milchigen Licht, das von draußen hereinfiel, glaubte er jetzt die Gesichtszüge des Anderen zu erkennen. Sie wirkten starr wie die einer Larve. B. lehnte sich im Sessel zurück und versuchte, sich zu entspannen. Dabei erblickte er sich wie zufällig im Spiegel. Es irritierte ihn, dass er lächelte. Ein dummes Lächeln, wie es jemand aufsetzt, der keinen Grund dazu hat. Schnell sah er wieder zum Fenster. Ein Vogel flog draußen vorbei. Eine Krähe wahrscheinlich oder doch eine Amsel? »Die schwarze Lina«, flüsterte er. Dann begann er zu erzählen, langsam und stockend zuerst, schließlich immer fließender, als sei er in eine Strömung geraten, die ihn unwiderstehlich mit sich fort zog. Manchmal hatte er dabei das Gefühl, dass sich seine Erinnerungen zu einer eigenen Wirklichkeit verdichteten, die nicht mehr mit der Vergangenheit zu tun hatte als ein Schatten mit der Sonne.

*

Mein erster Lebensort war der Kopf meiner Mutter. Ich existierte dort bereits vor meiner Geburt, ja sogar schon vor meiner Zeugung. Es war ein seltsamer Ort. Seine Einrichtung verriet einen ungewöhnlichen Geschmack. Eine wilde Mischung aus Wünschen, Bedürfnissen, Träumen, Vorurteilen, Ängsten, Lektüre, wobei vor allem die Gedichte Rilkes eine wichtige Rolle spielten. Außerdem waren da einige kreative Fähigkeiten wie eine große zeichnerische Begabung und ein beachtliches Talent, anschaulich zu formulieren, und nicht zuletzt eine fast zwanghafte Neigung zum Inszenieren. Das mag nichts Ungewöhnliches sein, doch bei dieser jungen Frau kam eine enorme Energie hinzu, mit der sie die oftmals gegensätzlichen Stilelemente dieses Interieurs zu einer Einheit zu verbinden suchte. Es waren starke disparate Kräfte, die in ihr wirkten, die sich manchmal gegenseitig blockierten oder verstärkten und die ihre Person zu zerbrechen drohten. Äußerlich sah man ihr die komplizierten Verhältnisse ihres Innenlebens nicht an. Sie war vielleicht ein wenig manisch depressiv oder hysterisch, doch verstand sie es blendend, den Eindruck einer hochbegabten, eleganten,...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Adorno • Autobiografie • Brentano • Clemens Brentano • Dichtung • eBooks • Föhr • Frankfurt • Hans Henny Jahnn • Insel • Jugend • Lakehurst • Marie Luise Kaschnitz • Meer • Nachkriegszeit • Naturwissenschaft • Nordfriesland • Nordsee • Roman • Romane • Sechziger Jahre • Seefahrt • Siegfried Kracauer • Theodor W. Adorno • wahre Begebenheiten • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-641-21964-7 / 3641219647
ISBN-13 978-3-641-21964-2 / 9783641219642
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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